Kapitel 10

„Vergangene Nacht löste sich eine kilometerlange Steinlawine von einem Hang. Diese blockiert nun den Verbindungsweg zwischen Ewigenau und Erzelingen. Teile des Fahrradweges wurden beschädigt und müssen saniert werden. Die Aufräumarbeiten beginnen heute Mittag und werden die nächsten drei Wochen andauern. Der Fahrradweg ist bis auf Weiteres gesperrt, verletzt wurde glücklicherweise niemand."
Rocko widmete sich wieder dem Tagesblatt, nachdem die Reporterin zu weiteren Neuigkeiten wechselte. „Dann hat sich die Abkürzung wohl erübrigt." Er spülte sein Stück Brot mit seinem Tee nach. „Wir müssen über Flori gehen." Ich lehnte mich zurück und aß seelenruhig mein Müsli weiter. „Außer es gäbe einen Grund, die drei Wochen in Erzelingen zu verbringen. Deine Entscheidung", fügte er hinzu, nachdem ich keine Antwort hören ließ.
Über den Rand seiner Zeitung warf er mir kurz einen Blick zu und ich verneinte. In den drei Wochen wären wir auf gröbsten Umwegen schon längst in Ewigenau. Aus Erzählungen und von Postkarten her war ich über die Schönheit Flori gut bewandert. Die Landschaft schien dort wie einer Leinwand entsprungen.
Ich musste mich sehr beherrschen, nicht in einen Freudentaumel zu verfallen. Endlich bot sich mir die Möglichkeit, die Natur in der Gegend Floris hautnah zu erleben. Mein Vater nahm mich zwar gelegentlich auf seine Kurztrips mit, aber dort schafften wir es nicht gemeinsam hin.

Staralili flog voraus. Beschwingt segelte er über unseren Köpfen hinweg und ließ mich mit einem Gefühl der Sehnsucht am Boden zurück. Das unwiderstehliche Gefühl einen Seufzer auszustoßen, stichelte mich schon eine Weile, bis ich mich dem schließlich hingab. Der Wind fing eine Melodie auf und trieb sie so leise zu mir, dass ich sie mir fast einzubilden vermochte. Fast unhörbar summte ich mit. Sehr spät realisierte ich, dass mir die Melodie schwer vertraut war. Das Lied lag mir so leicht wie eine Daunendecke auf den Stimmbändern, dass ich sie einfach weghüsteln konnte, wenn mir drum lieb war.

Ich dachte mich zu täuschen. Aber auch Rocko schnappte sie auf. Staralili zwirbelte sie spielerisch die Federn und sie trug ihn wie von einer Wolke eingehüllt ihrer Quelle entgegen. Wir folgten beiden. Jeder Schritt fiel mir schwerer als das Lied intensiver wurde und Unbehagen mein Gesichtsausdruck zeichnete. Schon längst konnte ich die vertraute Tonfolge mit einem Geniestreich meiner Fantasie rechtfertigen. „Hörst du dieses Volkslied?"
Wir wanderten noch einige Meter, vermachten dem Wanderpfad der stillen Natur, die uns gewichen war, um ihr ja keine Schikane zu tun.
Auf einem Felsplateau saß ein junger Mann. Genüsslich horchte er der verklingenden Melodie, die er mit geübten Griffen seiner Piccolo entlockte.
Entrüstet heulte der Wind, als sich die letzte Note gänzlich verabschiedete. Lässig baumelten seine Füße über uns. Würde ich die Arme nach den Füßen strecken, könnten meine Fingerspitzen seine Schuhsohle berühren. Dies unterließ ich, um Peinlichkeiten zu vermeiden.
Er war mir gänzlich fremd. Worin er ein Talent zu hegen schien, war es mit seinem Instrument mein Pokémon zu verzaubern und zu ihm zu locken. „Das Lied scheint nicht nur euch Geschöpfe, sondern nun auch die Trainer in ihren Bann zu ziehen." Er beugte sich über die Kante, mein Staralili auf seiner Schulter und ein verwegenes Lächeln im Gesicht tragend. Über seine Lippen schlüpfte ein sachtes Lachen.
Vor Schreck ging ich leicht auf Distanz. Woher wusste er von Rocko und meiner Präsenz, wo er zunächst doch geradeaus blickte? Er rutschte an den Rand, stützte sich kurz ab und glitt in die Tiefe, bis er mit den Beinen festen Boden ergriff.
Wortlos, aber mit interessierten, wachsamen Augen tilgte er seine Schulden. Staralili flatterte mit raren Flügelschlägen auf seinen rechtmäßigen Platz zurück. „Du hast da zwei gesunde Pokémon herangezogen", meinte der Fremdling, nachdem er auch Pikachu bis in die Wurzel unter die Lupe genommen hatte. „Es gibt noch einen Dritten im Bunde", erklärte ich, „der Kleine hat Gitterbettsperre." Im strohblonden Haar meines Gegenübers, verhedderten sich Sonnenstrahlen. Ein aufrichtiges Interesse lag in seiner Mimik, die prompt von einer frappierten abgefangen wurde. Schon während sich seine Hand nach meiner streckte, streifte er sich seinen Handschuh ab, um sich mir als Ricky vorzustellen.
„Du bist ein Ranger im Dienst", stellte ich beim Betrachten seiner rot-weißen Montur fest. Die Abenteuerlust blitzte für eine Sekunde in seinen Augen auf. „In der Tat. Ich machte gerade Rast. Vorhin habe ich eine Bidiza-Familie in der Natur ausgesetzt. Die Mutter wurde krank, man darf aber das Muttertier nicht vom Nachwuchs trennen, ansonsten nimmt es sich dem Kind nicht mehr an." „So eine komplette Familie einzufangen, erfordert sicherlich viel Fingerspitzengefühl." Ricky zuckte mit den Schultern und entschloss sich dann doch zuzustimmen. „Hängt von den gegebenen Umständen ab." Die Gelassenheit in seiner Art faszinierte mich auf besondere Weise. Ricky schien mit ganzem Herzen bei seiner Arbeit zu sein.
„Was treibt euch beide in diese menschenleere Gegend?" Von Rocko und mir flankiert, begleiteten wir Ricky ein Stück seines Weges. Seine ärmellose, blutrote Weste flatterte im Lüftchen. Unter dem Stück Stoff lugten die Ärmel seines schwarzen T-Shirts hervor. „Emma hat neulich ihren ersten Orden errungen", ließ sich Rocko auf den Smalltalk ein.
„Du strebst also danach, in der Liga zu kämpfen?" Ricky richtete die Frage an mich. „Irgendwie schon", murmelte ich kühn. Ricky lachte herzlich. „Irgendwie?", neckte er mich. „Ja, schon." Ein freches Grinsen huschte über sein Gesicht und entlarvte ein Grübchen an seiner rechten Wange. „Jetzt visiert ihr Ewigenau an?" „Ja, der schnellere Weg ist leider aufs Weitere gesperrt." „Das mit der Steinlawine habe ich mitbekommen. Ich kann euch ein Stück mitnehmen", bot uns Ricky an. „Ich steuere denselben Kurs an." „Womit?", wunderte ich mich und beherzigte reichlich spät, dass die Worte hörbar waren.
„Hiermit." Der Ranger deutete stolz in eine Richtung, wo am Beginn eines Forstweges zwischen Geröll und Sträuchern ein Wohnmobil parkte. „Du schipperst mit einem Wohnmobil durch die Weltgeschichte?" Ich bündelte mein Erstaunen in eine Frage. „Es ermöglicht mir Flexibilität, hält aber das Versprechen eines einsamen Lebens ein. Da ich nirgendwo eine fixe Niederlassung habe, kann ich heute in den Bergen, morgen schon wieder am Meer sein." Wonnevoll tätschelte er seinen Wagen.
So schäbig der Karavan von außen auch aussah, die Inneneinrichtung war modern und auf Hochglanz poliert. Rechts zur Tür hinein, befand sich die Fahrerkabine mit einer wuchtigen Windschutzscheibe. Zu meiner linken ein kleines Bett, WC-Kabine und ein Schrank, sowohl auch eine Miniaturküche mit einer Eckbank und Tisch. „Das geniale an der Küchenbank ist die Verstellfunktion. Drückt man den Tisch nach unten und füllt die Lücke mit den übrigen Lehnen, so hat man hier noch ein Gästebett", erklärte Ricky, als wir kaum fähig waren, etwas Sinnvolles beizusteuern. Er warf die Tür zu und ließ sich hinter das Lenkrad nieder. Er drehte den Schlüssel in seiner Zündung und startete den Motor, der mit lautem Gebrüll zum Leben erwachte. „Anschnallen. Es könnte holprig werden." Er warf uns über seine Schulter ein Lächeln zu. Rocko leistete ihm am Beifahrersitz Gesellschaft, während ich den Esstisch präferierte.

Irgendwann wurde nach stetigem tuckern das Wohnmobil langsamer, bis es gänzlich stoppte. „Zeit für eine Pause", teilte Ricky uns mit. Er kroch zu mir zurück, dicht gefolgt von Rocko, welcher sich neben mir in die cremefarbenen Polster sinken ließ. Ricky schaffte Getränke und Gläser aus dem heran, füllte sie randvoll mit Saft und glitt auf die Bank. „Angenehm, Gesellschaft zu haben", Ricky blickte abwechselnd zwischen mir und Rocko hin und her.
Einsamkeit war ein schrecklicher Kamerad. Ich konnte das gut nachvollziehen, würde aber nur ungern in seiner Haut stecken. Mittlerweile hatte ich das Stadium erreicht, indem mir Rocko an meiner Seite fehlen würde, wenn er nicht mehr da wäre.
„Hast du keinen Partner zur Seite gestellt bekommen?" Schmerz blitzte unwillkürlich in Rickys Augen auf. Vor Schreck rutschte ihm sein Glas aus der Hand und der Inhalt überschwemmte den ganzen ahornfarbenen Tisch. Ricky fluchte leise. Rocko schien dieses Aufleuchten in den Augen übersehen haben. Er grapschte flink nach einem Küchentuch und legte sie auf die Sauerei. In Sekundenschnelle war das Tuch vollgesogen.
„Ich entsorge es kurz." Der Ranger ließ es in einem Bastkorb verschwinden. Plötzlich wirkte er kopflos und seine Bewegungen kantig. Teile von mir fanden sich in seinem Verhalten wieder. Ich reagierte gleich, wenn ich ein Thema umgehen wollte.
„Wie bist du zum Entschluss geraten, Ranger zu werden?", sprang ich also ein. Sichtlich entspannter widmete er sich der Frage. „Ich war wie du auf Reise, nachdem ich die Trainerschule absolviert hatte. Auf meinem Streifzug durch Sinnoh, bin ich vielen in Not geratenen Pokémon in der Wildnis über den Weg gelaufen. Es war ein großartiges Gefühl, die Wesen zu retten und aufzupäppeln. Da stand es schon bald fest, welchen Weg ich einschlage. Über eine Annonce bin ich auf das Studium gekommen. Fleetburg warb für den Ausbildungszweig, ich habe mich kurzerhand informiert, mich inskribiert und den Zulassungstest bestanden. Meiner Ausbildung stand also nichts mehr im Wege. Das vierte Jahr war das abschließende Praktikumsjahr. Jeder hat einen erfahrenen Ranger zur Verfügung gestellt bekommen und durfte mit ihm Aufträge erledigen. Mein Mentor war mit Abstand der Jüngste, aber überragte sogar den Ältesten mit seinem Wissen. Er lehrte mich so vieles. Zwischenmenschlich zu handeln und Empathie zu zeigen, waren laut seiner Devise der Schlüssel zum Erfolg. Er wusste auf jede Frage eine schlaue Antwort. Für mich war er ein riesiges Vorbild." Ricky schwelgte in Erinnerungen.

Abends hatten wir die maue Steppe hinter uns gelassen. Die seichten Hügeln markierten den Beginn von Flori. Am Fuße beschlossen wir zu nächtigen. Rasch wechselte ich zu bequemerer Kleidung und wusch Hose und T-Shirt. Die nasse Kleidung hängte ich zum Trocknen auf eine Leine, die ich provisorisch zwischen den Außenspiegel und einem dürren Baum spannte.
Ausgeglichen ließ ich mich neben Ricky in einem Campingstuhl fallen. Er nahm seine Piccolo zur Hand und begann die Melodie zu spielen. Sie war mir nicht unbekannt und sie bedeutete mir mehr als alles andere. Die Noten waren so schwerelos, leicht und wunderschön und glichen einem Tagtraum, den man ewig hinterherjagen wollte. Sie wogen mich jedoch trotzdem in tiefe Traurigkeit. Nur wenige erinnerten sich an dieses Volkslied. Für viele hatte es keine Geltung, wobei der Wert für mich einer Goldgrube glich. Diese tausend Erinnerungen weinte mein Herz wie Tränen aus.

Die Wolken waren in zarten orange und pink Tönen gekleidet. Wie Zuckerwatte spannten sie sich über das Himmelszelt und die Farbmischung erweckten den Eindruck, als hätte jemand willkürlich  mit Straßenkreide über den Himmel geschmiert. Beeindruckt beobachtete ich die Driftlon und Drifzepeli, die im Farbenspiel fast untergingen. Sorglos trieben sie vor sich hin. Selten hatte ich einen so schönen Anblick gesehen. Mein Dad setzte sich zu mir ins Gras. Wie bei jedem Trip, hatte er seine Piccolo dabei. „Spielst du etwas?" „Ja. Mein Großvater unterrichtete mich in diesem Instrument und dem Lied. Ich würde sie nur ganz besonderen Menschen weitergeben. Als Erbstück. Das Volkslied ist so gut wie in Vergessenheit geraten." Er entlockte dem Piccolo zarte Klänge. In diesem Moment hatte das heimliche Versprechen, sie niemals loszulassen, meinen Segen.

Das Lied, welches Ricky vollendete, stammte eins zu eins aus meinen Erinnerungen. Ich klammerte das Medaillon fest in meiner Faust und eine Träne entfloh meinem Augenwinkel. Normalerweise weinte ich nie, wenn ich an meinen Vater dachte. Die Musik musste ihren Teil dazu beitragen. Der tintenfarben befleckte Abendhimmel erinnerte mich an die fliegenden Pokémon aus meiner Fantasie. Was war nur los mit mir?
Damit meine miserable Laune nicht doch aufflog, beschloss ich der Sache bei einem Spaziergang nachzugehen. „Ich vertrete mir die Füße." Schwungvoll erhob ich mich. „Ist es dafür nicht schon zu düster?" „Pikachu ist bei mir." Ohne Rücksicht auf Verluste, schlurfte ich los.
Wieso dachte ich in letzter Zeit so furchtbar oft an Dad? Woher kamen diese vielen Verbindungen? Warum ausgerechnet jetzt? War es tatsächlich Hoffnung, die da in mir auflebte? Womöglich sollte sich sie schleunigst im Keim ersticken, denn es war sowieso sinnlos zu suchen. Dad könnte auf der ganzen Welt sein. Ich kickte einen Tannenzapfen weit nach vorne. Tränen hinterließen ihre Spuren auf meiner Wange, sammelten sich am Kinn und tropften dort auf den Waldboden. Könnte er gar tot sein?
Pikachu begann argwöhnisch zu schnuppern und sprang von meiner Schulter. Er war nicht meinetwegen aufgeregt, aber etwas schien ihn aus seiner stoischen Ruhe zu bringen, die mich sooft beruhigte. Vielleicht hatte seine Nase einen Geruch aufgefangen, den er versuchte zuzuordnen? Widerwillig setzte ich mich auf einen Baumstumpf und richtete mein von Tränen benetztes Gesicht auf meine Schuhe. Pikachu richtete Worte an mich, doch ich blendete ihn aus. Energisch zupfte er an meinem Shirt.
Zaudernd betastete Nebel meine Schuhspitze und schlängelte sich um meine Knöchel. Er floss neben mir über den Baumstamm wie Wasser über eine Kante und sickerte zu Boden. Ich ließ meinen Blick schweifen, aber der Dunst war faustdick und legte meine klare Sich lahm. Kälte lief mir den Rücken hinab.
„Wir sollten umkehren", bestimmte ich. Die Dunstglocke bereitete mir Unbehagen. Woher schlug sie so schnell auf?
Kurz glühte etwas vor mir auf, verflüchtigte sich so schnell wie es kam. Diesen Schimmer hätte man sich genauso gut einbilden können, spaltete meine Wirklichkeit wie ein Komet einen sternenbesetzten Nachthimmel.
Vor meinen Augen verfärbte sich der Nebel roséfarben, als hockte jemand in den Kronen der Bäume und kippte Lebensmittelfarbe über den Dunst. Aus allen vier Himmelsrichtungen schossen tausende stecknadelkopfgroße Sternschnuppen in die Mitte der winzigen Lichtung. Das grellweiße Licht bohrte mir fast die Augen heraus. Verzweifelt versuchte ich das Licht mit einer Hand abzuschirmen, dass mich wie der direkte Schein einer Taschenlampe blendete. Die Schnuppen sammelten sich, reichten sich ihre Hände und verschmolzen zu einer fußballgroßen grellen Kugel. Kaum vermochte ich sie zu betrachten, aber sie brannte in meinen Augen, als sähe ich zu lange auf eine Schneedecke, die das Sonnenlicht zurückwarf. Das Helle dämmte sich.
Das in Nebel gekleidete Etwas beäugte mich bis ins Kleinste. Ich merkte wie ich es ihr gleichtat. Fragile Energieblitze ließen die Masse erzittern, signalisierten Leben. „Pikachu? Behutsamkeit hat oberste Priorität." Doch die Elektromaus war beim Anblick der Kugel in Versunkenheit geraten, dass sie für mich keine Beachtung mehr übrig hatte. „Pikachu?" Er zuckte nicht einmal mit einer Wimper. Reglos verharrte er in seiner starren Position.
Das Energiebündel starrte mich an, aber im Gegensatz zu Pikachu, blieb ich Herr meiner Sinne. Anscheinend reizte es die Tatsache, mich nicht unter seine Fittiche zu bekommen, und rückte bedrohlich näher. Instinktiv trat ich Schritte zurück, verfing mich in einer Schlingpflanze und fiel.
Die Kugel packte die Gelegenheit am Schopf und jagte auf mich zu. Ich wollte Schreien, aber meiner Kehle entwich nur ein ersticktes Quieken. Verteidigend zog ich die Hände über den Kopf zusammen, wartete bis Schmerz einsetzte, aber keiner kam. Verschonte es mich? Tötete es doch nicht willkürlich?
Dann spürte ich Eiseskälte von jener Stelle ausgehend, an der die Energie auf meine Haut traf und durch mich durchstolperte. Meine Finger gefroren. Sie erreichten ein Stadium, in dem ich mir sicher war, sie würden bald abbrechen. Gemütlich wanderte das Eis in meine Handfläche, über Arme zu den Schultern und verbreiteten sich von dort im ganzen Körper. Es glich einer unausweichlichen Tortur. Ich würde erfrieren.
Ein vermeintlich letztes Mal schlug ich meine Augen auf. Wo einst der Wald war, herrschte nun pure Schwärze. Als das Eis mein Herz erreichte und ich mich dem Unausweichlichen hingab, verpuffte das Kalte zu warmen Dampf und stieg meinen Rachen hoch. Schlagartig beruhigte ich mich, als hätte man mir Beruhigungsmittel injiziert. Blut rauschte in meinen Ohren. Das hier war nur die Ruhe vor dem Sturm.
Ein Pochen. Es klang wie Hammer auf Holz, raste ein Güterzug auf mich zu, doch ich konnte mich von den Gleisen nicht entfernen. Kurz vor mir, neigte sich das Geräusch in eine Kurve und brauste in einem millimeterabstand an mir vorbei, und löste sich hinter mir in Luft auf.
Meine Schuhe klebten am Boden fest. Ich kam weder vor noch zurück. Ich streifte gerade noch rechtzeitig meine Schuhe ab, ehe mich ein Zischen eine hundertachtziggrad Wendung vollführen ließ. Eine Brise trug sie in weite Ferne. Meine nackten Sohlen berührten die eiskalte, glatte Fläche unter mir. Über mir breitete sich der dumpfe Klang von festem Schuhwerk auf Plastikboden aus. Duckend wich ich aus, aus Angst zertrampelt zu werden.
Der Boden erzitterte und riss mich aus meiner Balance. Verzerrt zeigte sich unter mir ein Szenario ohne Audioschnitt, jedoch verblasste es, bevor die Bilder meine Netzhaut berühren konnten. Stimmen zogen auf. Ein Murmeln wuchs zu unverständlichen Worten, die ich zwar vernahm, aber deren Bedeutung nicht einschätzbar waren. Der Schein einer Taschenlampe richtete sich auf mich und ich rollte mich zur Seite, ehe sie mich erwischte. Die fremden Stimmen kreisten mich ein, eskalierten zu barschen Forderungen, die unerfüllt blieben. Und dann rann Pech die Wände zu meiner Seite herab. Pech, dickflüssig und zäh, färbte meine Wahrnehmung noch schwärzer, als sie bereits war.
Aus meiner Brust schlüpfte der roséfarbene Energieball. Ich schöpfte Atem, als hätte ich viel zu lange die Luft anhalten müssen. „Bring mich fort von hier!", brachte ich über meine blauen Lippen.
Das hier war weit von jeglicher meiner Visionen entfernt. Solch Situationen vermochte ich nicht einmal zu erträumen. Meine Beine gaben nach. Die Stimmen kehrten wie Ungeziefer aus ihren finsteren Löchern zurück, flüsterten triviale Namen Fremder und dann meinen. Ich presste mir die Hände an die Ohren. Die Intensität überforderte meine Sinne. Ich fürchtete, einen Kontrollverlust zu erliegen, bis ich plötzlich nur mehr das Rauschen des Blutes in meinen Ohren und den eigenen hechelnden Atem wahrnahm.
Dort, wo sich Pech zu einer Lache sammelte, fächerten sich die strammen Wurzeln der Bäume. Ein Hoothoot sang leise sein Lied für den Mond. Der Nebel war weg, hinterließ keinen Streif als Hinweis, jemals da gewesen zu sein.
Pikachu sprang auf seinen rechtmäßigen Platz. Ich erschrak so sehr, dass der Ahnungslose mit einem Purzelbaum von meiner Schulter kullerte. Ich strich mir mit beiden Händen über mein Gesicht und putzte mir dann die Tannennadeln von meiner Hose.
„Was oder wer war diese Kugel?", fragte ich. Die Vernunft schien allmählich aus ihrem Winterschlaf zu erwachen. Pikachus Ohren zuckten unwissend. Meine Worte ließen ihn Einkehr halten, aber der konnte es nicht nachvollziehen, worauf ich abzielte. „Die Kugel ... aber ... du ... du warst doch dabei!" Schweiß stand auf meiner Stirn. Mein Kopf brummte. Zwischen meinen Zehen spürte ich das taunasse Moos. Direkt neben mir standen meine Schuhe.
Fassungslos lief ich zum Wohnmobil. „Ich brauche Schlaf", redete ich mir den lieben langen Weg lang ein. Die Ereignisse des Tages bewegten mich viel zu sehr. Vielleicht war ich deswegen übergeschnappt und ein Hirngespinst entwickelt, dass sich so real anfühlte?
Ricky saß am Feuer. Neben ihm entdeckte ich Rocko, der im Campingstuhl döste. „Du bist ganz blass, Emma. Ist alles okay?" „Hab nur ein Gespenst gesehen", scherzte ich. In Rickys Gesicht zuckte kein Muskel.„Es liegen anstrengende Tage hinter mir. Nach einer Mütze schlaf, bin ich wiederhergestellt."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top