40. Der Wächter des Himmels

Sein Herz pochte ihm immer noch bis zum Hals. Zwar war Tristan schon einmal auf einem legendären Pokémon mitgeflogen; nachdem es seiner Schwester gelungen war, Lugia zu rufen, machten sich die Geschwister auf dessen Rücken auf den Weg nach Oliviana.

Dass er selbst einmal Auserwählter sein würde, und dann auch noch von der Legende des Himmels, hatte der junge Mann nicht zu träumen gewagt. Welch Ironie des Schicksals; musste er Ho-Oh rufen, um Lugia vom Bösen zu erlösen.

Skeptisch blickte der schwarzhaarige Kerl hinter sich. Schon seit er in Teak losgeflogen war, war Theo nicht mehr hinter ihm. Für eine Weile wies er Ho-Oh an, langsamer zu fliegen, damit Dragoran eine Chance hatte, zu ihm aufzuschließen. Als der Drache immer noch nicht aufgetaucht war, setzte der Phönix wieder mit vollem Tempo fort.

Hatte Theo einen Rückzieher gemacht? Ob Dragoran ihm nicht gehorchte? Tristan hatte keine Zeit, länger auf den Jungen zu warten. Er musste sich auf den bevorstehenden Kampf gegen Lugia konzentrieren.

Am Horizont erhob sich der wolkenverhangene Silberberg. Wie eine Schwertspitze ragte der Gipfel über alle anderen Berge empor. Für den Auserwählten blieb nichts anderes übrig, als sich auf einen rapiden Wetterumschwung gefasst zu machen.

Er überflog die östliche Landesgrenze und gelangte, wie einen Tag zuvor, über das Schlachtfeld. Unlängst tobte ein Kampf. Viele von den Soldaten mussten bereits gefallen sein.

"Ich bin zu spät", wisperte der junge Mann und gab sich die Schuld für das sinnlose Sterben. Wäre er doch nur ein paar Stunden eher gekommen... hätte er Ethan doch nur ein paar Stunden eher in seine Schranken verwiesen. Kanto hätte kapitulieren müssen und die Schlacht hätte nie stattgefunden.

Doch wo war Lugia überhaupt? Ursprünglich war Tristan davon überzeugt, dass Ethan es in der Schlacht gegen Johto einsetzen würde.

Ho-Oh stieß einen schrillen Schrei aus.
Der junge Mann verzog eine Augenbraue in die Höhe: "Wenn Lugia nicht hier ist, dann wohl in Indigo. Oder weißt du, wo es sein mag?"
Der Phönix legte seine Flügel an und erhöhte abermals sein Tempo. Es steuerte in direkter Richtung auf die kantonesische Königsstadt zu, die noch hinter einem Wolkenschleier verborgen lag. Im Sturzflug schoss Ho-Oh durch die Wolkendecke und präsentierte sich vor dem feindlichen Königspalast.

Tristan suchte die Umgebung ab und entdeckte Lugia im Garten sitzend hinter dem Palast. Ethan gestikulierte wild mit seinen Armen vor einem anderen Mann. Derjenige trug eine Krone auf dem Haupt und hatte einen roten Samtumhang. Er war ganz klar als der kantonesische König Artto zu identifizieren.

Mit offenen Mündern starrten die beiden dem legendären Feuervogel entgegen. Das schwarze Lugia bäumte sich auf. Sofort sprang Ethan zu seinem gestohlenen Pokémon und stieg auf. Mit einer Druckwelle stieß sich der Drache vom Boden ab und erzeugte dabei sturmartige Böen.
"Pass auf, Ho-Oh! Für einen Sieg würde er alles tun", riet der Auserwählte.

Sein Patron hingegen blieb gelassen und hielt die Höhe mit ein paar lockeren Flügelschlägen.
Tristan biss sich auf die Unterlippe, als er Lugia auf sich zuschießen sah: "Äh, ich will ja nichts sagen, aber Lugia..."

Entschlossen sah der Phönix seinem Schicksal entgegen und rührte sich nicht.

"Was wird das hier, Ho-Oh?", fragte der junge Mann mit zittriger Stimme.
Erst im allerletzten Moment ließ sich der Feuervogel einige Meter hinunterfallen, sodass Lugias Beine nur wenige Zentimeter über Tristans Kopf hinweg schrammten.

Blut rauschte in seinen Ohren und er schüttelte erleichtert den Kopf: "Verstehe, du magst es dramatisch."
"Gyiah", stieß Ho-Oh aus. Sofort flog es eine Schleife und wandte sich dem besessenen Pokémon zu.

Dreckiges Gelächter hallte durch den Himmel: "Der Avila-Junge also. Wie habt Ihr es nur wieder geschafft? Wie kann es sein, dass Ihr Ho-Oh an Eurer Seite habt?"

"Ich bin sein Auserwählter", entgegnete er mit strengem Blick.
Ethan seufzte, keifte dann aber: "Ich wusste es. Ich hätte Euch längst aus dem Weg räumen sollen! Aber seis drum. Dann eben heute!"
Tristan kniff die Augen zusammen: "Versucht es doch, Nicht-Auserwählter!"

"Was macht das für einen Unterschied?", entgegnete der General und zuckte mit den Schultern: "Lugia gehorcht mir, ob ich sein Auserwählter bin oder nicht."

Der schwarzhaarige Kerl war sich hingegen ganz sicher: "Irgendwann wird Euch das aber zum Verhängnis."

"Pah", grunzte sein Feind aus und eröffnete den Kampf: "Lugia, Luftstoß!"

Mit genau dieser Attacke wollte er Tristan schon einmal töten.
Stattdessen wäre Elena um ein Haar... Nein! Daran durfte er nicht denken! Der junge Mann musste sich auf den Kampf konzentrieren; auf den wahrscheinlich wichtigsten Kampf seines gesamten Lebens.
"Schutzschild", befahl der Auserwählte und fügte flüsternd an: "Wenn du das überhaupt kannst."

Ho-Oh erzeugte einen Schutzschild, kreiste dann erneut über den Königspalast.
Ethan war wütend geworden: "Feigling! Luftstoß. Und jetzt triff gefälligst."

Der schwarze Drache pumpte sich auf. Der Phönix flog immer tiefer; immer näher an den Palast heran. Den General kümmerte dies nicht, ebenso wenig wie sich Lugia dafür interessierte. Das einzige Ziel der beiden war es, einen Treffer zu landen. Mit jedem Mittel zu jedem Preis.

Ho-Oh zeigte sich unbekümmert und schwebte knapp vor dem einschlagenden Luftstoß quer über den Palast. Dachziegel und Holzsplitter durchdrangen wie Geschosse die Luft. Staub wirbelte auf, doch noch bevor dieser Tristan die Sicht versperren konnte, war sein Phönix schon wieder davon geflogen.

In einer sauberen Kurve steuerten die beiden direkt auf Lugia zu.
Tristan erkannte dies als seine Chance: "Jetzt Ho-Oh! Läuterfeuer!"
Der rote Vögel öffnete seinen Schnabel und formte eine Flamme. Ein buntes Feuer in gold, rot und blau schoss aus seinem Maul, direkt auf den besessenen Drachen zu. Der Sieg schien zum Greifen nahe, aber natürlich wich Lugia dem Angriff aus.

Wieder war das gestohlene Pokémon am Zug, setzte erneut zum Luftstoß an.
"Halt, aufhören. Nicht weiter auf den Palast schießen", ertönte von dort unten eine Ansage mittels Sprachrohr, gerichtet an Ethan.
Der murrte hasserfüllt: "Und wie zum Giratina soll ich uns die zwei vom Hals schaffen?" Dann schmunzelte der General, als hätte er eine brillante Idee: "Ho-Oh ist ja eh nur wegen Lugia hier, was?" Aus tiefster Kehle schrie er: "Los Lugia, auf zum Silberberg."

Der schwarze Drache flog über Tristans Kopf hinweg, dem nichts anderes übrig blieb, als mit offenem Mund hinterherzustarren. Als Ho-Oh aufschrie und seine Anweisungen erwartete, kam er wieder zu Sinnen.

Der junge Mann schüttelte seinen Kopf, um aus seinem Tagtraum zu erwachen und befahl: "Natürlich, du hast Recht. Los!"
Sofort schoss der Phönix seinem Wächterkameraden hinterher und tauchte ein in die Wolkendecke. Der Nebel versperrte Tristan die Sicht. Wie Tau schlugen Wassertropfen auf seinem Gesicht nieder und ließen ihn pitschnass werden.

So lange ohne Orientierung zu sein, behagte dem jungen Mann überhaupt nicht. Immerzu fürchtete er, von einer Attacke Lugias angegriffen zu werden. Ausweichen wäre dann in jedem Falle unmöglich.

Endlich durchdrang Ho-Oh den Nebel und schwebte über den Wolken. Erst war Tristan geblendet von der Helligkeit. Mit engen Augen blickte er sich um. Wenige hundert Meter vor den beiden flog Lugia mit Ethan. Er wollte also tatsächlich zum Silberberg. Ob er dort gegen das johtolesische Heer eingreifen wollte?

Aber weswegen stieg der General dann in diese unnötigen Höhen auf? War es doch nur Ablenkung?

Immer schneller schoss Lugia zu jener steinernen Schwertspitze; dem Silberberg. Dann versank es jedoch wieder im Wolkenmeer. Offenbar wollte Ethan wirklich in der Schlacht angreifen.

"Immer hinterher", sprach der junge Mann zu seinem Patron.
"Gyiah", schrie Ho-Oh aus und stürzte sich ebenso in das Nebelmeer.

Teilweise mussten zwischen dem roten Feuervogel und dem Gesteinsmassiv nur wenige Meter gelegen haben. Wo genau die Freiheit endete und der Silberberg begann, vermochte Tristan nicht zu sagen. Ihm blieb nichts Weiteres übrig, als Ho-Oh zu vertrauen.

Die Sicht wurde wieder klar; so klar sie in einem Schneesturm eben sein konnte. Durch seine Schwarzfärbung war Lugia aber ohne Probleme zu erkennen. Es steuerte direkt das Schlachtfeld an, pumpte sich auf und stieß einen Luftstoß aus. Einmal quer durch das johtolesische Heer zog es seinen Angriff.

"Nein!", schrie der junge Mann und streckte eine Hand nach dem
schwarzen Drachen aus: "Ho-Oh, bitte hilf mir, ihn aufzuhalten."
Das besessene Pokémon speite seinen Luftstoß so lange aus, bis es am Ende der Soldatenreihen angelangt war. Es flog eine Schleife und kehrte für einen erneuten Angriff zurück. Die noch lebenden Soldaten waren in Panik geraten und duckten sich wegen der imposanten und bösartigen Erscheinung des Drachens weg. Eine echte Chance zu überleben hatten diese Männer nie.

Würde sie Lugia nicht erwischen, würden die kantonesischen Bodentruppen im Kampf für ihre Tötung sorgen.

Aber tat sich für diese Männer am Boden doch noch ein Hoffnungsschimmer auf.
"Ho-Oh!", riefen die johtolesischen Soldaten reihum.
Erstaunt blickte Tristan zu seinen ehemaligen Kameraden hinunter, als er Applaus und Jubelschreie von dort vernahm.

Für sich murmelte er: "Die denken bestimmt, dass wir gleich die Kantonesen anzünden, aber ich weiß, dass das nicht deine Art ist, Ho-Oh."

Immerhin war der Phönix ein Vogel des Lebens und der Wiedergeburt. Er verleihte die Macht, Tote auferstehen und Kranke genesen zu lassen. Aber niemals würde Ho-Oh seine Kraft einsetzen, um Leben zu nehmen.

Der Auserwählte konnte den Johtolesen also nur helfen, nicht von Lugia getötet zu werden. Für die Schlacht war er jedoch nicht zuständig. Seine Mission war außerdem eine gänzlich andere; Lugia musste immer noch erlöst werden.

Bevor der schwarze Drache erneut angreifen konnte, ging Ho-Oh dazwischen und drängte ihn ab. Wieder setzte es zum Läuterfeuer an, aber Ethan war schneller und er befahl den Abflug.

Sofort hetzte der Phönix seinem Wächterpartner hinterher. Für Tristan war es jetzt vielmehr so, als wäre er nur Zuschauer in dem ganzen Spiel. Es war beinahe so, als musste er Ho-Oh nur den Auftrag nennen und den Rest würde es von selbst erledigen.

Der kantonesische General schien Gefallen daran gefunden zu haben, durch die Wolken zu fliegen. Abermals durchquerte er diese mit seinem Lugia, dicht gefolgt von Ho-Oh. Als Tristan mit seinem Patron wieder aus dem Nebel empor schoss, wurden die beiden direkt von einem Luftstoß begrüßt.

Genau das, was er befürchtet hatte. Der Phönix war schnell genug um auszuweichen und fing sich sofort wieder.

So standen sich die beiden nun gegenüber.
Tristan gegen Ethan; Schüler gegen falschen Mentor.
Ho-Oh gegen Lugia; die Legende des Himmels gegen die Legende des Meeres.
Ein reines Herz gegen ein versiegeltes Herz.

Einzig die Spitze des Silberberges sowie die untergehende Sonne, die ein paar Strahlen vom Himmel schickte, waren Zuschauer dieses Spektakels.
"Möge der Kampf beginnen."

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