21. Ein ungebetener Begleiter

Am frühen Morgen des neunten Tages brachen Elena und Tristan auf.
Der Abschied fiel dem jungen Leutnant schwerer als erwartet. Er hatte hier in seiner ehemaligen Wirkungsstätte eine schöne Zeit verbracht. Für ein paar Tage wieder dort zu sein, ließ ihn in Erinnerungen schwelgen.
Konstantin bedankte sich noch dutzende Male für die Hilfe.
Das Duo stakste die gemauerte Treppe hinunter, dem Sonnenaufgang entgegen.
Tristan warf einen letzten Blick nach oben und winkte dem jungen Ausbilder und seinem Kleinstein zu.

Wenige Meter weiter befand sich die Stadtmauer und mit einem Sprung darüber fanden sie Schutz im Wald. Erst jetzt konnte Tristan gefahrlos sein Arkani aus dem Pokéball holen und die Reitgelegenheit nutzen. Wie immer saß er vorne. Mit seiner Begleiterin im Rücken bahnte er sich seinen Weg durch die goldgefärbten Bäume, in welchen sich das Sonnenlicht fing. Das nächste Ziel hieß Rosalia.
Erst ein paar hundert Meter tiefer im Wald wagte es Elena, das Schweigen zu brechen: "Traurig, oder? Erst beklau ich ihn und jetzt ist er dir dankbar?"
"Ich glaube, ihm sind seine Medizinvorräte egal. Er hat sie ja nicht bezahlt. Wenn es ihm überhaupt schon aufgefallen ist..."
Der Gedanke um Konstantin und das vor zwei Wochen wieder eröffnete Trainingslager ließ dem jungen Leutnant keine Ruhe. Bei seiner Versetzung nach Ebenholz hatte ihm Offizier Ethan zwar mitgeteilt, dass Konstantin seine Nachfolge antreten würde. Aber dass die Stätte ein halbes Jahr lang geschlossen sein würde, kam nicht zur Sprache.
Vermutlich lag es nie im Sinn der oberen Militärführung, die Trainingsstätte weiterzuführen. Aber wieso? Erst das königliche Dekret hauchte dem Ausbildungslager wieder Leben ein. Weshalb aber wollte der General dieses schließen?
Aus Tristans Sicht war es eine Notwendigkeit, die Pokemon erst so lange zu trainieren, bis sie stark genug für den Einsatz wären. Untrainierte oder Basispokémon waren an der Front wenig nützlich. Es schien dem jungen Mann beinahe so, als wollte Johto den Krieg gar nicht gewinnen. Diese Erklärung tat er aber als Schwachsinn ab.

Nach einer Phase der Stille, in welcher alleine Arkanis Schritte im knisternden Laub zu hören waren, wurde der schwarzhaarige Kerl aus seinen Gedanken gerissen.
Elena ergriff das Wort: "Du Tristan. Kann ich dich mal was fragen?"
"Mhm", murrte er lustlos.
Wenn sie so fragte, war es etwas, das ihr unangenehm war. Nicht selten wurde es auch für Tristan unangenehm, weshalb er auf dieses Gespräch keine Lust hatte. Aber wenn sie schon einmal von sich aus redete und Interesse zeigte, wollte er sie nicht vor den Kopf stoßen.
Das Mädchen kaute auf ihren Lippen: "Was ist das bei dir und Linda?"
Da war sie; diese unangenehme Frage, die Tristan erwartet hatte. Reflexartig rollte er die Augen, wenngleich Elena es nicht sehen konnte.
Der junge Leutnant versuchte eine Konkretisierung ihrer Frage zu erreichen: "Was soll sein?"
"Gestern, wo sie mir die Haare gefärbt hat, hat sie genau einmal gefragt, welche Farbe ich mag. Den Rest der Zeit hat sie damit zugetan, dich anzuhimmeln und mich über unsere Beziehung auszufragen."
Ungewollt kratzte sich der schwarzhaarige Kerl am Kopf: "Unsere Beziehung? Wir haben doch gar keine."
Die Jugendliche bestätigte: "Ja, ich weiß das. Und nachdem ich es ihr ungefähr zehn Mal verklickert hab, hätt sie es auch wissen müssen, aber sie wollt´s mir nicht glauben. Tristan, die hat ´nen Knall."
"Na was denkst du, wie die abgegangen ist, als ich noch in Borkia gearbeitet habe?", fragte er rhetorisch und fügte an: "Das, muss ich zugeben, war in Ebenholz der einzige Vorteil; dass Linda nicht mehr hier war."
Seine Begleiterin boxte ihn in die Rippen.
"Au! Was sollte das?", keifte Tristan und warf einen vorwurfsvollen Blick über seine Schulter.
Mit einem giftigen Gesichtsausdruck sprach Elena: "Borkia ist doch viel beschissener. Da geht immer der Wind!"
Jetzt wurde ihm seine Verfehlung bewusst.

"Verzeih. So war das nicht gemeint. Wenn man die Kälte gewöhnt ist, so ist Ebenholz bestimmt eine schöne Heimatstadt", entschuldigte sich der junge Mann.
"Kälte?", fragte sie voller Erstaunen: "Welche Kälte?"
"Du warst noch nie im Sommer in Dukatia oder in Teak", entgegnete der schwarzhaarige Kerl lächelnd.
Bestimmend hielt Elena fest: "Ich war im Sommer überhaupt noch nie irgendwo. Und auch im restlichen Jahr war ich daheim. Da, wo ich eben hingehör."
Was musste das für ein langweiliges Leben sein, mit 16 Jahren noch nie etwas Neues gesehen zu haben? Für Tristan eine schreckliche Vorstellung.
"Aber das tut jetzt nix zur Sache. Linda!", kam die Jugendliche auf das Thema zurück.
Die Hoffnung, sie hätte es vergessen, musste Tristan aufgeben: "Okay. Ich weiß nicht, was sie an mir findet oder was ich ihr gesagt habe, dass die so arg hinter mir her ist. Ich weiß nur, dass ich ihr nie falsche Hoffnungen gemacht habe. Eigentlich habe ich es ihr schon einmal gesagt, dass aus uns Nichts wird, weil sie mir so auf die Nerven gegangen ist."
"Und warum hast du nichts mit ihr angefangen? Weil sie so viel redet, oder was war das Problem?", bohrte das Mädchen nach.
Der junge Leutnant seufzte: "Elena. Schau mich an. Ich bin jetzt 21 Jahre alt. In der heutigen Zeit bin ich ein alter Mann. Ich wollte nie eine Freundin. Die Vorstellung, jemanden, der mich liebt, alleine zurückzulassen, während ich auf dem Schlachtfeld zu Staub zerfalle... Das will ich niemandem antun."
Elena prustete aus und spottete: "Ach und wer soll dich lieben?"
Trocken gab er zurück: "Na, Linda zum Beispiel..."

Tief im Wald schlugen die beiden ihr Nachtlager im Schutz der Laubbäume auf.
"Wir dürften kurz vor Rosalia sein", erklärte der junge Mann und mutmaßte: "Vielleicht noch einen Tag. Oder zwei."
Sie erkannte an: "Mit deinem Arkani geht's halt viel schneller."
Schneller; er würde nur schneller seinem Unglück entgegengehen. Tristan wollte nicht nach Rosalia. Aber auf dem Weg nach Norden gab es keine andere Möglichkeit, als die Städte zu passieren.
Was ihn erwarten würde, wusste er nicht. Die Steckbriefe, die Linda den beiden gezeigt hatte, trugen nicht zur Beruhigung des jungen Mannes bei. Er wusste nicht, was ihn in Rosalia erwarten würde. Zwar kannte ihn dort niemand. Anhand der Fahnungsbilder war der junge Leutnant aber leicht zu identifizieren.
Und dann? Was erwartete ihn dann? Verhaftung. Kerker. Er wusste noch nicht einmal, weswegen er gesucht wurde. Wie konnte der General davon ausgehen, dass Tristan desertiert war? Hermann konnte noch nicht mal wissen, dass er Ebenholz überlebt hatte. 

Zum Abendessen kochten die beiden über dem Lagerfeuer ein paar Wurzeln und Pilze.
Elena kommentierte: "Irgendwie vermiss ich dem Konstantin sein Essen."
"Na, und ich erst! Ich, ein Gourmet", verspottete Tristan sich selbst.
"Wohl eher ´n Relaxo. Nur nicht ganz so fett", gab das Mädchen ihren Senf dazu.

Am nächsten Tag zur Mittagszeit rastete das Duo auf einer Lichtung. Ein umgefallener, mit Moos bewachsener Baumstamm diente als Sitzgelegenheit. Rücken an Rücken lehnten sich die zwei aneinander.
In der Ferne vernahm Tristan ein Rascheln. Unruhig wandte er sich um und blickte auf eine Wand aus Bäumen. Nichts. Er wandte sich wieder seinem Arkani sowie seinem Essen zu.
Doch da war es wieder; ein Rascheln, nur näher!
Der junge Leutnant blickte dieses Mal in eine andere Richtung und suchte die Gegend ab.
"Was ist?", fragte das Mädchen.
"Pssst", ermahnte der junge Leutnant und hielt sich den Zeigefinger an den Mund.

"Tristan?", tönte eine männliche Stimme, welche zusätzlich anfügte: "Elena?"
Der schwarzhaarige Kerl zuckte zusammen. Schockiert, dass sie entdeckt worden waren, fuhr er um und erkannte, dass es kein Unbekannter war, welcher vor ihm stand.
"Jonas?", sprachen Elena und Tristan im Chor.
Tristan durchlöcherte den Ebenholzer Bürgermeister mit Fragen: "Wie kommst du hier her? Was ist passiert? Was ist mit der Evakuierung?"
Der braunhaarige Mann holte aus und winkte ab: "Keine Sorge. Die hat wie gewünscht stattgefunden. Nur bin ich zwischendrin von irgendwelchen Ninjas angegriffen worden und in den Wald geflohen."
"Sie wollten dich auch töten?", stieß Tristan voller Verwunderung aus.
Jonas nickte: "Ja. Dich etwa auch? Keine Ahnung, wo die hergekommen sind und warum sie mich abmurksen wollten, aber ich konnte dank meines Panzaerons entkommen. Es hat sich geopfert und kämpfte gegen die Bande. Ich wollte ihn längst in den Pokéball zurückrufen, aber er ließ sich nicht einfangen. Später habe ich noch Stunden nach Panzaeron gesucht, ihn aber nicht gefunden."

Dann blickte der Bürgermeister mit Tränen in den Augen auf das Mädchen: "Aber wie ich sehe, hast du unsere Deserteurin gefunden. Schön, dass du noch lebst, Elena."
Die Jugendliche ging nicht darauf ein: "Das mit deinem Panzaeron tut mir leid."
"Oh Elena. Mir tut es so leid, was passiert ist. Wenn es nach uns gegangen wäre, dann hättest du nie aus der Stadt fliehen müssen. Das waren rein Tristan und seine Leute. "
Der junge Leutnant verschränkte die Arme: "Ich habe nur Befehle befolgt. Die Situation, die dazu geführt hat, hättest du im Kriegsrat abwenden müssen. Denn so weit ich weiß, haben nur meine Schwester und der Teaker Bürgermeister Einwände gegen das Dekret gebracht."
Der Bürgermeister wich zurück und erhob abwehrend seine Hände: "Hey, nicht gleich so ernst. War doch nur ein Witz."
Elena war neugierig geworden und wandte sich zu Tristan: "Deine Schwester ist im Kriegsrat? Davon hast mir gar nichts erzählt."
"Du hast auch nicht gefragt", winkte er ab.
Schließlich ergriff Jonas erneut das Wort: "Darf ich fragen, was jetzt euer Plan ist?"
Elena zuckte mit den Schultern: "Versuchen, die Ebenholzer zu finden und mich heimbringen."
"Und herausfinden, was Hermann zu diesem wahnwitzigen Befehl gebracht hat, unsere Truppe am Tag des kantonesischen Angriffs im Vorfeld abzubeordern", ergänzte der junge Mann.
Der braunhaarige Mann schlussfolgerte: "Denkst du, er wusste, dass Kanto vor der Tür steht und hat Ebenholz wissentlich aufgegeben?"
"Keine Ahnung, was ich denken soll. Auf jeden Fall muss das Unrecht, das den Ebenholzern widerfahren ist, aufgeklärt werden", sprach Tristan und ballte die Faust.
"Darf ich mich euch anschließen? Ich will auch nach Hause, aber ohne mein Pokémon bin ich nahezu wehrlos", bettelte Jonas und fiel theatralisch auf die Knie.
Elenas Blick fiel auf Tristan, denn er hatte das Sagen.
Der schwarzhaarige Kerl schätzte die Situation kritisch ein, denn mehr als zwei Personen konnte sein Arkani auf Dauer nicht tragen. Widerwillig gab er sein Einverständnis zum neuen Reisebegleiter und nickte still.
"Was? Warum denn so zögerlich, Tristan? Willst du mich etwa nicht dabei haben?", warf Jonas vor.
Ohne eine Antwort erhob sich der junge Mann vom Baumstamm und trottete müde voraus. Arkani kam zurück in den Pokéball, denn sein Einsatz war mit Jonas Erscheinen beendet.

Elena folgte wortlos dem jungen Leutnant. Sie hatte nicht vergessen, wie der Ebenholzer Bürgermeister das Dekret verkündet hatte. Eiskalt und gefühllos. Ein Schmierlappen sondergleichen, auch jetzt. Ihre geheime Hoffnung wäre gewesen, dass Tristan Jonas Bitte ausschlagen und ihn alleine lassen würde. Aber das Helfersyndrom ihres Begleiters kam erneut zum Vorschein. Der junge Leutnant war nach Elenas Wahrnehmung jemand, der nicht Nein sagen konnte.
"Was wird das hier jetzt? Redet ihr nicht mit mir?", rief Jonas fragend hinterher und sputete sich, zu den beiden aufzuschließen.
"Wir reden generell wenig", gab Tristan zurück und ging unbeirrt weiter.

Zur Abenddämmerung bestimmte der junge Leutnant eine Lichtung als Nachtquartier.
Elena baute mit ihm zusammen das kleine Zelt auf, dass sie von den Kantonesen gestohlen hatten. Zwischenzeitlich war es nachts bitterkalt und ohne Schutz unter dem freien Sternenhimmel zu schlafen, war unmöglich.
Jonas blickte auf das Zelt und sprach: "Das ist ja jämmerlich winzig. Wie sollen wir da drin Platz haben?"
"Gar nicht. Es ist das Zelt von Elena und mir. Und das bewohnen wir auch künftig zu zweit", entgegnete Tristan mit einer ungewöhnlichen Strenge.
Der Bürgermeister empörte sich: "Und wo soll ich dann schlafen? Hier draußen, im Dreck?"
Schulterzuckend gab Elena zurück: "Mach es halt so wie bisher. Ich mein, sonst hast du ja auch irgendwo im Wald gepennt, ohne unser Zelt..."
Mit großen Augen starrte Jonas schweigend auf das Mädchen. Er biss sich auf die Lippen und verlor kein Wort mehr über dieses Thema. Elena hatte mit mehr Gegenwehr gerechnet.
Nach einem mageren Abendessen rollte sich Jonas in einem Laubhaufen zusammen, als wäre er ein Feurigel.
Elena und Tristan verschwanden im Zelt. Dank der flackernden Petroleumlampe, die der junge Mann vor sich hielt, erkannte sie seinen nachdenklichen Gesichtsausdruck. Die Neugier packte sie. Zu gerne hätte das Mädchen gewusst, was ihr Begleiter dachte. Irgendwas mit Jonas... Aber weil der draußen lag und jedes Wort hätte hören können, biss sich Elena auf die Zunge.

Nach einem weiteren schweigsamen Tag kam das Trio abends an der Stadtmauer von Rosalia an. Das Tor war bereits geschlossen. Nur nach einer Personenkontrolle wurde der Nebeneingang geöffnet und die kontrollierte Person in die Stadt gelassen.
Aufgrund ihrer Steckbriefe kam es für Tristan und Elena nicht in Frage, sich jener Kontrolle zu unterziehen. Zwar hatte sie eine andere Haarfarbe als der Steckbrief angab, aber ob das bei einer expliziten Kontrolle wirklich helfen würde? Die beiden versteckten sich im Dickicht unweit der Stadtmauer.
Jonas hingegen verabschiedete sich knapp und meinte, dass er eine weitere Nacht im Dreck nicht aushalten würde. Nach einer unauffälligen Personenkontrolle verschwand er in der Stadt.
"Endlich ist der Typ weg", atmete Tristan auf, als er das Zelt aus dem Rucksack holte und mit dem Aufbau begann.
Dass sich der junge Mann so herablassend über jemanden äußern würde, hatte Elena nicht erwartet: "Du kannst ihn auch nicht leiden? Ich find, der ist voll der Schmierlappen."
"Und er kommt bei uns an und stellt Forderungen. Er will nach Hause, er will Essen, er will ins Zelt... Statt dass er froh wäre, dass wir ihn überhaupt mitnehmen", zählte der schwarzhaarige Kerl auf und äffte ihn nach.
Da kam Elena ihr gestriger Gedankengang wieder in den Sinn: "Findest du es nicht auch komisch, dass er gar keine Ausrüstung dabei hat? Ich mein, wenn er am selben Tag geflohen ist wie du, dann ist der ja auch schon drei Wochen unterwegs."
Der junge Mann fasste sich ans Kinn: "Das ist wahr, das habe ich mich ehrlich gesagt auch schon gefragt. Seit drei Wochen unter freiem Himmel schlafen, aber unser Zelt fordern, weil er nicht draußen sein kann. Das passt nicht zusammen."
Er blickte in Richtung Stadtmauer und seufzte: "Aber fragen können wir ihn ja jetzt nicht mehr."
"Zum Glück", grinste Elena hämisch.
Tristan nickte: "Ja, zum Glück!"

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