4. Abschied
Elena hörte, wie die Soldaten auf der anderen Seite des Tores schwer daran arbeiteten, dieses wieder zu öffnen. Panisch sprang sie auf. Sofort hetzte sie zum Wald, in welchem sie sich vor ihren Verfolgern in Sicherheit wähnte.
Etwa 200 Meter vor der Stadtmauer erreichte die Jugendliche die ersten Sträucher. Ein staubiger Weg fraß sich durch die Laub- und Nadelbäume. Würde man diesem Weg immer weiter nach Süden folgen, würde man irgendwann in Borkia ankommen. Nach 50 oder 100 Kilometern. So genau wusste Elena es nicht.
Natürlich blieb sie nicht auf diesem Hauptweg, wo man sie viel zu leicht hätte entdecken können. Die Jugendliche schlug den Weg ein in Richtung des Flusses, der an Ebenholz vorbei in den Wald hinein floss. Dort wollte sie hin, um Dratini den Einstieg in sein neues Leben so leicht wie möglich zu machen. Dort wollte sie Dratini aussetzen.
Das Mädchen rannte durch das Unterholz; das nachgebende Laub unter ihren Füßen wurde mit jedem Schritt aufgewirbelt. Einige irritierte Pokémon wie die grünen Käfer namens Raupy oder die Vogelpokémon Taubsi nahmen ihr Heraneilen wahr und flüchteten vor Elena.
Sträucher wucherten auf ihrem Weg. Immer wieder verfing sich ihr Rock an Dornen. In der Hektik riss sie gewaltsam daran, Hauptsache, sie kam so schnell wie möglich von hier weg.
Die Baumstämme waren auf ihrer Nordseite mit dichtem Moos bewachsen. Elena sah die Moosseite zu ihrer Linken. Zu ihrer Rechten waren die Bäume nur mit Rinde bewachsen. Sie war auf dem Weg nach Westen; dem richtigen Weg zum Fluss.
Zwischenzeitlich war die Jugendliche so weit gerannt, dass durch das Blätterdach der frisch austreibenden Laubbäume kaum noch Sonnenlicht drang. Taubsigezwitscher begleitete Elenas Weg. Und dann hörte sie es endlich; das Plätschern des Flusses.
Völlig außer Atem kam Elena an dem steinigen Ufer an. Das Moos hatte die Steine bereits komplett für sich vereinnahmt, sodass diese kaum noch als Steine zu erkennen waren. Da ihr Herz noch immer raste, setzte sich die Jugendliche auf einen Felsen, welcher aus dem seichten Wasser empor ragte und eine glatte Sitzgelegenheit bot.
Das Mädchen zog ihre dreckigen Stiefel aus und ließ ihre Füße im eiskalten Wasser baumeln. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich über ihre gesamten Beine dünne Schnittwunden zugezogen hatte, aus denen ein wenig Blut hervorquoll.
Elena warf einen Blick um sich. Nur sie, die Bäume und der Fluss. Bis hierher war ihr niemand gefolgt; noch nicht. Sie betätigte den Knopf ihres Pokéballs und Dratini materialisierte sich vor ihr im klaren Gewässer.
Der kleine Drache spritzte sofort mit dem Wasser um sich. Auch Elena bekam ihre Tropfen ab. Einmal im kühlen Nass war Dratini nicht mehr zu bremsen. Es liebte das Wasser.
Eine traurige wie ernste Stimme tönte aus Elenas trockener Kehle: "Dratini."
Mit seinen lilafarbigen Kulleraugen blickte Dratini treuherzig auf das Mädchen.
Sie riss sich zusammen und erklärte sachte: "Ich weiß nicht, ob du das mitbekommen hast, aber die Armee will alle zahmen Pokémon für den Krieg einziehen."
Elenas dunkelblaue Augen wurden glasig und sie blickte in den Himmel; den Himmel, der sich hinter dem Blätterdach zeigte.
Die Jugendliche brachte alle Tapferkeit auf, die sie in sich finden konnte: "Du weißt, warum ich dich hergebracht habe. Du weißt, dass sich unsere Wege trennen müssen."
"Draaa", gab das Pokémon mit heiserer Stimme von sich.
Auch seine Augen schienen überzuquellen. Mit einem Satz sprang Dratini neben Elena auf den Stein, legte seinen Kopf in ihren Schoß und schloss seine Augen. Es war, als wollte er damit ausdrücken, dass er sich keinesfalls von Elena trennen würde.
Das Mädchen begann Dratini an seinem Kopf zu kraulen, ganz behutsam und ruhig. Sie musterte ihren kleinen Drachen und prägte sich sein Aussehen ein. Niemals würde sie ihr geliebtes Pokémon - Marcos Pokémon - vergessen. Seine dunkelblaue Kugel auf der Stirn, seine lilafarbenen Augen, sein liebes weißes Schnäuzchen. Noch nicht einmal die hellblaue Narbe über seinem rechten Auge.
Elena spürte nur, wie heiße Tränen ihre Wangen hinunter flossen und auf ihre Beine tropften. Plötzlich schluchzte sie: "Du bist alles, was mir von meinem Bruder geblieben ist. Ich wollte dich nie. Ich wollte, dass er bei mir bleibt und lebt, aber ich hab ihm den Gefallen getan und mich um dich gekümmert. Ich hab dich in mein Herz geschlossen, wie ich ihn in mein Herz geschlossen habe. Aber jetzt..."
Sie verlor vollends die Fassung.
Die Jugendliche weinte eine Weile lang, bevor sie das sagen konnte, was sie sagen wollte: "Ich kann dich nicht bei mir behalten, Dratini. Die vom Militär nehmen dich sonst mit und lassen dich in der Schlacht sterben. Ich kann das nicht zulassen. Ich muss dich hier zurück lassen. Egal, was wir machen; unsere gemeinsame Zeit ist vorbei. Aber ich will, dass du lebst. Und deswegen musst du hier bleiben. Also wenn ich zurückgehe, dann bleibst du hier, damit dich niemand findet. Ist das klar?"
Elena erntete einen geknickten Blick ihres Pokémons. So einen traurigen Blick von Dratini hatte sie zuletzt gesehen, als ihr Bruder starb. Es brach ihr das Herz, ihren kleinen Drachen so sehen zu müssen.
Aber sie wusste, dass sie das Richtige tat. Die Jugendliche wusste, dass sich ihr Dratini niemals freiwillig aus ihrem Schoß erhoben hätte, sodass sie den Kopf des Pokémons vorsichtig anhob und auf die Seite legte.
Mit zittrigen Knien stand sie von ihrem Felsen auf und stand knöcheltief im Wasser. Elena griff ihre Stiefel und watete zurück zum Ufer, wo sie sich schnell anzog und noch einen Blick nach hinten riskierte.
Wehmütig sah Dratini dem Mädchen nach, auf dem Stein in die Höhe gereckt.
"Dratini", gab es kraftlos von sich.
"Bleib da, sonst stirbst du. Bitte Dratini. Bitte."
Das letzte Wort flüsterte Elena nur noch. Sie wandte sich von ihrem Pokémon ab und rannte davon.
Auf ihrem Weg zurück sah sie das Geäst nur an sich vorbei fliegen. Die Tränen rannen ihr über das ganze Gesicht und, durch ihr Tempo, bis hinter ins Genick. Elena verließen alle Kräfte. Ihre Beine knickten weg und sie landete im weichen Laub. Auf allen Vieren hockte sie auf dem Boden. Mit ihren Händen zerknüllte sie die Blätter, die unter ihren Fäusten knirschend zersplitterten.
"NEIN!"
Jetzt hatte sie den eigentlichen Nervenzusammenbruch. Bedingt durch ihren Schrei flatterte eine Horde Taubsi und vielleicht noch anderes Federgetier aus den Baumkronen davon. Das Gurren der Vögel drang sogar bis zu Elena durch, welche immer noch mit ihrem Schicksal haderte.
Womit nur hatte sie all das verdient?
Erst starb ihre Mutter, dann ihr Bruder. Ihr Vater war vor zwei Jahren vermutlich auch gefallen, sein Leichnam wurde aber nie gefunden. Für Elena war das Leben sowieso kaum noch lebenswert. Einzig für ihre kleine Schwester und für Dratini riss sie sich zusammen; eben für jene beiden, die noch ihre Familie waren.
Und jetzt kam der König und sein Kriegsrat mit irgendeinem bescheuerten Dekret, das sowieso nichts ändern würde, und wollte ihr Dratini auch noch wegnehmen.
In dem Moment empfand sie nichts weiter als Hass. Hass auf den König. Hass auf das Militär. Hass auf alle. Sollen sie doch alle verrecken! Eines Tages würde irgendjemand von diesen Bastarden ihren Hass zu spüren bekommen. Und die Rache würde ihre sein!
Elena schlug auf den Boden ein und stieß noch ein paar Schreie aus. Sie schlug solange zu, bis ihre Fingerknöchel aufgerieben und mit Blut und Dreck verschmiert waren. Erst, als sie zu starke Schmerzen hatte, hörte sie auf.
Der Gedanke, dass sie eines Tages den König auf diese Art und Weise verhauen würde, machte ihr wieder ein wenig Mut. Ein bösartiges Grinsen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Die Jugendliche erhob sich und klopfte das Laub von ihren Klamotten. Völlig übermüdet und ausgelutscht taumelte sie weiter durch den Wald, immer weiter nach Osten, wo sie irgendwann, nach langer Zeit, die Hauptstraße erreichte.
Elena war zu schwach, um direkt nach Ebenholz zurückzukehren. Sie lehnte sich an eine große Linde und ließ sich an deren Stamm hinunterrutschen. Die Jugendliche vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und trauerte erneut um Dratini.
Erst musste sie sich richtig ausgeweint haben, bevor sie in die Stadt zurückkehren könnte. Sonst hätte sie ja jemand so sehen können... Vor allem Doro, welcher sie die starke große Schwester vorgaukelte, durfte sie so nicht sehen. Und Theo am besten auch nicht. Überhaupt mochte sie vor niemandem groß ihre Gefühle offenbaren. Viel zu nackt und angreifbar fühlte sie sich, wenn sie vor anderen weinte.
Als Elena glaubte, wieder stark genug zu sein und sich zusammenreißen zu können, trat sie ihren Weg zurück in die Stadt an. Die Ausrede für die Soldaten hatte sie sich bereits zurechtgelegt; sie schwänzte die Schule, weil heute ein ungeliebtes Unterrichtsfach auf dem Plan stand und sie die Zeit lieber anders verbrachte.
So oder so ähnlich würde die Jugendliche das Ganze erklären. Was konnten ihr die Soldaten schon tun?
Weit gefehlt.
Elena war kaum auf halbem Weg zwischen Wald und Stadtmauer, da ertönte ein Ruf: "Da ist sie, die Flüchtige!"
Die weißen Haare waren ein absolutes Wiedererkennungsmerkmal. Das Mädchen wusste, dass zweifellos sie gemeint war. Aber wieso galt sie als eine Flüchtige?
Dann erkannte sie die Stimme des Dicken: "Die Deserteurin! Verhaftet sie!"
Deserteurin? Verhaften? Auf diese Worte hin wurden ihre Augen immer größer, aber lange Zeit zum Nachdenken hatte sie nicht. Elena machte auf dem Absatz kehrt und rannte zurück in den Wald. Hinter sich hörte sie das Galoppieren von mehreren Ponita; weißen Feuerponies, deren Mähne und Schweif Flammen waren.
Die Soldaten hatten also höchstes Interesse an ihrer Verhaftung.
Verhaftung. Weswegen eigentlich? Deserteurin. Das Mädchen war doch überhaupt nicht militärdienstverpflichtet. Oder wusste das Militär längst, dass sie ein Pokémon aus der Stadt geschafft hatte? War nicht Elena es, die zu Theo sagte, dass die vom Militär so oder so Bescheid wüssten, auch wenn das Pokémon in einem Pokéball wohnte?
Sie wissen es, stellte Elena gedanklich fest. Wie hätte es auch anders sein können? Hatte die Jugendliche etwa wirklich geglaubt, sie konnte dem Militär das Pokémon vorenthalten und würde ohne Strafe davonkommen? Haftstrafe; das war nun wirklich nicht das, was sich Elena für ihr Leben vorgestellt hatte. Und bei Desertion war die Haftdauer sicher nicht kurz.
Das Donnern der Hufen schloss immer weiter zu ihr auf. Elena rannte bereits in Richtung der Sträucher. Wenn sie es einmal in das Unterholz geschafft hätte, würden sich die Vierbeiner schwerer bei ihrer Verfolgung tun.
Die Jugendliche tat die letzten paar Schritte. Doch bevor sie die rettenden Pflanzen erreichen konnte, türmte sich ein Feuerwall vor ihr auf. Eines der Ponita hatte die Sträucher mit Feuerwirbel in Brand gesetzt.
Elena wandte sich zur anderen Seite des Hauptweges, doch auch dort erhob sich eine Flammenwand vor ihr.
Wo hin jetzt? Ein Ponita galoppierte auf das Mädchen zu, welchem sie gerade noch ausweichen konnte. Dabei kam sie den Flammen am Wegesrand gefährlich nahe. Sie spürte die Hitze und ihre Haut begann zu ziehen. Sie rieb sich den Schmerz vom Arm und trat von den Flammen weg.
Links und rechts eine Feuerwand. Vor und hinter ihr jeweils ein Soldat mit Ponita, die sich entschlossen aufmachten, die Flüchtige zu schnappen und ihr immer näher kamen.
Das wars!
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top