26. Eine schwere Last

Julius stieg die Langeweile zu Kopf. Seit er vor einer Woche im Zinnturm untergetaucht war, versank er im Selbstmitleid. Er hatte sich aufgegeben. Die Schuldgefühle plagten ihn und raubten ihm den Schlaf.
In seiner Trauer aß er kaum und er magerte ab. Um sein Äußeres scherte er sich genauso wenig, sodass ihm ein Vollbart wuchs. Aus seiner Mähne konnte der dunkelblonde Kerl kaum noch herausschauen.
Außerdem neigte er dazu, sich auf irgendeinem Stockwerk zu verstecken, wo niemand war. Am liebsten war er alleine.

Manchmal ging Julius nach draußen zur Rückseite des Zinnturms, wo sich ein Garten umgeben von Bäumen mit einem Teich befand. Über dieses Gewässer führte eine rote Brücke aus Holz, auf die er sich stellte und die Goldini im Wasser beobachtete. Damit seine Pokémon keinen Lagerkoller bekamen, ließ der ehemalige Bürgermeister sein Hundemon und sein Aerodactyl raus, sodass sie sich austoben konnten.

Nachts, wenn alle schliefen, war Julius am liebsten draußen. Dann bestand keine Gefahr, jemanden zu treffen. In dieser vergleichsweise warmen bewölkten Nacht mitten im Herbst verhielt es sich jedoch anders.
Gerade hatte der dunkelblonde Kerl seine beiden Pokémon rausgelassen, erblickte er seinen Großvater auf der Brücke. Sofort wollte er umdrehen. Doch Franz hatte ihn bereits entdeckt. Aus Respekt vor seinem Großvater ergriff Julius nicht die Flucht. Stattdessen stellte er sich neben Franz auf die Brücke. Beide lehnten am Geländer und starrten ins Wasser.

Der alte Weise machte seinem Enkel keinen Vorwurf: "Ich sehe, dass es dir nicht gut geht. Wenn ich dir irgendwie helfen kann oder du reden willst... Ich bin für dich da."
Julius seufzte tief. Mit gebrochener Stimme gab er unverblümt zu: "Opa? Ich hab sie geliebt, weißt du?" Er schloss seine wässrigen Augen und schüttelte den Kopf: "Nein, ich liebe sie immer noch."
Sachte legte Franz eine Hand auf die Schulter seines Enkels: "Denkst du wirklich, dass sie tot ist?"
Julius antwortete mit einer Gegenfrage: "Ihr Rizeros ist mit Cecilia ins Meer geflohen. Kannst du dir vorstellen, dass ein so schweres Pokémon lange schwimmen kann?"
Franz zuckte mit den Schultern und schwieg.

Der Verwilderte blickte gen Himmel: "Warum hast du sie eigentlich nicht gemocht? Ich meine, ich hab selber schon lange gebraucht, um mich auf sie einlassen zu wollen, aber dann hast du auch noch dagegen geredet und wieder habe ich nichts gemacht. Und wegen mir ist sie jetzt wohl tot."
Der alte Mann schüttelte den Kopf: "Es war nicht so, dass ich sie nicht mochte, im Gegenteil."
Julius konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen und bohrte weiter nach: "Aber wieso wolltest du sie nicht an meiner Seite sehen?"
Franz ließ seinen Kopf hängen, wagte dann einen Seitenblick auf seinen Enkel: "Wie stark bist du?"
Müde seufzte Julius: "Das werde ich schon auch noch ertragen."
Der Weise räusperte sich: "Im Grunde beginnt die Geschichte vor über 40 Jahren auf dem Bronzeturm. Du weißt sicherlich, was ich meine..."
"Lugia wurde von einem der Ho-Oh-Weisen angegriffen und floh. Kanto als lugiaverehrendes Volk hat Johto den Krieg erklärt, um den dort ansässigen Patronbrüdern zu Hilfe zu eilen. Ich weiß mittlerweile auch, dass Cecilias Mutter aus Oliviana und damit Lugia zugewandt war, aber was hat das mit mir zu tun?", bohrte der junge Mann nach.
Der Weise richtete seinen Blick strikt auf das Wasser: "Vor 40 Jahren war ich es, der Lugia angegriffen und verscheucht hat."

Julius Kopf schnellte in die Höhe und er starrte mit offenem Mund auf seinen Opa. Reflexartig stieß er sich vom Geländer ab und stolperte ein paar Schritte rückwärts. Seine erste Gefühlsregung anstelle von Trauer war Wut und seine Lippen bebten: "Du hast Lugia angegriffen? Dir haben wir das alles zu verdanken?"
Franz redete auf seinen Enkel ein: "So hör mir doch zu und lass mich ausreden!"
Der Verwilderte pfiff sein Hundemon und sein Aerodactyl zu sich und warf einen Blick über seine Schulter: "Nein. Sicher nicht. Du hattest fast 30 Jahre lang Zeit, mir das zu erzählen, aber jetzt kommst du daher?"
"Ich fand nie den Moment!", beteuerte der Alte und rannte seinem Enkel hinterher: "Außerdem gibt es Gründe."

Diese Gründe wollte der junge Teaker aber nicht mehr hören. So stieg er auf sein Aerodactyl und ergriff schnellstmöglich die Flucht. Sein Kopf rauschte. Julius fühlte sich wie der gebrochenste Mensch der Welt.
Alles, was er wollte, war in Frieden mit Cecilia zu leben. Von der wusste er nicht mal, ob sie ihn überhaupt mochte und - was viel wichtiger - ob sie noch am Leben war.
Mit dem Geständnis seines Großvaters musste er erst noch zurecht kommen. Nur wegen Franz lebte eine ganze Nation im Krieg, gebeutelt und geplagt von sinnlosen Toden junger Menschen. Ein gespaltenes Volk, ein zersplitteres Land.
Die Städte Anemonia und Oliviana, die durch ihre Meeresnähe immer einen besonderen Bezug zu Lugia hatten, schotteten sich kurz nach Kriegsbeginn von Johto ab.
Anemonia und Oliviana; als Julius so darüber nachdachte, kam ihm eine Idee. Vielleicht war seine Angebetete dorthin vor den Rebellen geflohen? Immerhin stammte ihre Mutter von dort. Zu fliehen stand Cecilia zwar nicht zu Gesicht, aber nach all den Irrungen wäre es kein Wunder.
Es war zwar ein winziger Strohhalm, aber es war der einzige, den Julius hatte. Allein deswegen fasste er den Entschluss, sie in Oliviana zu suchen.

Franz blieb nichts weiter übrig, als seinem davon fliegenden Enkel hinterherzusehen.
"Was auch immer du vor hast; pass auf dich auf", flüsterte der Weise in der dunklen Nacht hinterher.
Er wandte sich um und erblickte Albert.
Der Azaleaner sah gen Himmel und motzte: "Jetzt ist der einfach ohne mich ab, na toll. Hat die Wahrheit wohl nicht vertragen, dein Enkel, was?"
"Ich konnte nicht aussprechen, was ich zu sagen hatte", meinte Franz, aber er war sich sicher: "Irgendwann kommt er zurück. Dann wird er mir zuhören und er wird verstehen."
Flapsig entgegnete Albert: "Scheinst ja großes Vertrauen in die Intelligenz deines Enkels zu haben, was?"
Der Weise nickte darauf, aber sein Gast stichelte weiter: "Dein Sohn damals schien auch intelligent zu sein. Und doch war er die dümmste Sau, die rumrannte. Hat unsere einzige Hoffnung auf Frieden ermor-"
Mit strenger Stimme unterband Franz das Weitersprechen seines Kumpans: "Kein Wort mehr! Was vor fast 20 Jahren passiert ist, hätte uns eine Lehre sein sollen, aber du? Du zettelst eine neue Rebellion an und schaffst es, dass auch noch Isabellas Tochter ihr Leben lässt... und ein noch größerer Fanatiker die Macht ergreift. Dir ist wahrhaft nicht zu helfen, Albert."
"Aber die Zeiten haben sich geändert! Im Militär geht es nicht mehr mit rechten Dingen zu. So konnte es nicht weitergehen, dass König Raul blindlings die Ideen des Generals umsetzt. Irgendjemand musste etwas tun!", rechtfertigte sich der Azaleaner.
Der Ho-Oh-Weise konnte nur den Kopf schütteln: "Und dann sorgst du dafür, dass ausgerechnet der General an die Macht gelangt, wo du doch seine Macht ersticken wolltest? Wie kannst du nachts noch schlafen?"
Albert grunzte: "So wie du vor 40 Jahren, schätze ich."
"Also gar nicht?", fragte der Weise.
Reuevoll nickte der Widerstandsführer: "Ich konnte ja nicht ahnen, dass General Hermann ebenso die Machtübernahme geplant und dabei ausgerechnet Hilfe von unserem alten Verbündeten bekommen hat."
Franz zuckte mit den Schultern: "Vermutlich wollte Isaak ebenso ein regierbares Johto, ohne König, durchsetzen."
Der Azaleaner fasste sich ans Kinn: "Dabei sollte er eigentlich wissen, dass der General seinen eigenen Kopf durchsetzen wird, zum Nachteil unseres Landes."
Seufzend entgegnete der Weise: "Wer weiß schon, was die beiden zusammen arbeiten lässt. Geld, Macht... Isaak war zwar nie so, aber seit Isabellas Tod hat er sich doch sehr verändert. Aber was geht's uns an? Mit Hermann an der Spitze unseres Landes ist der Krieg gegen Kanto doch sowieso verloren."
Albert nahm seinen Mut zusammen und widersprach: "Aber wir können den Kantonesen nicht unser Land überlassen! Nur weil unser Land und unsere Leute gespalten sind! Ho-Oh, Lugia, Celebi; es ist doch alles eins! Wir wissen das. Und wir müssen das unserem Volk wieder klar machen. Wir müssen etwas unternehmen!"
Müde antwortete Franz mit einer Gegenfrage: "Und was willst du jetzt tun?" Doch bevor er eine Antwort erhalten konnte, winkte der Weise ab: "Nein warte! Ich will es gar nicht wissen."

Heute ein wenig Infodump, damit mal ein paar Handlungsstränge der Vergangenheit rauskommen, die ich mir so ausgedacht habe.
(Und sorry übrigens für die unkreative Namenswahl meiner Kapitel. Ich überlege zwar, wie ich das sinnvollerweise nennen könnte... Aber irgendwie kommt nicht viel bei rum. Am schlimmsten fand ich bisher: Angriff der Killerbären XD Das klingt wie ein schlechter Horrorfilm. Aber sei es drum; Hauptsache die Story ist gut erzählt. Ich hoffe, das gelingt mir. Viel Spaß beim Lesen und einen schönen 01.Juni :))

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