9. Botengang
Wie jeden Tag verließ Theo zusammen mit Edgar und Doro die Schule. An diesem regnerischen Nachmittag wollten die drei nur schnellstmöglich das schützende Haus der Bolcas erreichen.
Seit Elena verschwunden war, war Doro jeden Tag dort. Theos Mutter hatte Mitleid mit dem Mädchen. Heidi behandelte die Kleine schon wie eine Tochter.
Ohne Rücksicht auf seine Stiefel latschte Theo mitten durch die Pfützen, wohingegen die Kinder wenigstens noch versuchten, ihre Schuhe trocken zu halten. Statt schnell nach Hause zu gelangen, wurde das Trio auf dem Weg von einem sonderbaren Mann in schwarzer Uniform beobachtet.
Bei dem Jugendlichen schrillten sofort alle Alarmglocken, als der Kerl in der Seitengasse auf sie zukam. Er erkannte die Uniform und die schwarzen Haare; das war der Typ, der am Marktplatz großmächtig Elenas Verfolgung bekanntgab. Dieser herzlose Bastard!
Theo griff die Kinder an den Händen und schleifte sie durch die Gassen. Nach Edgars Protest schob Theo vor, dass sie schneller gehen müssten, um nicht völlig durchnässt zu Hause anzukommen.
Panisch warf er seine Blicke von links nach rechts und wieder nach hinten. Wo war dieser schwarze Mann jetzt? Offenbar hatte er ihn abgehängt. Erleichtert seufzte Theo aus und verlangsamte seinen Schritt. Doch plötzlich kam der düstere Kerl frontal direkt auf die drei zu. Theos Herz raste, als eine Begegnung unausweichlich wurde.
"Was will der von mir?", flüsterte er, was jedoch vom Regen übertönt wurde.
Doro erhob freundlich eine Hand zum Gruß: "Hallo Leutnant!"
Statt davon zu laufen ging das Mädchen schnurstracks zu diesem Mistkerl.
Theo wusste in dem Moment nicht, wie ihm geschehen war. Er wollte schnellstmöglich fliehen und die Kleine lief ins offene Messer?
Der Leutnant, wie Doro ihn nannte, beugte sich zu ihr und begrüßte sie.
Der Jugendliche belauschte das Gespräch der beiden: "Hey Doro, wie geht's Karpador? Ist es schon gewachsen?"
Das wurde ja immer noch schöner! Der Typ wusste sogar von Karpador? Woher? Und wieso nahm er es der Kleinen nicht weg? Jedes Pokémon für das Militär! So lautete das Dekret. Bei Elena hatte schließlich auch keiner nachgefragt, was für eine besondere Bindung die beiden zueinander hatten.
Doro deutete mit ihren kleinen Händen einen Abstand, von welchem sie vermutete, dass Karpador diese Größe mittlerweile erreicht hatte: "Ja, es ist schon so groß!"
Theo platzierte sich hinter Doro, immer noch unwissend, was hier gerade passierte. Da sie aber keine Angst vor dem schwarzgekleideten Mann in Uniform hatte, sondern ihn stattdessen zu kennen schien, wollte der Junge hören, was der Leutnant von ihnen wollte.
"Der ist ja ganz schön gewachsen. Kümmere dich weiterhin so gut um ihn", ermutigte der Mann Doro bezüglich ihres Karpadors mit einem Lächeln.
Der schwarze Mann blickte nach oben zu Theo und erhob sich wieder auf dessen Höhe: "Ich nehme an, du bist Theo?"
Der Junge nickte und antwortete mit einer Gegenfrage: "Und wer seid Ihr?"
Der düstere Typ reichte ihm die Hand: "Leutnant Tristan Avila, Oberbefehlshaber von Ebenholz... Aber sag einfach Tristan."
Theo sah einen Moment lang auf die Hand seines Gegenübers. Er verweigerte den Handschlag und verschränkte demonstrativ die Arme. Wie könnte er jemandem die Hand reichen, der seiner Freundin das antat, was dieser Tristan ihr angetan hatte? Alles, was der Junge für diesen Leutnant übrig hatte, war Abscheu.
Er erhob schwere Vorwürfe: "Ihr jagt Elena... Wegen Euch ist sie weg und Ihr steht hier vor mir und reicht mir die Hand? Seid Ihr noch bei Trost?"
Tristan erhob seine Stimme zum Widerspruch.
Doch war Doro schneller und hakte ein: "Nein, der ist nicht böse, Theo. Der ist genau so dagegen mit den geraubten Pokémon."
Theos entstetzer Blick fiel vom Leutnant auf die Kleine und wieder zurück. Was ging hier nur vor sich?
Er stützte seine Hände in die Hüfte und wurde aggressiv: "Na das wird ja immer noch besser! Wann habt Ihr Doro denn für Euch gewonnen?"
Der schwarze Mann strahlte auch jetzt noch Gelassenheit aus: "Ich will dir alles erklären, aber wir müssen wo hin, wo wir ungestört sind."
Ob es da viel zu erklären gab?
Theo deutete ihm jedoch, dass er ihm folgen sollte: "Wir wollten eh grad heimgehen."
Angekommen vor der Haustüre entriegelte der Junge den Kindern die Tür und schickte sie ins Haus.
Er wandte sich mit verschränkten Armen zu Mister Avila und kniff die Augen zusammen: "Also, was hast du mir zu sagen und was willst du von Doro?"
Sein Gegenüber blickte sich skeptisch in der Gasse um.
Erst, als er sicher war, dass niemand lauschen würde, beugte er sich zu Theo: "Ich brauche Klamotten für Elena."
Eine Zornesfalte grub sich zwischen die Augenbrauen des Jugendlichen: "Du brauchst sie, um Elena mit dem Geruch aufzuspüren. Gibs zu!"
Tristan seufzte resigniert aus und winkte ab: "Nette Idee, aber aufgespürt haben wir sie längst, schon vor drei Tagen."
Noch bevor Theo los schreien konnte, erhob der Leutnant seinen Finger und mahnte zu Gehör: "Stopp! Kein Wort! Lass mich erklären." Wieder rollten Tristans Augen von links nach rechts, als er die Umgebung absuchte und wisperte dann: "Wir haben sie aufgespürt, aber sie ist immer noch frei, okay? Sie ist nicht im Kerker und Dratini ist auch bei ihr... Es ist nur so, dass ich ihr versprochen hab, Klamotten und Decken zu bringen. Immerhin wissen wir nicht, wie lange sie der Stadt noch fern bleiben muss."
Elenas Kumpel traute diesen wohlklingenden Worten in keinster Weise.
Er rollte die Augen und wisperte ebenso leise wie aggressiv zurück: "Ein Leutnant, der sich seinen Befehlen widersetzt? Willst du mich verarschen?"
Tristan erhob abwehrend seine Hände: "Es ist mir egal, was du denkst. Ich brauche aber trotzdem ein paar Sachen für sie."
Plötzlich öffnete sich die Haustür und Doro schaltete sich ein: "Dann geb ich dir alles für Elena mit, du wirst es ihr schon bringen."
Der blonde Junge blickte ernüchtert auf sie: "Was sagst du da?"
Die kleine Schwester von Elena zuckte mit den Schultern: "Wir verlieren ja nichts dabei. Es sind nur Klamotten. Und wenn es ihr helfen könnte, dann will ich es lieber versucht haben, als sie im Stich zu lassen."
Über diese Worte staunte Theo nicht schlecht. Mit seinen Zweifeln gegen Tristan stand er jedenfalls alleine, weshalb er abwinkte: "Na dann mach was du willst, Doro. Du wirst es schon wissen."
Der schwarze Mann wandte sich zu dem Mädchen: "Wollen wir dann gleich gehen und du gibst mir die Sachen?"
Diese nickte bejahend.
Theo konnte Doro nicht verstehen. Wie selbstgefällig dieser Leutnant war, als er ihre Zustimmung hatte. Dieses hinterhältige Lächeln; freundlich verpackt auf seiner Visage. Doch was führte der Soldat wirklich im Schilde?
Zum Abschied wandte sich Tristan zu dem Jugendlichen: "Du musst mir natürlich nicht glauben, was das mit Elena angeht. Aber es wäre dennoch gut, wenn du mir eine Gelegenheit gibst, Vergangenes wieder gut zu machen. Adieu."
Ohne einen Gruß blickte Theo zur Seite und verzog sein Gesicht zu einer wütenden Grimasse. Der Regen durchdrang mittlerweile seinen Umhang, sodass er ins Haus flüchtete. Einen letzten Blick warf er auf die beiden, bis er die Tür hinter sich schloss.
Während Doro alles zusammensuchte, wartete Tristan vor der Tür des Waisenhauses. Sie kramte Umhänge, Röcke und Tuniken zusammen und legte diese sauber im Rucksack ab. Vor der Tür übergab die Kleine diesen an den Leutnant, der das Gepäck mit einem Lächeln in Empfang nahm.
Eine Sache bedrückte ihn noch: "Einen Schlafsack oder sowas hat deine Schwester nicht zufällig?"
Doro schüttelte den Kopf: "Alles, was wir haben, ist unser Bettzeug von hier. Das alte Zeug ist immer noch in unserem Haus, aber da komm ich nicht rein. Es steht leer und erst, wenn Elena alt genug wäre, hätten wir wieder zurück dürfen. Aber jetzt muss ich warten, bis ich erwachsen bin."
Mit achtzehn galt die Volljährigkeit und erst ab dann konnten die Waisenkinder über ihr Leben bestimmen. Achtzehn; wie viele nach dieser Ansicht noch Kinder waren, als sie auf dem Schlachtfeld starben?
"Ist gut, Doro, das reicht auch. Vielleicht kann ich ja noch was auftreiben", meinte er, erkundigte sich dann aber weiter: "Eine Frage noch; wo ist denn euer altes Haus?"
Die Lacaors wohnten nicht im Stadtkern. Das Haus war etwas außerhalb, wo alles schon grüner wurde. Tristan folgte der Wegbeschreibung von Doro in Richtung Nordwesten. Er erreichte das verlassene Haus am westlichen Stadtrand. Die Familie hatte sogar einen Garten, was für eine eingekesselte Stadt sehr edel war.
Wie erwartet war die Holztüre verriegelt. Daran hatte der junge Kerl jedoch gedacht und einen Dietrich mitgebracht. Nach ein wenig Gerangel mit dem Schloss stand er im Haus; dem ehemaligen Heim von Doro und Elena.
Wegen der Regenwolken fand sich kaum Licht in den Räumen. Für Tristan war es aber noch hell genug, keine Lampe entzünden zu müssen. So sah er sich im Erdgeschoss um. Der Boden und die Decke waren aus dunkelbraunem Holz. Die Wände waren weiß verputzt.
Rechts neben der Eingangstüre führte eine Treppe hinauf. Daneben stand eine Truhe an der Wand; über dieser waren Metallhaken für Umhänge angebracht. Nach dem Eingangsbereich führte ein Durchgang direkt ins Esszimmer. Ein länglicher Holztisch stand quer im Raum. Sechs Stühle mit Lederbezug komplettierten die Einrichtung.
Links ums Eck ging es in die Küche. Ein mit Feuer betriebener Ofen war an die Innenmauer geschoben. Ansonsten fanden sich allerlei Schränke für das Geschirr sowie eine Spüle.
Rechts vom Esszimmer fand sich das Wohnzimmer mit einem samtüberzogenen dunkelgrünen Kanapee mit passendem Sessel und rundem Tisch in der Mitte. An der Wand fand sich ein Bücherregal; also doch eine belesene Familie? Elena wirkte auf ihn nicht wie das, was man gebildet nennen konnte.
Die traurige Atmosphäre des einst belebten Hauses zog ihn in seinen Bann. All die verschwendeten und zerstörten Leben. Der junge Mann spürte einen Kloß im Hals, aber er vergaß nicht, weshalb er hergekommen war. Er wollte für die Deserteurin einen Schlafsack auftreiben. Das war seine Mission; wenigstens ihr Überleben sichern.
Er schüttelte die finsteren Gedanken ab und stieg die staubige Treppe nach oben, wo er drei weitere Zimmer fand. Die Eltern, der Sohn und die zwei Töchter; so stellte sich Tristan die richtige Aufteilung vor. Tristan durchsuchte jedes Zimmer und fand tatsächlich noch einen Schlafsack von Elenas Bruder. Es war ein Schlafsack aus seiner Militärzeit.
"Na wer sagt´s denn?", feierte er seinen Erfolg und stopfte seinen Fund direkt in den Rucksack.
Außerdem war da noch ein altes, in Glas gerahmtes Foto der gesamten Familie. Der junge Mann wusste nicht wieso, aber auch das packte er ein. Er verließ das Haus und verriegelte die Tür.
Müde trottete Tristan durch die Gassen. Seine Gedanken kreisten um die zerstörte Familie. Dass der Regen noch heftiger als zuvor schon auf ihn nieder prasselte, kümmerte ihn wenig. Das Wetter passte zu seiner Stimmung.
Aus reiner Sentimentalität wollte er Cecilias Stimme hören. Immerhin hatte er das Glück noch am Leben zu sein. Nur für wie lange? Er sollte seine Lebenszeit sinnvoller nutzen und sein Verhältnis zu seiner Lieblingsschwester, weil einzige Schwester, besser pflegen.
Mit all den Dingen für Elena kehrte er in sein Büro zurück und klingelte bei Cecilia durch.
Ein gutgelaunte Stimme begrüßte ihn: "Salve Trissi, lange nichts mehr von dir gehört."
"Woher wusstest du, dass ich...?"
Die junge Lady erklärte: "War nur so eine Ahnung, kennst du das? Die Art, wie das Telefon klingelt."
Tristan konnte sein Lachen nicht zurückhalten: "Kannst du das auch? Das gibt's nicht. Genau so ist es mir erst gegangen, als der General angerufen hat. Stell dir vor, es hat geklingelt und ich schwöre; das Telefon war aggressiv."
Cecilia konnte den General noch nie leiden: "Oh Ho-Oh, wenn der anruft, dann springt einen der Hörer fast direkt ins Gesicht. Der tolle großartige Hermann, hör mir mit dem Schwachkopf auf... Was wollte er denn von dir?"
Er seufzte und begann von vorne zu erzählen: "Ach, die Deserteurin hier. Ich weiß nicht, ob das in Johto schon die Runde gemacht hat, oder ob das mehr so ein kleines militärisches Geheimnis in Ebenholz ist. Jedenfalls ist vor fünf Wochen eine Jugendliche mit ihrem Pokémon geflohen, kurz nachdem das Dekret bekannt gegeben wurde."
"Ja, Vater hat mir davon erzählt. Er meinte irgendwas von Bürgeraufstand und sowas. Kennst ja sein Gerede. Viel Blabla und dass niemand hörig ist. Ich finde das jedenfalls klasse von der", bestätigte Cecilia und fügte alibimäßig an: "Also, dass sie... fast verhaftet wurde."
Die Gefahr, dass die Leitungen abgehört wurden, war allgegenwärtig. Das wusste auch seine Schwester. Zu gerne hätte Tristan ihr die Wahrheit über seine Hilfe bei der Haftvereitelung der Deserteurin erzählt. Er wusste, dass er von Cecilia die Bestätigung bekommen würde, das Richtige getan zu haben.
Zu gerne hätte er gebeichtet und sein Gewissen erleichtert. Aber nicht zu diesem Preis.
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