Kapitel 3
„Ist dieser Hügel passiert, müsstet ihr Zweiblattdorf sehen können." Der Bauer schwenkte zum Abschied seinen Strohhut, startete seinen Traktor und tuckerte in jene Richtung davon, aus der wir ursprünglich kamen. Er hatte uns angeboten ein Stück mitzunehmen, nachdem ich mich kraftlos auf einer Bank fallen ließ und er aus heiterem Himmel mit seinem Vehikel daher schaukelte. So schüttelte es uns einige Meilen auf einer Ladung Heu nach Süden.
Der Feldweg zog sich durch die traumhafte Landschaft. Kies knirschte unter unseren Füßen. Über den Äckern und Feldern flatterten die unterschiedlichsten Pokémon, begleitet von einem zufriedenen Brummen ihrerseits. Rocko seufzte genüsslich und starrte verträumt in die Ferne. Er schien seine Umgebung mit jeder Faser seines Körpers einzusaugen.
Pikachu balancierte am Zaun, der die Miltanks in ihren Weiden hielt. Eine Herde Ponita und Gallopa stoben an uns vorbei, donnerten mit ihren Hufen über die Erde und wirbelten Staub und Dreck auf. Am Ende der Wiese verklang das rhythmische Geräusch stetig. Käferpokémon schwebten von Blume zu Blume und bedienten sich am Nektar der Blüten, die sich am Wegrand säumten.
Als wir den Scheitel erklommen hatten, schien Rocko für einen Moment den Atem anzuhalten und auch ich genoss den Augenblick. Weit über die Landschaft hinweg, zogen sich die Häuser von Zweiblattdorf. Um die fortlaufende Route zu erblicken, musste ich die Augen zusammenkneifen. Am Horizont verschmolz diese mit den Schatten der Berge. „Siehst du das Einfamilienhaus, links außen? Dort wohnt Lucia." „Lucia ist der Name deiner ehemaligen Reisekameradin, nehme ich an?" Rocko schnalzte bestätigend mit seiner Zunge.
Unsere Beine setzten sich wieder in Bewegung und marschierten den Rücken der Wölbung hinunter. Bald schon ließen wir den ersten Bauernhof, der die umliegenden Felder bewirtete, hinter uns. Zweiblattdorf verdankte seinen guten Ruf den Höfen, die die Dorfbewohner mit ihren selbstproduzierten Produkten versorgte.
Rockos Tempo beschleunigte sich um das Doppelte, als das Hausdach hinter einer Kiefer hervorspähte. Mühsam hinkte ich hinterher.
Eine prächtige Hausauffahrt, gesäumt mit den unterschiedlichsten Beerensträuchern, nahm uns in Empfang. Die Sonne warf ihre Strahlen gegen den roten Backstein des Hauses. Ungeniert öffnete Rocko die Gartentür und stakste über das Kopfsteinpflaster zur Haustür.
Kurz nachdem Rocko die Klingel zum Schrillen gebracht hatte, tauchte hinter dem milchigen Fenstereinsatz der Haustür ein Haarschopf auf. Die Tür wurde mit Schwung aufgeschoben und eine verdatterte Frau blinzelte uns entgegen. Ihre wohlgeformten Augenbrauen hoben sich freudig, während sich ein Lächeln soweit ausbreitete, dass eine Reihe gerader, weißer Zähne zum Vorschein kam. „Rocko?" Sie wischte sich ihre mehligen Hände an der Schürze ab, um ihn zur Begrüßung in die Arme ziehen zu können. „Nein, du bist es tatsächlich!" „Natürlich bin ich es." Die Frau hielt ihn eine Armlänge von sich entfernt weg und lugte zu mir. „Du bist in Begleitung, wie ich sehe ... aber, kommt doch erstmals herein in die gute Stube." „Vielen Dank, Katrin." Sie winkte uns ins Haus.
Die untere Etage war ein offener Bereich. Keine Wände teilten die Bereiche in Räume ein. Links führte eine Treppe in das obere Stockwerk und neben den Treppenansatz kuschelte sich die Küche. Vor der Küchenzeile stand ein großer Esstisch. Rechts war die Verandatür, die sich am Kamin anlehnte.
„Ich bin übrigens Katrin, die Mutter von Lucia. Sie und Rocko waren vor vielen Jahren gemeinsam in Sinnoh unterwegs." Sie deutete mit ihrem Finger auf ein Foto an der Wand, worauf drei Trainer abgebildet waren. Einer davon war Rocko, das Mädchen war dann wohl Lucia und der dritte im Bund war mir unbekannt. „Ich heiße Emma", stellte ich mich höflicherweise vor.
„Bitte, setzt euch doch. Ihr seid von der langen Anreise bestimmt erschöpft." Sie huschte in die Küche und schenkte emsig Getränke in Gläser ein. Unsicher blieb ich auf meinem Fleck stehen. Rocko schob einen Stuhl zurück und bot ihn mir an.
„Erzähl mir, was führt dich denn nach Sinnoh zurück?" Nachdem auch Rocko Platz genommen hatte, sich der Sessel quietschend dem Tisch näherte, antwortete er: „Ich wollte mich erkundigen, wie es Lucia so ergeht." Zerknirscht setzte sich auch Katrin. „Es tut mir wirklich leid, aber sie wurde vor wenigen Tagen zurück nach Herzhofen beordert, um bei einer Kollektion zu helfen. Sie ist vor wenigen Tagen mit dem Zug abgereist." Rocko grinste. „Sie lernt wohl niemals still zu sitzen." Katrin lachte. „Ruhe ist für sie ein Fremdwort. Lucia ihren Traum leben zu sehen... ach, ich werde wieder sentimental."
Ihr Blick schweifte zum Gruppenfoto an der Wand. „Du hältst jedes deiner Versprechen, oder?" „Warum sollte ich nicht?" Katrin tätschelte kurz seine Hand, welche er auf den Tisch gelegt hatte. „Schön zu sehen, dass aus dir so ein großartiger Mensch geworden ist." Rockos Wangen schimmerten leicht rosig. „Unglaublich wie schnell die Zeit doch verfliegt. Die Reise durch Sinnoh ist schon sieben Jahre her. Wie alt warst du damals? Fünfzehn? Sechzehn?" Katrin blinzelte zu Rocko. „Fünfzehn", bestätigte er ihr.
Katrin überkreuzte ihre Beine unter dem Tisch, stützte ihren Kopf auf einer Handfläche ab und betrachtete mich seelenruhig. „Rocko hat dich also auf den Weg hierher aufgegabelt?" Ich nickte knapp. „Aufgegabelt klingt noch nett - es war eher ein Vorfall, der uns zusammenführte. Ein großer Teil des Waldes nahe dem See stand in Flammen und Emma war mittendrin." Bestürzt weiteten sich die Augen von ihr. „Was? Davon habe ich gar nichts mitbekommen. Himmel, geht es dir gut?" Wieder nur brachte ich ein stummes Nicken zustande. Je länger ich in diesem Raum war, desto unbehaglicher wurde mir. „Rocko war ja da", riss ich mich zu einer vernünftigen Aussage zusammen.
„Leider hat sie dabei ihr gesamtes Hab und Gut verloren..." „Hier kugeln ganz sicher noch die einen oder anderen Dinge herum, die du gerne haben kannst." Katrin lächelte aufmunternd. „Dann kannst du Rockos Ersatzkleidung ablegen. Die scheinen dir sowieso zu weit zu sein." An Rocko gewandt fügte sie noch hinzu: „Lass das nur meine Sorge sein." „Sie sind echt unschlagbar." „Quatsch, das ist das Mindeste was ich für euch beide tun kann."
Stille kehrte ein. Katrin betrachtete mich mit leicht geneigtem Kopf so kritisch wie ein Ausstellungsstück in einem Museum. „Du siehst jemanden so verflixt ähnlich, doch mir will einfach nicht einfallen, wem. Du kommst nicht aus Sandgemme, habe ich recht?" Mein Herz trommelte in einem wilden Rhythmus, als sie mich eingehend musterte. Jählings hoben sich ihre Augenbrauen, als wäre der Groschen gefallen. Katrins Gesichtsmuskeln entspannten sich daraufhin wieder und ich drosselte meine Voreingenommenheit.
„Habt ihr beiden es sehr eilig? Ihr könnt über Nacht bleiben und euch von den Strapazen erholen." Der Braunhaarige schien zu überlegen. „Es würde mich freuen. Seitdem Lucia außer Haus ist, scheint hier alles lahmgelegt zu sein. Meines Erachtens ist es viel zu ruhig." „Ihre Gastfreundschaft ist wirklich großzügig."
Rocko stellte sich als Dank heute in die Küche und wollte für das Abendessen sorgen. Munter vor sich hin pfeifend wälzte er sein kleines Kochbuch, während er an der Küchenzeile lehnte.
Mit leicht geneigtem Kopf nahm ich die Titel der Buchrücken in Augenschein, die sauber geordnet im Regal des Wohnzimmerbereiches hausten. „Falls dich ein Buch anspricht, kannst du es gerne lesen. Nimm dir doch ein Schaumbad, das entspannt deine Nerven bestimmt und würde dir guttun." Katrin erschien mit einem Bündel roten und grauem Stoff im Arm neben mir. „Wenn ihr etwas braucht, findet ihr mich im Arbeitszimmer. Fühlt euch auf jeden Fall wie zu Hause."
Ich schlug das Angebot von Katrin nicht aus, schnappte mir ein interessant zu scheinendes Buch, stapfte die Stufen hoch und verschwand im Bad. Heißes Wasser dampfte hoch und Schaum bedeckte die große Wanne.
Sanft ließ ich mich hineingleiten. Meine Muskeln und Wunden ächzten, gaben aber nach einer Weile nach. Dank dem Buch verplemperte ich den halben Nachmittag im Bad. Erst als meine Haut schon schrullig war, schrubbte ich mir den Dreck und den Schweiß vom Körper, bis manche Stellen rot leuchteten. Ich versenkte meinen Kopf zuvor noch unter Wasser, wusch meine Haare und seifte mich ein, bis ich herrlich nach Lavendel duftete.
„Emma?" Es klopfte leise. Ich zog den Stöpsel des Abflusses, wickelte mich in ein Handtuch ein und öffnete die Tür einen Spalt. Rocko reichte mir eine graue Jogginghose und ein weites, weißes T-Shirt durch die Kluft. „Katrin meinte, dass das deine Ersatzkleider seien. Mit der anderen Kleidung ist sie schon fast fertig." „Danke."
Ich schlüpfte in die passenden Sachen und stellte mich vor den angelaufenen Spiegel, wischte mit der Handfläche darüber und flocht mir meine Haare seitlich zusammen.
Nach einem ausgiebigen Abendessen, knüllte ich meine gebrauchte Serviette zusammen und legte sie auf den Teller. „Stört es euch, wenn ich mich ins Bett lege?" Zwei Augenpaare sahen mich an. „Natürlich nicht. Das Zimmer ist oben rechts." Dankend erhob ich mich, räumte das Geschirr in die Spüle und wünschte den beiden eine angenehme Nacht.
Ausgelaugt ließ ich mich in das weiche Bett fallen. Meine Wange schmiegte sich in das Kissen und ich hüllte mich bis zur Nasenspitze hoch in die Steppdecke ein.
~*~
„Emma wirkt äußerst sympathisch", stellte Katrin fest. Mit Argusaugen folgte sie dem Mädchen die Stufen hoch und ihr Blick haftete noch an der Treppe. „Zwar sehr schüchtern und ruhig, aber mir gefällt ihre Art. Sie weiß, wie sie sich zu benehmen hat." Sie hob ihr Glas und trank einen Schluck. „In der Tat", murmelte ich. Nervös zappelte ich mit meinen Beinen und fühlte mich gleich wieder in meine Kindheit zurückgesetzt. Nervenschwach war ich nur damals, heute bezeichnete man mich eher als Ruhepol, also war es äußerst seltsam, dass meine Beine in Bewegung waren, obwohl ich saß.
„Aber?" Katrin versuchte aus meiner plötzlichen Friedlosigkeit schlau zu werden. „Kann ich Ihnen etwas anvertrauen?" Nur zu, schien sie mit ihrer Handbewegung auszudrücken. Sie faltete ihre Hände am Tisch und schenkte mir ihre volle Aufmerksamkeit. Katrins Augen flitzten zwischen meinen Pupillen hin und her. „Auf Emmas Schultern lastet ein schweres Gewicht. Einige Punkte bereiten mir unruhige Nächte, seitdem ich sie kenne." Die ausgesprochenen Worte milderten die Spannung, die mir im Nacken hockte.
„Hast du dafür Beweise?" Jede erdenkliche Information und Beobachtung kam mir jetzt zu Nutzen und ich plauderte alles aus, was mir verdächtig vorkam: Das Lager im Wald, ihre Wunden, die gerade am Abheilen waren und definitiv nicht vom Brand stammten. Nicht zu vergessen die Andeutungen, die mir nicht abhandengekommen sind. Im Stillen war ich dankbar dafür, dass Katrin eine gute Zuhörerin war und mich in meinem Redefluss nicht bremste.
„Du hast wirklich ein geschultes Auge." Verräterisch sackte Katrin in sich zusammen. Auf ihre pfirsichfarbene Haut legte sich eine Blässe wie aufgetragenes Puder. Traurigkeit schwang in ihrem sonst so sonnigen Gemüt. „Ich wusste es, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Ich hoffte inständig..." Verwirrt kehrten meine Augen zu ihr zurück, die zuvor stur auf die Tischplatte starrten. „Emma ist mir bekannt ... formulieren wir's so, ihre Eltern kennt man hier im Dorf. Es ist unvermeidlich, dass sie ihre Tochter ist." „Worauf wollen Sie hinaus?" Ungeduldig trommelte ich auf die Tischplatte, unterließ dies aber sofort. Damit würde ich Katrin nur stressen. Vielleicht besaß sie das fehlende Puzzlestück, das mir fehlte? „Sie hat dieses wundervolle, dichte Haar und auch die himmelblauen Augen von ihrem Vater. Die feinen Gesichtszüge erbte sie von ihrer Mutter."
Fassungslos über das Knurren in ihrer Stimme, welches im letzten Satz erblühte, spähte ich sie an. Sie bohrte ihre Fingernägel in ihr Glas, um ihre wachsende Wut abzureagieren. „Vor einigen Jahren verschwand Emmas Vater, ohne sich je wieder zu melden. Ihre Mutter arbeitete im Dorfladen hier in Zweiblattdorf, wo ich sie auch täglich traf. Wir - also ich und andere Dorfbewohner - versuchten ihr gut zuzusprechen. Keinesfalls sollte sie Emma im Stich lassen. Rasch folgte dann der Absturz und sie ersoff ihren Kummer im Wein. Der Dorfwirt verhängte Hausverbot über sie, aber sie fand neue Wege um an Alkohol zu gelangen. Oft beobachtete ich, wie sie spät nachts durch Zweiblattdorf torkelte. Gelegentlich warf sich die Frage auf, was aus Emma geworden ist. Niemand bekam sie je zu Gesicht." „Oh nein", schlussfolgerte ich atemlos die Geschichte. „Irgendwann muss sie damit begonnen haben, ihre ungezähmte und ungebändigte Wut, die sich seit dem Verlust ihres Ehemannes anstaute, an Emma auszulassen. Sie wurde Opfer von häuslicher Gewalt. Darauf gehen auch sämtliche Verletzungen zurück, die du schon kennst." Das klang tragischer als jeder Albtraum.
„Was raten Sie mir jetzt?" Bedrückt fixierte ich eine Vase, die lediglich dekorative Zwecke erfüllte. „Ich kann ja schlecht zu ihr gehen und sie mit den Fakten konfrontieren." „Das wäre überaus unsensibel, ja, aber vermutlich ihre einzige Chance sich aus der Misere herauszuwinden." Katrin schenkte uns Wasser nach.
„Zieh nicht so ein Gesicht." Sie lächelte mitfühlend und Sanftmut kehrte in ihre Stimme zurück. „Warum bist du so blind und siehst nicht, dass sie dir vertraut?" Katrin traf einen wunden Punkt und ich zuckte merklich zusammen. Ich war starrsinnig gewesen und habe dabei vergessen, dass Emma grundsätzlich offen war. Anders wüsste ich kaum etwas über sie. „Verlasse dich auf dein Bauchgefühl, dann wird alles ein gutes Ende nehmen." Aber die Geschichte war verstrickter. Momentan fühlte ich mich überfordert und mir mangelte es an einem Plan. „Wenn sie verleugnet?" „Dann probierst du es erneut. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie blockiert und abstreitet. So schätze ich Emma auch gar nicht ein."
Meine morgige Aktion war waghalsig, aber Konfrontation war wohl oder übel die aussichtreichste Methode von allen. Voller Tatendrang erhob ich mich. Eine Portion Adrenalin schoss durch meine Adern. In Anbetracht meines zuerst aufwallenden Selbstzweifels, strotzte ich jetzt wiederum voller Zuversicht. „Danke für Ihren Rat."
„Tu mir bitte einen Gefallen und lass sie nicht mehr allein. Einsamkeit war viel zu lange ihr treuer Begleiter." Ich zwang mich zu einem matten Lächeln. „Würde ich niemals wagen." „Du sollst jetzt auch ins Bett. Morgen wird ein kräftezehrender Tag, schätze ich. Du weißt wohin?" „Erste Türe, rechts."
Hurtig schlüpfte ich ins Zimmer. Die Fenster standen weit offen, doch Emma schlief ruhig. Ich legte mich ins zweite Gästebett.
~*~
Eigentlich wollte ich nur ins Badezimmer. Nachdem mein Name mehrmals bei der intensiven Konversation gefallen war, fühlte ich mich zum Anhalten gezwungen. Ich kauerte am Treppenabsatz und konnte nicht begreifen, über welches Thema die zwei diskutierten. Meine Arme schlangen sich um meinen Bauch und ich vertrieb die Kälte, die meinen Rücken streichelte.
Jetzt lag ich seit geraumer Zeit putzmunter im Bett, hörte das gleichmäßige Atmen von Rocko und versicherte mir, dass ihn so schnell nichts wecken könnte. Wie führten ihn diese Tatsachen zu solch einem Ergebnis? Seine großartige Menschenkenntnis verblüffte mich, aber sie konnte mir jetzt zum Verhängnis werden.
Jahrelanger Schmerz war in einer Mauer verbarrikadiert, die er jetzt einfach einreißen wollte. Ich sträubte mich dagegen. Diese seelische Tortur würde sich wie eine Fontäne über mich ergießen und ich würde hilflos ertrinken. Ich musste das mit meiner Mutter ein für alle Mal regeln, obwohl mir vor einer erneuten Eskalation bangte. Und unter diesen Umständen wollte ich niemanden mehr ins Boot ziehen. Es reichte, wenn sie mich tyrannisierte.
Herzklopfend strampelte ich die Bettdecke bis zum Bettende. Dabei glitt ein Stapel Klamotten zu Boden. Pikachu reckte sich und blinzelte mich von seinem Schlafplatz aus irritiert an. Blitze zuckten aus seinen Backen, als er meine Aufgebrachtheit fühlte. „Wir müssen abreisen. Rocko weiß alles", hielt ich mich kurz. Pikachu sprang wie vom Donner gerührt hoch auf meine Schulter und stupste mir gegen die Wange. Ich schlüpfte in meine brandneue Kleidung, schnallte mir den Rucksack um, den mir Katrin gefüllt neben das Bett gestellt hatte.
Mondlicht flutete das Zimmer und zufrieden betrachtete ich mein sonst so zerzaustes Ich im Spiegel. Die rote, locker sitzende Cargohose passte wie angegossen, genauso das schwarze T-Shirt und die rote Jacke mit grauer Kapuze. „Die Klamotten sind perfekt. Katrin ist wirklich unglaublich", bewunderte ich die adrette Kleidung. Obwohl ich schnellstmöglich Land gewinnen wollte, ließ ich mir diesen Moment nicht nehmen.
Leise schob ich die Zimmertür auf, warf einen allerletzten Blick auf Rocko und stahl mich die Treppen hinab. Ich suchte hektisch nach Stift und Papier, fand die Utensilien beim Festnetzanschluss und krakelte ein paar Worte darauf. Schnurstracks verließ ich das Haus über die Veranda und verhielt mich dabei so leise wie ein Dieb in der Nacht. Meine Knochen und mein Verstand befahlen mir umzukehren. Meine Beine fühlten sich an wie Blei, das ich gezwungener Maße mit mir herumschleppen musste.
Erst als ich den Hügelscheitel erreichte und sich Seitenstechen ausbreitete, drehte ich mich einmal zum Häuschen um. Erst heute Mittag betrachteten Rocko und ich vom Kamm aus Zweiblattdorf. Tränen brannten in meinen Augen, ich blinzelte sie aber trotzig hinweg. „Es tut mir unendlich leid." Ich kehrte dem Dorf den Rücken zu und rannte mit erstickter Stimme in die Richtung meines eigentlichen Heims.
~*~
Das schräge Krähen eines Pokémons weckte mich am nächsten Morgen. Ich fuhr mir über Stirn und Schläfe, bevor ich meinen Kopf zu Emmas Bett drehte, um zu schauen ob sie noch schlief. Doch der Frühaufsteher war schon längst auf den Beinen. Ich schlurfte gemütlich in die untere Etage. Auch hier schien es seltsam ruhig. Katrin müsste schon auf Hochtouren sein, aber ich vernahm kein Geräusch. Wurde sie vielleicht krank?
Katrin lehnte an der Küchenzeile und starrte mit leeren Augen aus dem Fenster über der Spüle. „Nicht gut geschlafen?", fragte ich zur Begrüßung. Ihr fahles Gesicht richtete sich auf mich. Wortlos hielt sie mir einen Zettel entgegen. Danke für alles. Diese drei Worte waren mit Emmas Namen signiert. Sofort schrillten meine Alarmglocken.
„Rocko, sie hat unsere Unterhaltung gestern Abend mitbekommen. Was ist, wenn sie sich etwas antut?" Ich schüttelte heftig den Kopf. „Nein, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen." Katrin ließ ihre Schultern sinken. „Sie könnte wer weiß wie lange schon weg sein." „Davon will ich nichts hören! Emma ist nach Hause gerannt." „Was macht dich da so sicher?" „Weil ich es einfach besser weiß", brauste ich auf und war mir sicher, dass da die Angst aus mir sprach. Verzweifelt raufte ich mir die Haare. „Ich würde es nicht anders machen!"
Katrin begann hektisch in der Küche Kleinkram zusammenzusammeln und stopfte sie in meinen Rucksack. „Du musst zu ihr. Ihre Mutter ist unberechenbar." „Wissen sie den ungefähren Weg zu ihr? Sie sagten, sie kennen die Familie." Sie nickte, eilte zu mir, während meine Füße in die Schuhe fanden. Katrin drückte mir den Rucksack gegen die Brust, ließ noch nicht aus, verriet mir die Adresse und wünschte mir alles Gute.
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