Kapitel 7
Gitarrenklänge bahnten sich ihre Wege durch die in Hülle und Fülle vorhandenen Gassen, die sich wie Venen durch einen Körper in der ganzen Stadt verästelten. Jede Fassade spielte die Melodie zügig weiter, kam dabei aber nie aus dem Takt. Sie waren stets der Achtsamkeit geschoren, dass die Klänge nicht durch ein Schlupfloch fliehen konnten. In gewisser Weise wollte die Melodie das auch nicht. Sie nahm die wenigen Passanten an ihre Hand, umgarnte sie mit Liebkosungen und begleitete sie durch die Seitenstraße. Wie ein rotzfrecher Schulbursche hing ein Teil der Melodie an den Rockzipfeln, bespitzelte die Altbauwohnungen, rüttelte an den Fensterläden und kraxelte durch die gekippten Fenster in das Innere, um dort die restlichen Bewohner mit ihren nun wieder fröhlichen Akkorden die Nase zu kitzeln und sie im Anschluss mit arglistigen Tricks aus den Federn zu locken. Mittlerweile müsste sich auch schon der letzte Langschläfer in seinem Bett rekeln.
Folglich umgarnte sie auch mich und Rocko, wickelte uns mit verführerischen Zärtlichkeiten um den Finger und ich gab mich ihr wehrlos hin.
Rocko wurde auf das niedliche Kaffeehaus in der Seitengasse aufmerksam. Wir packten die Gelegenheit am Schopf und nahmen Rast vom Bummel. Das Lokal wurde durch ein schmuckvolles Metallgeländer vom Gehsteig getrennt. Um den Handlauf wucherten Efeuranken, zwischen denen eine kunterbunte Glühbirnenkette hervorschimmerte, die nachts Licht spendete. Durch die ornamentalen Feinheiten wirkte das Café edel und romantisch zugleich.
Das Lokal kreuzte uns per Zufall den Weg. Ursprünglich wollten wir in eine andere Richtung biegen. Rocko hatte den Stadtplan vor sich am Glastisch ausgefaltet und studierte ihn sorgfältig. Ich beobachtete unterdessen die vielen Menschen, die in die Gasse strömten. Ein wenig erinnerte mich ihr Verhalten an Ebbe und Flut, nur das die Sonne die Anziehungskraft auslöste. Je höher sie stieg, desto mehr Leute fluteten die Straßen.
„Brauchst du noch etwas Bestimmtes?" Unsere Blicke begegneten sich und er schöpfte Milchschaum von seinem Kaffee. „Mir fehlen nur noch Kleinigkeiten. Die bestellte Medizin habe ich in der Apotheke abgeholt und sonst bin ich bis zum nächsten großen Halt gut eingedeckt." Mein Gefährte untersuchte seine Karte, sah auf, spähte nach links und rechts, schaffte sich Orientierung und widmete sich daraufhin mir. „Um die Ecke dürfte ein Laden für Krims-Krams sein." Zufrieden lehnte ich mich in meinem Baststuhl zurück und zog am Strohhalm meiner Nussmilch.
Wir beglichen unsere Schulden im Café, ehe wir uns auf die Suche nach dem besagten Laden machten. Mithilfe von Durchfragen, managten wir es in die richtige Straße. Wir wurden fündig. Schon von Weitem winkte uns das Ladenschild zu und wir kämpften uns durch die Menschenmengen zum Handel weiter. „Jahrelang hausierte dieser Shop in der einen Straße. Ich schwöre es hoch und heilig." Rockos Orientierungssinn war in der Natur weitaus nützlicher, aber da auch ich in den Straßen Jubelstadt das eine vom anderen Haus nicht unterscheiden konnte, vergab ich ihm die kleinen Umwege.
Im Laden schlingerte ich fast über einen Karton mit frisch gelieferten Produkten. Die Gänge waren überfüllt mit Kisten, die ihren Weg in das Lager noch nicht gefunden haben. Wir schufen uns einen Gang durch das Gemetzel.
„Lass dir beim Durchstöbern Zeit. Vielleicht fällt dir das eine oder andere ins Auge, was dir nützlich erscheint." Er ließ einen Korb vom Eingangsbereich mitgehen und tauchte hinter den Regalen ab. Auch ich nahm mir vorsichtshalber einen mit und schlurrte durch den Handel. Pokébälle standen ganz oben auf meiner Einkaufsliste und davon wanderten gleich ein Sechserpack im Korb. Pikachu, dem der Bummel zu bunt wurde, sprang zu den Waren. Nur mehr die schwarzen Spitzen seiner Lauscher lugten über den Korbrand.
Gemeinsam mit Rocko schaufelten wir uns durch dutzende Kisten zur Kassa.
Mein Körper fühlte sich so schwer an, dass ich glaubte, Blei floss durch meine Adern, anstelle von Blut. Nachdem wir unsere Einkäufe erledigt hatten, kehrten wir in unsere vier Wände zurück. Ich sortierte die Neuerwerbungen in extra Aufbewahrungstaschen und es kostete mich gut eine Stunde, bis ich alles untergebracht und sorgfältig im Rucksack verstaut hatte.
Rocko blätterte in einer Zeitung, die er sich in der Stadt von einer Selbstbedienungstasche mitgenommen hatte. Er war in einem Artikel vertieft, seine Stirn legte sich immer wieder in eine lange Furche, während seine Augen über die gedruckten Worte huschten. „Da, lies." Ich schreckte ertappt zusammen, als Rocko sich unerwartet meldete und hochsah. Meine Wangen wurden warm. Rocko wusste, dass ich ihn länger als gewöhnlich angeschaut hatte, aber er umging die Situation manierlich. Der Bursche faltete die Zeitung und schob sie mir über den Tisch zu.
Mysteriöser Waldbrand am See der Wahrheit versetzt Sandgemme und Zweiblattdorf in Aufruhr:
Zwei frisch gebackene Pokémon-Trainer wollten um den See trainieren, Attacken verfeinern und auf Pokémon-Pirsch gehen. Die zwei ambitionierten Trainer machten an einem entlegenen Waldstück anstelle von den Geschöpfen eine skurrile Entdeckung. Das Waldviertel war restlos ausgebrannt. Sie berichteten der örtlichen Polizei davon, welche sich dann gemeinsam mit einem Feuerwehr-Team auf den Weg machten, um den Ort selbst unter die Lupe zu nehmen. Die Einsatzkräfte waren verblüfft, denn der Brand war von enormer Größe, aber niemand tätigte je einen Notruf.
Das Team der Feuerwehr behauptete, dass das morsche Holz und der ausgedörrte Boden Schuld am Feuer gewesen sein musste. Die Polizisten fanden eine Maschine, die ein Fremdverschulden nicht ausschließen lässt. Die Feuerwehr meint, dass das Gerät durch das Feuer zusammenschmolz, die Polizisten sehen es als Auslöser für den Brand.
Die Maschine wurde für weitere Untersuchungen in die Zentrale geschickt. Mögliche Daten könnten auf denkbare Täter hinweisen. Weiters wurden Fußabdrücke und zahlreiches Beweismaterial gesammelt. Gefahr geht keine aus, aber Sinnoh-Heute bleibt für Sie am Fall dran.
Mit ungutem Gefühl blickte ich vom Bericht hoch. Ich war unschlüssig, ob ich den Artikel für gut oder schlecht heißen sollte. Die Antwort fiel mir nicht gerade in den Schoß, weshalb ich auf Rockos Reaktion wartete.
„Sinnoh-Heute bleibt für Sie am Fall dran", spottete Rocko den Satz und äffte die Verfasserin des Artikels mit piepsiger Stimme nach. Er brachte ein schiefes Lächeln zur eigenen sarkastischen Bemerkung auf. Während ich mir eine Antwort zusammenreimte, betrachtete ich die beigefügten Bilder. Ich wandte das dünne Papier und warf einen Blick auf das Erscheinungsdatum. Die Zeitung war druckfrisch von heute. „Der Vorfall liegt zwei Wochen zurück. Ist den Menschen der starke Gestank von Rauch nicht aufgefallen?" Rocko zuckte ahnungslos mit den Schultern. „Der Wind muss den Rauch in eine verkehrte Himmelsrichtung geweht haben." „Die Medien müssen darüber jetzt kein Trara mehr veranstalten."
„Emma?" Ich überhörte den Ernst in Rockos Stimme nicht. Er wollte sicher gehen, dass ihm meine volle Aufmerksamkeit galt. Erst als ich ein zögerliches ja verlauten ließ, tat er einen Atemzug, um weiterzusprechen. „Hast du die Maschine gesehen?" Der amüsante Farbton war aus seiner sanften Stimme gewichen. Wieder bejahte ich. Rockos Lippen wurden zu einem schmalen Strich. Ich rückte mit dem kleinen Detail heraus, das ich ihm die Zeit über verheimlicht hatte. „Ich habe die Maschine ungewollt bedient. Die Neugierde und der Leichtsinn steuerten mich und vernebelten meine Vernunft. Frag nicht, was ich mir bei dieser Aktion gedacht habe." „Hast du von den Daten etwas verstanden?" „Aus den etlichen Zahlencodes gar nichts, aber..." Die Gier nach der Information war Rocko förmlich in sein Gesicht geschrieben. Seine Selbstbeherrschung hielt ihn am kurzen Zügel. „Ich erkannte zweifelsohne die Silhouette Vesprits." Er ließ sich kopfnickend gegen die Lehne fallen.
„Fürchtest du, dass die Bande schlimmeres im Schilde führt?" Ich merkte, wie mein Puls bei der Frage anstieg, aber mein Gegenüber bedachte mich mit keiner Antwort. Unsicherheit überfiel mich samt seinem Schweigen wie ein Schatten in der Nacht. Er dachte keineswegs an harmlose Schufte. Die damals beschwichtigende Erklärung mit den Pokémon-Wilderern schien somit ins Exil geschickt worden zu sein.
Sorgenvoll suchte ich Blickkontakt und ließ den Mut nicht sinken, dass mich Rocko an seinen Gedankengängen teilhaben ließ. „Meinst du, die Offiziere entschlüsseln die Codes?" Matt lächelnd tätschelte er meine Hand, die auf der Tischplatte ruhte. „Mach dir keinen Kopf", murmelte er. Seine Worte waren mitnichten beruhigend, aber er hatte sich wieder den Berichten zugewandt.
In der Aufregung vergaß ich beinahe, dass ich im Besitz von etwas viel Wertvollerem war, als den Informationen rein zur Maschine. Intuitiv angelte ich nach einem Rucksack und fischte das zerfledderte Notizbuch heraus.
Mir wirbelte die Zeichnung entgegen. Der Künstler der Skizze musste das Fabelwesen entweder in Natura gesehen haben, oder wies eine unvorstellbar blühende Fantasie auf. Seine Augen waren fein säuberlich herausgearbeitet, dass der Schalk des Pokémons aus ihnen funkelte. Legenden besagten, dass es das Jüngste des Seentrios war und gewissermaßen verspielt sei. Behutsam strich ich mit dem Zeigefinger über die Schatten, trotz der Befürchtung, die Schraffuren des Bleistiftes zu verwischen. Im Tageslicht wirkten die Schattierungen noch viel intensiver, als im dämmernden Licht, dass das Feuer abends spendete.
Ich klemmte das lose Blatt zwischen Tisch und Büchlein ein, damit das frische Lüftchen es nicht forttragen konnte. Meine Finger fuhren über das körnige, kaffeefarbene Papier, bereit, das Geheimnis der nächsten Seiten zu lüften. Ich blätterte um. Die Geheimnistuereien schienen anfänglich im Wald ihre ersten, tapsigen Schritte gewagt zu haben. Meine müden Augen mussten mir einen Streich spielen.
„Hieroglyphen...", stammelte ich und blätterte fahrig durch das Buch. „Die Seiten sind damit übersät." Rocko legte seine Zeitung beiseite. Unsere Blicke trafen sich und mein Schrecken wurde plötzlich seiner. „Jeder einzelne Seite ist handgeschrieben." Zwischen den Zeilen lockerten Polaroids die Schriften auf. Ohne den Inhalt wirkten sie wie normale Momentaufnahmen. Ruinen, Statuen aus Stein gemeißelt, Kunstwerke. Ich fand alles Erdenkliche, aber ohne den Kontext war es Bedeutungslos.
Nach den skurrilen Begegnungen musste ich fast damit rechnen, dass das Büchlein besonders war. Handelte es sich um ein Tagebuch? War es ein Notizbuch, gefüllt mit den geschmiedeten Plänen der Banditen? Ich würde auf die Notizen mehr denn je aufpassen. Es sollte nicht in die falschen Hände rutschen, auch wenn der Inhalt mir fremd war.
„Ob die Schriften frei erfunden sind?", riss mich Rocko jäh aus meinen Gedanken. Ich schüttelte den Kopf. „Mir kommen sie bekannt vor," erwiderte ich, „aber das ist fast unmöglich." Rocko sah mich interessiert an. „Woran denkst du?" „In Katrins Buch habe ich über die antike Schrift Sinnohs gelesen und habe Abbilder von den Hieroglyphen betrachtet. Sie waren zwar verschwommen, aber sie ähneln sich mit diesen hier. Diese schwungvollen Formen... und den Augen, die einen zu beobachten scheinen. Ich würde sie unter tausenden Zeichen wiedererkennen." „Augen?" „Forscher fanden Höhlenmalereien. Bei näherer Begutachtung blinzelten die Symbole sie an." „Diese Forscher haben tagelang kein Sonnenlicht gesehen. Wahrscheinlich haben sie sich das nur eingebildet. Ich halte das für einen Mythos." Etwas enttäuscht blickte ich Rocko an.
„Emma, sei bitte vernünftig. Niemand ist in der Lage, die alte Schrift zu lernen." „Ich weiß. Je nach Zusammensetzung ergeben die Symbole andere Silben und Laute. Teilweise sind sie so veraltet, dass sie im heutigen Sprachgebrauch ausgestorben sind." Rocko merkte, dass mich seine Widersprüche kränkten. Vorsichtig nahm er das Buch unter die Lupe. „Die Tinte ist zwar verblasst, aber es scheint mir nicht in Zweitbesitz gewesen zu sein." „Kein Erbstück?" Rocko zuckte mit den Schultern. „Wer gibt sich so viel Mühe?" „Jemand, der viel zu verbergen hat." Ich faltete die Hände am Tisch. „Niemand lehrt diese Hieroglyphen. Wie soll das alles Sinn ergeben?"
„Die Zeichen sind zufällig aneinandergereiht und haben am Ende vielleicht gar keine Bedeutung. Das Büchlein könnte ein Kind sein Eigen nennen, dass ein Faible für Geheimschriften hat." Rocko konnte noch so sehr versuchen, die bizarren Dinge mit logischem zu kompensieren. Ich hielt daran fest, dass sich mehr dahinter verbarg, als harmlose Kritzeleien eines Kleinkindes. „Lebt der wahre Besitzer noch?", wagte ich es zu fragen. „Demjenigen, des es gehört, hat es eigenhändig verfasst. Ja."
Ich hatte Blut geleckt. Die Lust, mehr über die alten Schriften in Erfahrung zu bringen, zogen immer enger werdende Kreise durch meinen Kopf. Wahllos kramte ich durch den Papierstapel an Zeitungen, die sich über den Tag auf einem Stoß sammelten. Ganz unten befand sich die Stadtkarte. Ohne den Stapel zu Fall zu bringen, zog ich die Karte heraus und bereitete sie am Boden aus. „Was hast du vor?" Rasch flogen meine Augen über das Blatt. „Ich suche nach einer öffentlichen Bibliothek." „Lass mich raten. Du willst über die Antike und ihre Schriften nachschlagen?" „Exakt."
Ein paar Straßen weiter wurde ich fündig. Genau genommen gab es in der ganzen Stadt zwei öffentliche Bibliotheken. Die eine war gut zu Fuß erreichbar, die andere lag am Rand von Jubelstadt und kam nicht infrage.
Ich war in Aufbruchsstimmung, schnappte mir die Karte und flutschte in meine Schuhe. „Du willst heute noch dort hin?" „Wann denn sonst?" „Du ruheloser Geist", lachte Rocko und erhob sich. Verwundert stierte ich zu ihm. „Die Fülle an Informationen werden dich erschlagen, wenn du das allein durchziehst. Lass mich dir helfen." Ergeben nickte ich. Ich sah es als eine Widergutmachung für seine forsche Reaktion auf meine Vermutungen vorhin.
In der Bücherei angekommen, fragten wir die Bibliothekarin nach Werken über Mythen, Legenden und Höhlenmalereien. Sie führte uns in ein Abteil und erklärte, dass rein die linke Seite mit den Geschichten aus früherer Zeit gefüllt war.
Rocko fuhr mit dem Finger über die Buchrücken und las lautlos die Titel. Ich stürzte mich auf Bücher über Kunst und Malerei während Rocko sich den Legenden Sinnohs widmete. Dafür, dass es hier Nachschlagwerke wie Sand am Meer gab, war unsere Ausbeute an Büchern, mit denen wir uns es in einer Nische gemütlich machten, nicht sonderlich beeindruckend.
Wir begannen die Zeilen zu überfliegen. Stunden vergingen, bis ich auf einen Artikel stieß, der uns näher an die antiken Schriften heranführten. „Hier, das könnte vielleicht helfen", meinte ich. Ich streckte meinen Rücken durch und hörte, wie meine Wirbelsäule verdächtig knackte.
„Die Höhlenmalereien reichen weit in die Vergangenheit zurück. Es gibt Wandgemälde, die Tagebucheinträgen ähneln. Unsere Vorfahren haben ganze Tagesabläufe zeichnerisch ausgedrückt. Meist verwendeten sie schwarze Farbe, ein Kohle-Wasser-Gemisch. Kohle bekamen sie aus den Erzelingen-Minen, wo auch die ersten Malereien begraben lagen. Heute kann man diese im dortigen Museum betrachten."
Rocko rieb sich über seine müden Augen. „Du musst so oder so nach Erzelingen. Es kann also nicht schaden, wenn wir dem Museum einen Besuch abstatten. Schon vergessen, dein Arena-Kampf?" fügte Rocko bei, als ich erstaunt meine Augenbraue hob. Das ich durch den Pokédex eine Aufgabe mehr hatte, war mir fast entgangen.
Aber er behielt Recht, langsam musste ich meinenPflichten nachkommen.
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