6. Überall Helden

Albert hatte Julius über den Nordwald aus Teak hinausgeführt: "Ihr jungen Hüpfer wollt immer schlau sein, dabei kennt ihr noch nicht mal die Schleichwege, die sich euch bieten."

Der Kerl ging nicht weiter auf das Gerede seines Begleiters ein, denn sonst hätte er sich nur mit ihm zerstritten.

"Weißt du dann zufällig auch, ab wann wir wieder fliegen können, ohne von der johtolesischen Luftabwehr abgeschossen zu werden?", wollte Julius wissen.
Der Alte zuckte mit den Schultern: "Wie wär´s mit ausprobieren?"

Zum Abend lag Teak bereits mehrere Kilometer hinter ihnen. Der Teaker Nordwald ging direkt über in den nördlichen Wald der Weite. Doch auch dieser wunderbare dichte Bewuchs hatte einmal sein Ende und kahle Dürre würde Einzug halten.

Schon wieder musste Julius hier laufen. Er hatte genug von dieser Umgebung.
"Hast du mehr mitbekommen von General Hermann? Wann er losmarschiert?", fragte der ehemalige Bürgermeister.

Albert schüttelte den Kopf: "Nicht so. Ich weiß, dass er schon mobilgemacht hat und dass er in den nächsten Tagen Teak passiert. Und dann hat er ungehinderte Fahrt hierher." Dabei nickte er in Richtung Süden und meinte damit Oliviana.

"Wenn wir nicht fliegen können, dann kommen wir ja nur knapp vor ihm dort an", zweifelte Julius und runzelte die Stirn.

Der Azaleaner verdrehte die Augen: "Hast du schon mal Truppen marschieren sehen? So langsam wie die können wir gar nicht sein. Außer natürlich, du lahmst irgendwann."

Julius Wanderung nach Oliviana verlief dieses Mal anders; er hatte Vorräte dabei und musste nicht mehr stundenlang Essen suchen. Außerdem war es nicht mehr so flimmernd heiß wie Anfang Oktober, als er zum ersten Mal hier gelaufen war.

So erreichten die beiden nach vier Tagen einer intensiven und nicht nachlassenden Wanderung das Küstenstädtchen im Morgengrauen. Dass der Alte diese Tortur ohne ein Wort des Jammerns durchhielt, verwunderte Julius. 

In aller Früh marschierten sie über den noch leeren Marktplatz von Oliviana. Die Händler würden erst später kommen und für geschäftiges Treiben sorgen. Die Sonne kroch hinter den Häuserdächern hervor und schien auf die steinernen Fassaden der gegenüberliegenden Gebäude.

Julius führte an und ging auf direktem Wege zum Rathaus. Ob Bernd überhaupt schon in der Arbeit war? Das Tor des eisigen Rathauses ließ sich öffnen, es musste also schon jemand hier sein. Eine beklemmende Kälte kroch auf Julius Haut.

"Was ist das denn für ein Scheißladen? Da ist´s draußen ja noch wärmer", äußerte Albert seinen Unmut.

Eine Tortur ohne Jammern hinter sich bringen, aber wegen so einer Kleinigkeit wie Kälte ausrasten; das war typisch für den alten Azaleaner.

Der junge Kerl beachtete ihn nicht weiter und ging stattdessen zum Tresen. Dahinter fand er Bernd vor, der in seinem Stuhl ein Nickerchen hielt. Erst wich Julius zurück, um ihn nicht zu stören. Doch dann schrak der Kapitän hoch und wischte sich den Sabber aus dem Gesicht.

Er zwinkerte ein paar Mal mit den Augen und warf dann seinen Blick auf Julius. Ein breites Grinsen überkam ihn: "Hay Julius! Salve mein Freund, wie geht's dir?"

"Was´n das für ein Kasper?", knurrte Albert im Hintergrund.
"Grüß dich Bernd!", erwiderte der Teaker: "Nicht gut; wir müssen reden!"

"Was, wieso denn?", fragte der Kapitän: "Du hättest mich auch anrufen können. Ich hab dir doch gesagt, dass wir schon Telefone haben." Dann nickte er auf Albert und fragte mit großen Augen: "Und wer ist dein Begleiter?"

Julius stellte vor: "Der Depressive hier ist Albert und ehemaliger Bürgermeister von Azalea. Er ist mit verantwortlich für das politische Chaos, das wir derzeit haben."

Der Sonnengebräunte blickte interessiert von Julius auf Albert und dann wieder auf Julius, als wollte er damit sagen: erzähl mir mehr.

Schließlich kam der junge Kerl der vermeintlichen Bitte nach: "Er hat in Azalea einen Widerstand gegründet, der König Raul stürzen wollte. Der ist geflüchtet und General Hermann ist seitdem unser Diktator..."

Bernd wich zurück: "Ein Diktator? Scheint ja eine unangenehme Person zu sein!"

"Ja, das ist er...", bestätigte Julius: "Und viel schlimmer noch; er ist auf dem Weg hier her und will Oliviana angreifen."

Der Kapitän wich zurück: "Wieso? Und wann?"

"In den nächsten Wochen... Hermann hat aus einer vermeintlich sicheren Quelle gehört, dass du die kantonesischen Truppen über Oliviana an Land lässt und um das zu verhindern, greift er euch präventiv an."

Bernd prustete aus: "Wer erzählt denn so einen Schwachsinn? Der sollte froh sein, dass wir Kanto noch nie gewähren ließen... Jetzt, wo ich so drüber nachdenke, scheint mir Raul die bessere Wahl der beiden zu sein." Dann blickte der Gebräunte auf Albert und meinte: "Aber leider war jemand unter uns anderer Meinung."

Der Azaleaner verdrehte die Augen: "Ja, ich geb´s zu; es ist alles meine Schuld."
"So ist das nun mal, wenn man sich wichtig machen muss", erniedrigte Bernd und streute weiter Salz in die Wunde.

Julius räusperte sich: "Darf ich daran erinnern, dass es jetzt vorrangig um die Verteidigung der Stadt gehen sollte?"

Verwundert blickte der Kapitän auf: "Was? Wieso denn? Wir haben doch Lugia. Deine Freundin kann es doch rufen."

Deprimiert blickte Julius zur Seite, weshalb Albert für ihn antwortete: "Ist wohl so, dass sie unschöne Familiengeheimnisse von seinem Opa erfahren hat. Und außerdem ist sein Opa generell dagegen."

Empört erhob sich Bernd: "Hay, was? Aber wieso soll sie Lugia denn nicht rufen?"
Julius erklärte die Gründe, die sein Großvater nannte: "Weil immer jemand durchdreht, wenn ein legendäres Pokémon jemanden auserwählt hat und er selbst nicht der Auserwählte ist."

Da erhob der Kapitän seine Hände fragend in die Luft: "Wer soll denn deswegen durchdrehen? Man sollte froh sein, wenn jemand die Hilfe eines Legendären bekommen kann."

Julius atmete tief ein: "Wie dem auch sei: wir müssen die Verteidigung der Stadt organisieren."

Bernd spottete: "Ha, soll das ein Witz sein? Wir haben nie jemandem was getan. Wir haben noch nicht mal eine Stadtmauer. Lugia wird uns schon helfen."

Albert konnte über diese Haltung nur den Kopf schütteln.
Er haute auf den Tresen und beugte sich hinüber zum Kapitän: "Soll ich dir was erzählen, du verbrennter Trottel?" 

Verwundert deutete Bernd auf sich: "Meinst du mich?"
Der Alte nickte: "Azalea ist eine kleine Stadt am Arsch der Welt. Und selbst wir haben eine Stadtmauer, obwohl es unwahrscheinlich ist, dass unsere Stadt je relevant wird. Aber: sicher ist sicher."

Mit einem übertriebenem Sicherheitsgedanken war niemand in Oliviana groß geworden.

So winkte der Kapitän ab: "Selbst, wenn wir heute mit einem Mauerbau beginnen, werden wir bis zu diesem Angriff sowieso nicht fertig."
Albert keifte: "Bist du dumm oder so?"
"Och, eine Unverschämtheit! In den Kerker sperren müsste man dich!", schrie Bernd empört aus.

Mit zusammengekniffenen Augen blitzte der Azaleaner auf: "Mach doch. Wenn Johto hier angreift, holst du mich sowieso wieder raus, weil keiner zum Kämpfen da ist, du Vollidiot."

Julius wollte die Situation beschwichtigen und vermittelte: "Albert; bitte nimm dich jetzt ein wenig zurück. Bernd; es ist wirklich wichtig, die Stadt zu verteidigen..."
Aber der Olivianer war nicht belehrbar.

Frustriert verließ das Duo das Rathaus. Wenigstens die Wärme der Sonne konnte ihren Gemütszustand aufheitern.
"Und jetzt?", fragte Albert und machte zwei Vorschläge: "Bis zum Angriff die Zeit totschlagen und kämpfen oder gleich abhauen?"

Julius Pflichtgefühl kettete ihn an die Küstenstadt: "Du kannst gerne nach Hause. Aber ich werde hier bleiben."
Albert wandte direkt ein: "Nach Hause? Wo soll das sein? In den Zinnturm? Nach Azalea kann ich auch nicht mehr, also was soll´s. Dann geh ich halt mit dieser Drecksstadt unter."

"Vielleicht bekommen wir ja noch Verstärkung", hoffte Julius.
Der Azaleaner fasste sich ans Kinn: "Cecilia, hm? Ob sie schon von Oliviana weiß? Und ob sie überhaupt bereit ist, hierherzukommen, wenn sie weiß, dass du hier bist?"

Diese Worte versetzten dem jungen Kerl einen einen Stich ins Herz. Es war aber die Realität; nachdem, was sein Vater angerichtet hatte, hätte Julius bei Cecilia niemals mehr eine Chance. Es war eine Tatsache, die er bisweilen verdrängt hatte, denn er konnte nicht von ihr ablassen. All die Jahre über, die Julius sie nun kannte, wurden seine Gefühle zu ihr immer stärker.

Sie buchten sich in einer Pension neben dem Leuchtturm ein. Nach dem gemeinsamen Abendessen gingen Albert und Julius noch einmal raus und beratschlagten sich weiter, bis ihre Köpfe rauchten. Jedoch sollten die beiden Unterstützung in einer Form bekommen, mit welcher sie nicht gerechnet hatten.

Ein Gallopa mit glühender Mähne erhellte die Umgebung in der Abenddämmerung. Julius warf nur einen flüchtigen Blick auf das Pokémon. Albert hingegen blieb stehen und kniff seine Augen angestrengt zusammen.

"Ich glaub´s ja nicht", wisperte der Azaleaner fast schon mit Freude aus.
Überrascht sah Julius auf seinen Begleiter.

Das Feuerpferd hielt vor den beiden an und der grauhaarige Reiter stieg ab.
Er hielt kurz inne und wandte sich dann zu Albert: "Dass du alter Sack noch lebst, wundert mich."

"Das Gleiche könnte ich von dir auch sagen, Lorenz", gab der Azaleaner zurück: "Salve."
"Salve", erwiderte Lorenz.
Julius hakte ein: "Ihr kennt euch?"

Im Gleichklang gaben die zwei Alten von sich: "Alle alten Leute kennen sich untereinander."

Lorenz griff die Zügel seines Gallopas und schloss sich den beiden an: "Wo geht's hin? Zum Strand?"
"Wie Ihr wollt", meinte der Teaker.

"Hast also mein Taubsi bekommen, was?", fragte Albert auf dem Weg.
Lorenz nickte: "Sonst wär ich auch nicht los. Wundert mich aber, dass es mich gefunden hat. War ´n feiner Zug von dir, nach dem Angriff auf Ebenholz gleich nach meinem Wohlbefinden zu fragen."

Der Azaleaner zuckte mit den Schultern: "Manchmal weiß ich halt doch, was sich gehört."

Mit offenem Mund und gerümpfter Nase starrte Julius auf den Alten: "Ihr habt Ebenholz überlebt?"

"Der junge Avila und ein paar seiner Leute haben ´ne Evakuierung in die Wege geleitet. Ein paar sind davon gekommen."

Die Augen des jungen Teakers leuchteten auf: "Dann lebt Cecis Bruder noch?"

"So ist es."

Am Strand angekommen ließ Lorenz sein Dratini in die Fluten.
Voller Anerkennung bemerkte Albert: "Hast jetzt ein Dratini, wie ich sehe."

Lorenz nickte stolz: "Im Gegensatz zu dir musst ich mir ja ´n Ersatz beschaffen, nachdem diese Idioten mir mein Onix weggenommen hatten. Und wie geht's deinem Sichlor?"

"Ist kein Sichlor mehr", zuckte der Azaleaner mit den Schultern.
Julius blickte immer wieder von den einen auf den anderen und fragte sich, wer der Langweiligere war. Er glaubte, es war Albert, aber wahrscheinlich auch nur, weil er die letzten Tage mit ihm gereist war.

Der azaleaner Bürgermeister präsentierte sein feuerrotes Käferpokémon: "Hab jetzt ´n Scherox, hier!"
Lorenz verneigte sich vor ihm: "Nicht schlecht. Hätte ich dir gar nicht zugetraut."

Der junge Kerl zog Augenbraue hoch und warf ein: "Seid ihr zwei Brüder oder sowas?"

Dafür erntete er fragende Blicke der beiden ergrauten Männer: "Wie kommst du denn auf so ´nen Schwachsinn?"

"Nur so", winkte der junge Kerl ab, um nicht in Schwierigkeiten mit den beiden zu geraten.

Albert begann begeistert, so begeistert er eben sein konnte, zu erzählen: "Wir waren zusammen beim Militär, was denn sonst? Lorenz war auch ein Celebi-Verehrer. Ihr mit euren komischen Vögeln wart mir schon immer suspekt. Naja. Und die andren waren irgendwie langweilig."

Die anderen waren langweilig?
Julius fragte sich, wie langweilig der Rest der Truppe gewesen sein musste, wenn Lorenz für Albert der Lustigste davon war. Oder war der Rest einfach normal und die beiden Langweiler haben sich für´s Leben gefunden?

Lorenz vollendete: "Hatten ´ne gute Zeit. Hätten den Krieg beenden und echt was bewegen können, nicht?"

Julius fragte den Alten direkt: "Und was hat euch daran gehindert, etwas zu bewegen?"
"'N Mörder", antwortete Lorenz ehrlicherweise.
Aber Albert winkte ab.

Aus dem weiteren Gesprächsverlauf konnte Julius raushören, dass Lorenz zur Unterstützung gekommen war, sodass er sich direkt bei dem Merbaumer beklagte: "Bernd will nicht auf mich hören. Er unternimmt überhaupt nichts, um seine Stadt zu verteidigen!"

Lorenz nickte: "Hab ich auch grade mitbekommen. Ganz schöner Trottel, denen ihr Bürgermeister. Da glaub ich glatt, dass unser Albert hier noch der bessere Bürgermeister war. Und der war ja schon schlecht!"

Albert ließ sich dies natürlich nicht gefallen: "Ich bin ´n besserer Bürgermeister als du ´n Pokémontrainer."

Julius ließ sich nicht weiter irritieren: "Und wie machen wir jetzt weiter? Sollen wir alleine gegen Hermann kämpfen?"

Lorenz schüttelte den Kopf: "Willst du den Heldentod?"
Der junge Kerl entgegnete unbeirrt: "Aber wir müssen es versuchen."
"Seh ich auch so", warf der Azaleaner ein und unterstützte seinen jungen Begleiter.

Der Merbaumer hielt sich die Hand an die Stirn und schüttelte den Kopf: "´N Held neben dem nächsten. Da fühlt man sich direkt minderwertig." 

"Das darfst du auch, du Nichtsnutz!", giftete Albert.

Lorenz seufzte aus und erzählte: "Okay, vielleicht haben wir ja noch eine Chance zu überleben. Mit mir ist der Avila-Erbe gereist, der jetzt in Teak seine Schwester sucht. Vielleicht kommen die ja noch rechtzeitig hier an. Und vielleicht haben die ja irgendwie Freunde, die sie mitbringen können. Im Gegensatz zu euch. Andererseits wüsste ich auch nicht, was mich eine Stadt angeht, die sich so sehr gegen ihr eigenes Wohlbefinden sträubt."

"Die Sonne hat halt dem Kapitän sein Gehirn verbrutzelt", erklärte Albert und streckte beide Hände seitlich von sich.
"Hm", überlegte der Merbaumer und rieb sich das Kinn: "Vielleicht ist der Rest hier ja nicht so dumm. Vielleicht sollten wir uns mit den Leuten hier zusammen tun?"

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