Kapitel 12
Fadendünne Risse ritzten sich aufwärts in den Putz. Misstrauisch beobachtete ich, wie sie zum Winkel der Decke schlüpften. Die vielen kleinen Einkerbungen bündelten sich in der Fuge. Peinigend blätterte ein Stückchen Farbe ab. Bedacht glitt ich zur Wand, streckte eine Hand aus und fühlte, wie sie sich mit entgegenwölbte.
Die Berührung war zu viel. Der Riss sprang wie ein wildgewordenes Tier auf die andere Seite des Raumes und hinterließ eine tiefe Furche in der Decke. Farbe und Holzstaub prasselte wie feiner Regen auf mich herab. Nein!l
Ich breitete meine Arme wie eine Esche ihre starken Äste dem Himmel entgegen. Die Planken krachten auf meinen Rücken nieder, zerschmetterten meine Wirbelsäule und die Rippenbögen. Verzweifelt versuchte ich Sheinux Zeit zu kaufen, der im schwach beleuchteten Raum erbittert um sein Leben focht. Jeder Atemzug könnte sein letzter sein.
Holz knackte, der Plafond erdrückte meinen Leib und ich brach wie die Gipsplatten unter der Last zusammen.
Tief schöpfte ich Luft in meine Lungen, als hätte ich die Schlingen von meinen Füßen gestrampelt, die mich gierig, sich die Lippen leckend in die Tiefen des Meeres zerren wollten. Nicht nur das Erstickungsgefühl befreite mich aus dem goldenen Käfig meines Traumes, sondern auch der Krach eines plötzlich alarmschlagenden Gerätes. Sheinux! Eilig tastete ich mich an der rauen Wand hoch und wirbelte zum Fenster. Schwindelgefühl schickte funkelnde Sterne durch mein Sichtfeld. Zuerst nur schemenhaft, aber dafür umso klarer, warf sich die erschreckende Szene eines sich windenden Pokémons auf meine Netzhaut. Sheinux zuckte unwillkürlich, erstarrte und wurde wieder von Krämpfen terrorisiert.
Bevor ich die Türklinge fassen konnte, wurde ich von Schwester Joy und ihrem Assistenten beiseitegedrängt. Sie stürzten in den Raum zu Sheinux' Bett. Die Tür flog lautstark in ihre Angeln. Hilflos musste ich das Drama vom Gang aus beobachten. Unnatürlich riss das Pokémon sein Maul auf, saugte jeden Luftstrang in sich. Der Krampf verhinderte, dass sie die Lungen jemals erreichten. Worte wurden gewechselt, schnell, gekürzt, und für mich unmöglich ihr Belang zu entschlüsseln. Dann fielen die Rouleaus im Raum und schieden mich vom Geschehen ab. Fade spiegelte sich meine bejammernswerte Silhouette in der Scheibe wider.
„Wie wäre es mit rasten?" Rocko stiefelte heran. Vage nahm ich aus dem Augenwinkel eine Figur auf mich zukommen. „Soll ich dich ablösen? Du solltest Energie tanken –" „Er krampft", fegte ich in seinen Wortschwall, ohne auf ihn Acht zu geben. Wie von meinem eigenen Anblick in Ketten gelegt, stierte ich zum Glas, vor dem die Vorhänge geworfen wurden, als wäre es transparent und ich könnte hautnah verfolgen, was sich dahinter abspielte.
Rocko gab sich einen Ruck und öffnete den Mund für eine beschwichtigende Rede, da wurde abermals die Tür aus den Angeln gerissen. Joy trat blass und verschwitzt über die Schwelle. Schlechte Nachrichten projizierten sich in ihrem Gesichtsausdruck.
„Emma..." Sie hob ihre Arme und ließ sie kurzerhand wieder sinken. „Ich kann und werde dir die Wahrheit nicht verheimlichen, geschweige denn seinen Zustand schönreden. Sheinux leidet unter seinen starken Krämpfen. Die starken Schmerzmittel schlagen nur gering an, er erduldet seine eigenen Entladungen, die Verbrennungen gleichzusetzen sind. Allein kann er seine Elektrizität nicht kontrollieren und die Medizin hat dafür noch kein zulässiges Medikament entwickelt. Die müssen alle geprüft und getestet werden." Sie steckte ihre Hände in den Kittel. Das helfende Mittel ist unerlaubt, denn die Testreihen waren noch nicht abgeschlossen. Diese Information hatte mir Schwester Joy bereits am Vortag gegeben.
„Notgedrungen versetzten wir ihn ins Koma. Einen weiteren Anfall dieses Ausmaßes übersteht er nicht. Dafür ist er zu schwach. Mit Medikamenten könnten wir ihm vielleicht Aufschub gewähren." Aufschub? Das klang wie Musik in meinen Ohren. Vielleicht reichte dieses Moratorium, damit die Medizinforscher das Medikament fertigstellen konnten und Sheinux Chancen auf Heilung hatte? Wie sich bald herausstellte, wurden meine Hoffnungen zunichte gemacht. Keine Handlung der Welt war ohne Haken.
„So leid es mir tut, aber sobald Sheinux nicht mehr unter dem Narkosemittel steht, ist es nur mehr eine Frage der Zeit. Mit bereits erprobten Medikamenten könnten wir ihm höchstens ein halbes Jahr Lebenszeit ermöglichen. Diese dürfen wir aber nicht aushändigen, gesetzlich sind uns die Hände gebunden. Er würde seinen Lebensabend nur mehr im Center verbringen." „Ohne Narkose stirbt er und mit lebt er?" Sie zuckte unentschlossen mit ihren zarten Schultern, bevor sie nickte. „Was wollen Sie mir damit mitteilen?" Ich wappnete mich für den schmerzlichen Teil. Die Antwort kannte ich, aber sie malträtierte mich. Er würde so oder so, nie mehr die Welt zu sehen bekommen, schärfte ich mir ein.
„Für solche akuten Fälle ziehen wir es in Erwägung, Pokémon von ihrem Leid zu befreien." Das Blut floss mir aus dem Gesicht, bemerkte, wie meine Beine schwächer wurden und meine Knie unheilvoll bebten. „Nein", hauchte ich, „dass können Sie nicht machen!"
„Es obliegt nicht mir, diese Entscheidung zu treffen. Ranger verhängten damals den absoluten Ausnahmezustand für die betroffenen Pokémon. Jedem, dem ein Opfer in die Hände geriet, entschied, was mit ihm geschehen sollte. Dieselbe Regelung gilt auch für Sheinux und dich. Betrachte sie als Alternative, die ich dir ans Herz lege. Es tut mir leid, Emma, das Einverständnis musst du uns geben." Schwester Joy appellierte noch weiter an meinen ratlosen Verstand: „Sei vernünftig. Er würde ein kurzes, schmerzgeprägtes Leben führen, bevor seine unkalkulierbare Elektrizität seine Organe so weit schädigt, dass er seinen sich selbst zugeschriebenen Wunden erliegt." Dann empfahl sie sich.
Ihre Ruppigkeit, Kaltherzigkeit und die nackte Tatsache, dass sie demungeachtet Recht hatte, trieben mir Tränen in die Augen. Sheinux' Leben hing am seidenen Faden und mir gebührte es, mit der Schere die Schnur, die das Leben in seinen Händen hielt, zu durchtrennen.
Eine Pflegehilfe hatte die Jalousie hochgeschnürt. Plötzlich glich Sheinux in meinen Augen einer Marionette, die sich in ihrem eigenen Zwirn verheddert hatte und Monat um Monat in einer Ecke verstaubte. Niemand glaubte mehr an eine Zukunft. Ein Schluchzen betrieb Hochverrat und geleitete mich zu einem Schiffsbruch. „Tut mir leid, Emmchen." Rocko wischte mir Tränen vom Gesicht. Ich spürte nicht, wie sie zu fließen begannen.
Rocko zerrte mich eine Weile später in die Küche, die Trainer auf Durchreise im Center zur Verfügung stand. Mit tränenverschleierter Sicht, stolperte ich ihm unbeholfen hinterher. Mehrmals strauchelte ich wie ein junges Kind bei seinen ersten Gehversuchen, über meine eigenen wackeligen Beine. Schließlich zwang Rocko mich, Platz zu nehmen, stellte mir selbstgezauberte Kost und ein Glas Wasser vor die Nase, ehe er sich gegenüber auf die schäbige Küchenbank plumpsen ließ. Lustlos stocherte ich mit der Gabel im Auflauf herum. „Iss", forderte Rocko mich auf. „Es ist kein gewöhnliches Frühstück, aber du hast beim gestrigen Abendessen mit deiner Abwesenheit geglänzt.... Was ja auch verständlich ist", fügte er rasch hinzu, als er meinen verständnislosen Blick erhaschte.
Der Morgen brach durch das Fenster. Müde hüpfte der junge Tag aus den Federn und begann nicht mit dem versprochenen Sonnenschein. Bauschige Wolken versammelten sich um die Sonne, wie Schafe um ihren Hirten. Böen bürgten, die Wolkenfetzen im Laufe des Vormittages auseinander zu zupfen.
„Ich muss den Kopf frei bekommen." Rocko tätschelte mir mitfühlend die Hand. „Zieh allein los. Störenfriede sind jetzt am allerwenigsten erwünscht." Beipflichtend residierte Pikachu mir zuliebe auf Rockos Schulter. Unentschlossen schob ich eine Erbse am Teller mit der Gabel hin und her. „Du bist von den gut gemeinten Ratschlägen bestimmt erledigt..." Langsam hob ich meinen Kopf und wagte einen Blick zu ihm zu werfen. Dann schälte ich eine weichgekochte Babykarotte.
„Emma, es liegt in deiner Verantwortung, ob du Sheinux grausam unter Schmerzen sterben lässt, oder ob er friedlich entschlafen soll." Die Ehrlichkeit in seinem Munde scheuchte die Angst in mir hoch. Eilig blinzelte ich die Tränen aus meinem Augenwinkel. Eine verfing sich in meinen Wimpern und tropfte betulich mit einem kling auf den Teller. Seine Absichten waren nie und nimmer richtend, tröstete ich mich.
Mit einem letzten dankenden Blick und seinem Rat in meinem Herzen tragend, setzte ich meinen Plan in die Tat um. Ein wohltuender Spaziergang würde reichen, um meinen Kopf zu lüften.
Meine Fußsohlen schienen nicht in Schuhe gekleidet auf Pflaster zu treffen. Vielmehr fühlte sich jeder Schritt an, als würde ich barfuß auf glühende Kohle steigen. Meine Lungen konnten mein viel zu hohes Tempo kaum ausgleichen. Jeder neu geschöpfte Atemzug brannte wie ein Lauffeuer bis in jeden winzigsten Winkel meiner Lungenflügel. Häuserreihen zogen rasch an mir vorbei, sodass ich das ländliche Flair, der diesen Ort so berühmt machte, erst gar nicht auffasste.
Wut trieb mich, wie eine knallende Peitsche eine Herde, voran. Die harschen Worte, die zwar in buntes Bonbonpapier gewickelt über die Lippen der Schwester zu mir gefegt wurden, schürten nicht minder meinen Hass. Warum musste sie so ehrlich mit Sheinux' Zustand sein? Warum konnte sie keinen Hoffnungsschimmer funkeln sehen? Es gab medikamentöse Abhilfe, sie war nur nicht fertig. Sheinux würde auf ein Leben verzichten müssen, wenn wir dessen ein Ende setzten.
Schlagartig drosselte ich meine Zügigkeit. Und das nicht nur wegen der Menschen, die sich am Hauptplatz tummelten. Mit einem Stechen in der Seite kam ich zum Stillstand. All meine übrigen Sinne, versuchten die Umgebung zu erfassen.
Aus dem großen Springbrunnen in der Mitte des Platzes, tranken Vogelpokémon. Muschelkalkiger Pflasterstein mündete vom Brunnen weg, bis zu den beginnenden grünen Flächen des Parks. Den Saum zierte im regelmäßigen Abständen Bänke, auf denen Besucher an ihrem Eis schleckten oder sich heiter über Gott und die Welt unterhielten. Kinder spielten am frisch gemähten Rasen Fangen. Die Kirchenturmuhr schlug zehn.
Eine frohsinnliche Atmosphäre webte sich um jene Herzen, die durch den Park und die Gassen trödelten. Die Fröhlichkeit zog wie ein Akteur über den Hauptplatz, tippte jedem an die Schulter und teilte ihre Unbeschwertheit mit den Bürgern. Irgendwann bot sie auch mir die Hand an, aber mit meiner Laune, fühlte ich mich fehl am Platz. Ähnlich einem grauen Fleck im regenbogenfarbenen Ort.
Langsam ließ ich die Luft wieder entweichen. Hastig strich ich mit dem Finger über meinen Mundwinkel, wischte meine kaltfeuchten Hände an meiner Hose ab und vertuschte sie in den Taschen meiner Jacke. Wie ein Schatten huschte ich an Menschengruppen vorbei und manövrierte mich aus der Ortschaft hinaus, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen.
Konnte Sheinux' Leben gerettet werden? Seine klagenden Wunden konnten doch mit ausreichender Medikation in den Griff gebracht werden. In einem halben Jahr kann vieles passieren. Was ist, wenn bis dahin die notwendige Arznei erfolgreich fertiggestellt wurde? Meine Gedanken spannten sich immer weiter in diese Naivität, dass es eine Wendung für Sheinux gab.
„Hey!", schallte es. Galt das mir? „Hey! Du mit der roten Stoffjacke und dem roten Zopf!"
Ich wirbelte auf meinen Sohlen herum, machte den Friedenstörer prompt ausfindig. Nur ein Fußtritt trennte mich von der reinen Natur. Ein junger Mann, mit grünem langem Haar und treuergebenen blauen Augen, hielt in der Begleitung eines Mädchens vor mir. „Kann ich behilflich sein?", murmelte ich. Das Pärchen schien über meinen missfälligen Ton nicht weniger überrascht als ich selbst. Verlegen räusperte ich mich. Das Entsetzen ließ den Burschen aber trotzdem nicht los.
„Dein Herz... es ist so vernebelt und schwer. Warum bist du so in tiefer Trauer?" Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Ich ging auf Distanz. Mit einer warmen Umarmung hieß mich die Natur willkommen. „N", mahnte ihn das Mädchen durch zusammengebissene Zähne, „du fällst mit der Tür ins Haus. Das haben wir nicht abgemacht!" Jeder mit gesundem Menschenverstand würde widersprechen. Mein Mund blieb versiegelt und anstelle die Flucht zu ergreifen, schwieg ich die beiden an.
„Darf ich um deinen Namen fragen?", wagte der Fremde dreist die Stille zu unterbrechen. „Wir sind N und Emily." Ehe ich die Hand vor den Mund schlagen konnte, schlüpfte mein Name über meine trockenen Lippen. Reue hockte sich auf meine Schulter. Ich knirschte mit den Zähnen und warf den Riegel vor mein ungezähmtes Mundwerk.
„Was der grünhaarige Freak eigentlich sagen wollte, war, dass du ziemlich traurig aussahst, als du an uns vorbei geschloffen bist. Wir wollten uns versichern, dass du in Ordnung bist." Nickend stimmte ich zu.
Es ist deiner Obhut überlassen, ob du Sheinux grausam unter Schmerzen sterben lässt, oder ob er friedlich entschlafen soll. Rocko beehrte mich nicht mit seiner Anwesenheit und spukte trotzdem in meinem Kopf herum.
N setzte zum Widerspruch an, doch Emily zerrte an seinem weißen Hemdärmel und wies ihn mit einem belehrenden Blick zurecht. „Schönen Tag noch", wünschte ich und setzte meinen Rundgang fort.
Schweres Herzen war ich mir meiner Entscheidung bewusst.
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