3. Eine mutige Ansage

Seine grünen Augen blickten aus dem ersten Stock hinunter auf den Marktplatz von Ebenholz. Tristan erkannte die wütenden Menschen, die immer noch darüber aufgebracht war, dass sie ihre Pokémon dem Militär überlassen mussten. In gewisser Weise konnte er die Leute ja verstehen, aber Dekret war nun mal Dekret. Als Soldat der königlichen Armee musste er dieses umsetzen.
Nicht zuletzt legte auch sein vorgesetzter Offizier, der werte Ethan, großes Vertrauen in den jungen Mann; hatte er Tristan doch erst zum Leutnant befördert.
Die Beförderung war zwar nicht ganz das, was Tristans Willem entsprach. Lieber wäre er bis zu seinem Lebensende in Borkia geblieben und hätte dort Pokémon trainiert.
Aber dennoch wollte er sich auf seinem neuen Posten beweisen und es gut machen. Auch deshalb, weil er so schnell wie möglich wieder aus Ebenholz woanders hin versetzt werden wollte. Er war noch nicht mal einen halben Tag hier und schon fror er sich fast zu Tode. Wie man hier leben konnte? Er wusste es nicht.

In seinem Büro auf der Westseite des Marktplatzes, welches im Rathaus integriert war, hatten sich die beiden verantwortlichen Soldaten eingefunden. Schweigend folgte Tristan den Worten von Valentin und seinem Kameraden und hörte sich ihre Ausführungen in aller Ruhe und mit Bedacht an.
Als Valentin seinen Bericht vollendet hatte, stand Tristan immer noch schweigend am Fenster. Sprachlos war er ob der Schilderungen. Er wusste schlichtweg nicht, was er darauf sagen sollte.
Der junge Leutnant wandte sich um und räusperte sich: "Damit ich euch richtig verstehe, wie alt war sie?"
Der Dürre vollendete dieses Detail: "Sie war 'ne Schülerin, also maximal sechzehn."
"Und dass sie Schülerin ist, hast du woran erkannt?", bohrte Tristan nach und sah mit nachdenklichem Blick auf seinen Untergebenen.
Valentin kaute auf seiner Unterlippe: "Naja, ich hab sie gefragt, ob sie nicht in der Schule sein müsste, und sie hat gefragt, ob wir nicht auch in der Schule sein müssten."
Der Leutnant in seiner schwarzen Uniform nickte verständnisvoll und schloss die Augen: "Mhm..."
Tristan fasste sich ans Kinn und stellte sich die Situation vor seinem geistigen Auge vor.
Der Geruch des Lederhandschuhs stieg ihm in die Nase: "Und wieso ist sie euch davon gelaufen?"
Mit seinem Dackelblick stammelte Valentin: "Das wissen wir nicht, Sir."

Tristan versuchte die ganze Zeit über ernst zu bleiben. In seiner neuen Rolle als Leutnant wollte er besonders am ersten Tag einen guten Eindruck machen und seriös bleiben. Die ganze Zeit über musste er ein breites Grinsen unterdrücken.
Doch nach all den weiteren Nachfragen und den Antworten seiner beiden Fußsoldaten prustete er aus. Einen Lachanfall konnte der Leutnant nicht mehr verhindern. Ihm stiegen die Tränen in die Augen vor Lachen.
Der junge Mann ließ sich in seinen Sessel fallen. Dabei hielt er sich die Augen zu, nur um das Bild der beiden Idioten vor ihm aus dem Kopf zu bekommen. Er wischte sich die Tränen ab und wollte sich trocken legen.
Als sich sein Lachanfall gelindert hatte, räusperte sich Tristan erneut und wandte sich zu seinen beiden Soldaten. Er setzte zum Reden an, doch der Anblick von Dick und Dürr brachte ihn wieder aus der Fassung.
Zu seiner Zeit in der Ausbildung wären das diejenigen gewesen, die man in der gesamten Kompanie gemieden hätte. Sie waren genauso unfähig wie sie aussahen. Tristan konnte den beiden noch nicht mal einen Vorwurf machen. Es waren junge Buben, die gerade mal eine vierwöchige Ausbildung durchlaufen hatten.
Manche der Jungs hatten Talent und waren nach den wenigen Wochen schon gute Soldaten und andere eben nicht. Und Dick und Dürr zählten nun nicht gerade zu der begabten Sorte.

Valentin und Kasimir sahen sich gegenseitig an und wussten nicht recht, was sie von der Reaktion ihres Leutnants halten sollten. Angesichts des Lachanfalls ihres Chefs wurden die beiden angesteckt und ein Grinsen überkam ihre Gesichter. Aber als Tristan schlussendlich doch wieder zum Ernst zurückfand, strichen sie dieses lieber.

Der Leutnant räusperte sich erneut: "Also fassen wir zusammen; eine maximal Sechzehnjährige schwänzt die Schule und bummelt durch der Stadt. Ihr fragt sie, was sie tut. Sie stiftet Verwirrung und vier Soldaten der jotholesischen Armee sind nicht fähig sie aufzuhalten?"
Tristans Stimme wurde streng: "Ist das euer Ernst?"
Auf diese Worte zuckten die beiden Fußsoldaten zusammen.
Der junge Leutnant sprach seine Bedenken aus: "Ihr könnt froh sein, dass das nichts Wichtiges ist... Allerdings zeigt mir das eindeutige Defizite in eurer Ausbildung. Wenn das ein ernstzunehmendes Sicherheitsrisiko wäre, ein Saboteur oder sonst eine Bedrohung aus Kanto, dann kann ich euch nicht mehr auslachen. Da müssen wir uns noch was einfallen lassen, mit jedem von euch."

Plötzlich klopfte es an der Tür. Ein dritter Fußsoldat erschien: "Herr Leutnant, ich habe Informationen zur Geflüchteten."
Der schwarzhaarige Kerl verdrehte die Augen und flüsterte für sich: "Schon wieder dieses Thema?"
Er winkte den dritten Soldaten herein und gab den Befehl: "Eintreten, berichten!"
Der Fußsoldat quetschte sich zwischen Kasimir und Valentin: "Bei der Geflüchteten handelt es sich um eine gewisse Elena. Sie ist fünfzehn Jahre alt und lebt im Waisenhaus mit ihrer jüngeren Schwester. Sonst keine Familienangehörigen. Sie war heute nicht in die Schule gekommen. "
"Aber kurz vor Schulbeginn wurde das Dekret auf dem Marktplatz bekanntgegeben, hm?" fragte Tristan und kombinierte: "Leute, sie wollte ein Pokémon verstecken."
Der Fußsoldat bestätigte diese Vermutung: "Genau! Laut der Lehrerin besitzt Elena nämlich ein Pokémon, mit welchem sie in ihrer Freizeit immer und überall gesehen wurde."
Der Leutnant wandte sich zu Dick und Dürr: "Und? Habt ihr ein Pokémon bei ihr gesehen?"
Valentin ergriff zuerst das Wort: "Ne-, nein, also offensichtlich hatte sie keines bei sich. Aber sie trug einen langen Rock. Unter dem hätte sie es vielleicht verstecken können."
"Und mit dem Pokémon unter ihrem Rock sprintet sie davon und macht mal eben Karatesprünge?", fragte Tristan kritisch: "Na, egal, im Moment ist das die einzig logische Erklärung, die wir haben."

Der rothaarige Junge blickte verschüchtert drein und wollte seine Bestrafung wissen: "Und was machen wir jetzt?"
Durch Valentins gesenkten Kopf wirkten seine blauen Augen noch größer. Seine blasse Haut mit den Sommersprossen und den roten Haaren trugen im Übrigen zum Dackelblick bei.
Tristan fällte eine Entscheidung: "Wir werden sie finden und verhaften. Immerhin kann es nicht sein, dass uns eine Jugendliche auf der Nase herumtanzt. Sie ohne Konsequenzen laufen zu lassen, wäre der blanke Hohn gegenüber jedem Bürger da draußen, der heute sein Pokémon abgegeben hat. Außerdem ist das ein königliches Dekret, welches wir durchzusetzen haben."

Gerade als der junge Leutnant fertig gesprochen hatte, marschierte Offizier Ethan in das Büro hinein.
"Offizier Ethan!", riefen die vier niederrangigen Soldaten monoton und salutierten.
Auch der Ranghöhere hatte schon von den Vorkommnissen gehört: "So so. Da wollte ich nur kurz meinen Segen für die Einrichtung hier geben, und was kommt mir da, kurz vor Mittag am ersten Tag der Eröffnung, zu Ohren? Eine Geflüchtete mit einem Pokémon."
Seine Begeisterung schien sich in Grenzen zu halten.
Tristan blieb nichts anderes übrig und musste die Aussage des Offiziers bestätigen: "Das entspricht den Tatsachen, Offizier! Mir wurde berichtet, dass sie heute nicht in die Schule gekommen war."
"Und was machen wir mit Flüchtigen, die der Armee die Kampfkraft vorenthalten und damit per Definition Deserteure sind?", fragte der Offizier ohne eine Miene zu verziehen.
Der junge Leutnant äußerte seinen Gedanken: "Finden und wegsperren."
"Sehr gut! Ihr seid der richtige Mann an der Stelle, ich wusste es", lobte Ethan seinen Untergebenen.
Der schwarzhaarige Kerl fasste all seinen Mut zusammen und sprach. "Eines hat mir die Sache heute aber deutlich gezeigt."
"Und das wäre?", wollte der Offizier wissen.
Die Missstände mussten angesprochen werden, und wo Tristan schon begonnen hatte, ballte er seine Hand zur Faust und spuckte sein Problem aus: "Dass die Ausbildung meiner Männer so schlecht war, dass sie in einer vier zu eins Situation gegen ein kleines Mädchen verlieren. Sie müssen mehr trainieren, besser ausgebildet werden."
Er sprach Ethan darauf an, um sein Einverständnis für ein neuerliches Training einzuholen.
"Ihr seid hier der Chef, Tristan. Nicht wie in Borkia mit den Pokémon. Ihr werdet schon wissen, was Ihr hier tut. Nutzt doch die Jagd nach einem fünfzehnjährigen Kind als Training", schlug Ethan mit einem zwinkernden Auge vor.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ der Offizier das Büro. So schnell wie er gekommen war, war er auch wieder verschwunden.
Tristans strenger Blick fiel auf die drei noch anwesenden Soldaten: "Ja los, ihr habt es gehört: die Jagd auf eine Jugendliche ist eröffnet. Und um dem Ganzen ein wenig Nachdruck zu verleihen, machen wir es in der ganzen Stadt bekannt."

Mit erhobenem Haupt schritt der Leutnant an seinen drei untergebenen Soldaten vorbei und verließ sein Büro hinunter zum Marktplatz. Die Eingangstür des Rathauses war seit Bekanntgabe des Dekrets verriegelt. Jonas, der Bürgermeister, befürchtete, von einem wütenden Menschenmob aufgeknöpft zu werden.

20 Jahre war er alt. Viel zu jung, um Soldaten zu führen und sich mit einer aufständigen Menschenmasse anzulegen. Es war eben genau das, wovor er sich gestern noch gefürchtet hatte. Aber sein Pflichtbewusstsein ergriff Tristan. Er trat vor die Tür nach draußen, auf dem Weg zur Bühne inmitten des Marktplatzes.
Mit dem Sprachrohr bewaffnet stieg er die drei Stufen zum Podest hinauf.

Der junge Mann nahm all seinen Mut zusammen, den es erforderte, sich mit über 3.000 Einwohnern einer Stadt anzulegen. Widersinnigerweise hoffte er, dass die meisten von ihnen kein Pokémon mehr hatten und bereits wehrlos waren, damit sie ihn nicht angreifen konnten. Und das obwohl er wirklich größtes Verständnis für die Reaktion in der Bevölkerung hatte.
Er schluckte seine Nervosität hinunter und begann vor dem Mob zu sprechen.

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