Kapitel 2

"Was hast du eigentlich damit gemeint, dass ich selbst herausfinden muss, ob ich dich von irgendwo her kenne?", frage ich ihn, nachdem für einen kurzen Moment Schweigen geherrscht hat.

"Ich gebe dir einen Tipp;", seine grünen Augen beobachten mich aufmerksam und in ihnen liegt... Interesse? , "du wirst dich vermutlich nicht wirklich daran erinnern können, aber ich habe d..."

Weiter kommt er nicht, denn ich werde schon wieder von meinem Geist übermannt.

Flashback

Als das Messer ihre Kehle durchschnitt, schrie ich laut auf und schaute in ihre Augen, die immer mehr den Ausdruck von Leblosigkeit annahmen.
Die Männer horchten auf und erblickten mich.
Mein Körper blieb in seiner Kauerhaltung, ich konnte mich nicht bewegen, nur die Hand vor den Mund halten und das Salz der bitteren Tränen schmecken, die pausenlos meine Wangen hinabflossen.

"Der Boss wird uns bestimmt eine großzügige Belohnung geben, wenn wir ihm erzählen, dass wir noch jemanden erwischt haben.", sagte der eine, während er sich über die Lippen leckte und langsam auf mich zukam.

Ich konnte mich immer noch nicht bewegen und meine Panik wuchs mit jedem Schritt, den die Männer auf mich zumachten, während ihre Leiche hinter ihnen auf dem Boden lag.
Könnte ich ihr wenigstens die Augenlider nach unten klappen.
Sie hat es nicht verdient, zu sterben und so schon gar nicht.
Wieso haben sie nicht mich entdeckt?

Während ich mich meinen Schuldgefühle hingab, merkte ich nur am Rande, wie mich jemand über seine Schulter warf und mit mir wegrannte.
Wegrannte von den Männern, die sie kaltblütig und reuelos ermordet haben.
Sie, die ich über alles liebte und ohne die ich mir kein Leben vorstellen konnte.
Langsam wurden die Männer kleiner, je größer die Entfernung wurde und somit auch ihr lebloser Körper.
Der leblose Körper meiner geliebten Schwester.

Das war alles, was ich sah, ehe ich in einer endlos wirkenden Dunkelheit versank, aus der ich erst Tage später und ohne viele Erinnerungen erwachte.

Flashback Ende

Die Erinnerung trifft mich wie ein Schlag.

Jemand rüttelt mich hektisch am Arm und redet schnell und gehetzt auf mich ein.

"Was war das gerade eben?", fragt mich Reece schockiert.

"Eine Erinnerung."

Er runzelt die Stirn und sagt schließlich : "Vielleicht sind diese Erinnerungen der Schlüssel, um herauszufinden, woher du mich kennst."

Ich nicke bloß abwesend und schaue hinaus auf den Horizont.
Irgendwo da draußen ist sie und wartet auf mich, auf den Tag, an dem ich zu ihr kommen würde, da bin ich mir sicher.

Mein Gehirn fügt die einzelnen Puzzleteile immer besser aneinander.

"Ja, vielleicht..", gebe ich gepresst hervor.

"Du redest nicht gerne, oder?"

Ich schüttele den Kopf und fange an, nervös Gras auszurupfen.

"Ich weiß, dass du nicht darüber reden willst, was geschehen ist, aber falls du doch mal jemanden zum Reden brauchst, bin ich für dich da.", verspricht er mir.

"Ich brauche niemanden zum Reden", erwidere ich pikiert.

"Ich sag ja nur.", antwortet er daraufhin und legt den Kopf in den Nacken.

"Wieso interessierst du dich überhaupt für mich? Niemand interessiert sich für mich."

"Bin ich etwa ein Niemand?", weicht er der Frage gekonnt aus.

Als Antwort schweige ich nur und betrachte nun auch den Himmel und die vorbeiziehenden Wolken, die immer neue Formen annehmen.
Es tut gut, mit jemandem zusammen zu sein, der nicht dringend mit dir über deine Probleme reden will, sondern einfach nur neben dir sitzt und das Gefühl von Verständnis gibt, nicht von Mitleid, denn das habe ich seit dem Ereignis am 13. August. 1998 schon genug bekommen.
Der Tag, an dem ich um mich eine scheinbar grenzenlose Barriere aufrichtete.

"Ich weiß, dass du irgendwann auf die Lösung des Rätsels kommen wirst.
Bis dahin musst du wohl wieder Porridge ohne Marmelade essen, denn das gibt es nur zu besonderen Anlässen.", gibt er mir zu verstehen, während er sich erhebt und mir langsam den Rücken zukehrt.
Ich werde aus ihm nicht schlau. Wieso möchte er etwas mit mir zutun haben? Und wieso gerade jetzt? Und was hat er mit meiner Vergangenheit zutun?

"Warte!", rufe ich ihm zu, "in welchem Jahr sind wir uns begegnet?"

Er überlegt kurz, bis er schließlich knapp '1998' antwortet.

Er will gerade gehen, als er sich noch einmal umdreht und abschließend sagt: "Ich kenne dich zwar nicht richtig, aber ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert."

Fragend blicke ich ihn an und will ihn schon nach der Bedeutung dieser Worte fragen, doch er dreht sich schnell wieder um und verschwindet in dem großen, grauen Gebäude.

Spät am Abend liege ich wieder im Bett, während durch mein Fenster der Mond genau auf mein Bett scheint.
Ich ziehe das Foto aus meinem Ausschnitt hervor und halte es ins Licht.
Das Bild zeigt meine Schwester und mich mit Springseilen, die wir so halten, dass wir zusammen springen und schlagen.
Man sieht es ihr kaum an, dass sie zwei Jahre älter ist als ich, außer vielleicht an der Größe.
Das Bild entstand am 9. November  1994.
Sie war 13 und ich 12 Jahre alt.
Ich bemerke kaum, dass mir bereits Tränen über die Wangen laufen und nur eine kurze Zeit später fange ich bereits an, leise zu schluchzen.

"Du fehlst mir.", bringe ich hervor und schaue in das grinsende Gesicht meiner Schwester, das eine kleine Stupsnase ziert und mit Sommersprossen gesprenkelt ist.

"Jeden Tag, jede Nacht, wenn ich mal wieder nicht schlafen kann."
Ich schließe mit tiefen Schmerzen in der Brust die Augen und drücke das Foto gegen die Stelle, an der mein Herz liegt.
Alles was zu hören ist, ist mein Schluchzen, das mit der Zeit verebbt und schließlich mit einem letzten Schniefer erstickt wird.
Ich drehe mich auf die Seite, schaue auf den Wecker und sehe, dass es bereits beinahe vier Uhr nachts ist, und ich somit bald einschlafen werde.
Da morgen Wochende ist, darf ich so lange schlafen, wie ich will.
Ich drehe mich wieder auf den Rücken und starre an die Decke.
Vielleicht kommt mit der Jahrtausendwende auch eine in meinem Leben.
Vielleicht kann ich das Geschehene endlich etwas verdrängen und mich auf mein Leben konzentrieren, das hätte Emma sicher gewollt.
Emma. Welch wunderschöner Name für eine so wundervolle Person in meinem Leben.
Manchmal wünsche ich, ich wäre an ihrer Stelle gestorben.

Seufzend schließe ich abermals meine Augen und schaffe es nun tatsächlich nicht mehr, den Fängen des Morpheus zu entgleiten.

Traum

Ich kann nur vage das Gesicht meines Retters erkennen.
Ich sehe nur, dass er dunkle Haare und Augen, die das armselige Flackern der Straßelaternen reflektieren, hat.
Ich weiß nicht, wieso er mich rettet, doch auch wenn ich sehe, wie meine Schwester dort tot auf dem Boden liegt und ich nichts dringender will, als zu ihr zu rennen und sie sanft in meinem Schoß zu wiegen, bin ich froh darüber, diesem schrecklichen Ort entkommen zu können.
Bevor ich schließlich in die Dunkelheit abtrifte, höre ich noch die geflüsterten Worte meines Retters.

"Ich kenne dich zwar nicht richtig, aber ich werde nic..."

Dann falle ich in ein schwarzes Loch.

Traum Ende

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