38. Der Ruf der Legende
Als Dragoran Teak erreichte, befahl Tristan: "Flieg vor das Wachhaus."
Franz musste sich dort befinden. Sachte landete der Drache vor dem Gebäude. Der junge Mann sprang in eine Schneepfütze, die sich wegen des wärmeren Wetters im Flachland gebildet hatte. Dabei spritzte er versehentlich ein paar Wassertropfen auf Dragoran. Der bösartige Blick des Pokémons sagte alles aus, was man wissen musste.
Der schwarzhaarige Kerl schaute auf Theo, der unbeholfen zum Absprung ansetzte.
Er reckte dem Jungen eine Hand entgegen, um ihn aufzuhalten: "Vorsicht!"
Doch war es längst zu spät und Dragoran hatte die nächsten Wassertropfen, dieses Mal durch Theo, abbekommen. Erzürnt bließ der Drache seine Nasenflügel auf und sein Auge zuckte.
Die beiden Kerle warfen sich gegenseitig verängstigte Blicke zu: "Ist er sauer?"
"Er wird doch jetzt nicht gleich einen Wutanfall haben...", piepste Tristan und holte Dragoran in seinen Pokéball zurück.
Erleichtert seufzte Theo aus: "Wenn einmal Elena nicht da ist... Dieses Viech..."
Der schwarzhaarige Mann fasste sich ans Kinn: "Ich habe nicht geahnt, dass Dragoran zu so einer Diva mutiert ist. Als Dratini hat es sich immer im Dreck gewälzt, aber gut."
Der Junge runzelte die Stirn: "Meinst du, er fliegt uns überhaupt noch einmal?"
Tristan winkte ab: "Wenn wir Glück haben, brauchen wir ihn nicht mehr."
Er wandte sich zum traditionellen Wachhaus und klopfte an. Da keine Antwort kam, öffnete der junge Mann langsam die Tür. Franz war nicht hier. Fahl fiel das Licht in den Raum. Theo musterte mit offenem Mund die Holzornamente an den Wänden, die allesamt Ho-Oh zeigten.
Einzig ihre eigenen Schritte auf dem Holzboden waren zu hören. Die beiden durchquerten den Raum und verließen das Gebäude über die Hintertür, die zum Glockenklangpfad führte.
Der Schnee hatte sich auf die goldenen Blätter der Bäume gelegt. Der schimmernde Teppich aus Laub war von Eiskristallen bedeckt. Nur vereinzelte Blätter deuteten darauf hin, dass auf diesem Pfad das ganze Jahr über Herbst war.
"Schaut das hier immer so aus?", fragte Theo mit großen Augen.
Darauf wusste Tristan keine Antwort. Nie hatte er den Glockenklangpfad im Frühling oder Sommer besucht.
Selbst hier draußen unter freiem Himmel herrschte Stille. Kein Habitak pfiff oder Taubsi sang. Der Weg zum Zinnturm erschien leblos. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Angesichts der bevorstehenden Kämpfe machten sich in Tristan Versagensängste breit. Nur zögerlich trat er an das Tor des Zinnturms und klopfte.
Wieder schob der junge Mann das Tor leise auf. Er warf einen Blick in den Raum und sah Franz kniend vor dem Altar. Offenbar war der Weise mitten im Gebet. Nur ungern wollte er den Alten unterbrechen, aber er konnte nicht warten.
Der junge Mann räusperte sich und wisperte: "Weiser Franz?"
Franz wandte sich um und lächelte, als er die beiden erblickte. Dann aber runzelte er die Stirn: "Ihr seid schon wieder zurück? Was ist den passiert?"
Tristan nickte und griff in seine Jacketttasche: "Elena hat die Buntschwinge gefunden. Hier." Er holte die Feder heraus und erhob sie vor dem Weisen.
Der Alte warf einen ungläubigen Blick auf diese und verneigte sich sodann: "Ho-Oh im Himmel, dass ich das noch erleben darf."
"Ihr wisst, was das bedeutet", sprach der junge Mann und fuhr fort: "Weiser Franz, ich fordere Euch hiermit zum Kampf heraus."
Der Alte nahm mit einem Nicken an: "Gewiss, aber lasst uns nach draußen gehen."
Unter freiem Himmel entsandte Franz sein Gengar in den Kampf. Tristan wählte logischerweise Dragoran, da er sein Arkani nicht zur Verfügung hatte. Als der Drache auf dem Feld stand, verschränkte er gekränkt die Arme und reckte seinen Kopf mit geschlossenen Augen seitlich weg. Die Botschaft war klar: "Dir werde ich nicht gehorchen."
Theo kaute auf seinem Zeigefinger: "Er ist... immer noch beleidigt?"
"Sieht ganz danach aus", seufzte Tristan und rief zu Dragoran: "Drago komm schon. Hilf uns. Was war das vorhin denn schon? Du hast ein paar Wassertropfen abbekommen. Was hätte ich denn machen sollen?"
Gengar prasselte längst mit Attacken auf den Drachen ein; das juckte ihn aber wenig. Immer noch stand es beleidigt auf dem Feld und wollte nicht gehorchen.
Der junge Mann hatte es lang genug mit freundlichen Worten versucht, sodass er nur eine Drohung aussprach: "Wenn du mir jetzt nicht gehorchst, dann sag ich das Elena."
Sofort zuckte Dragoran zusammen, zog seinen Kopf ein und ließ seine Fühler hängen.
"Oh, du reagierst auf mich, schön. Na dann, Drachenstoß!"
Zu Tristans Erstaunen gehorchte der Drache jedem Wort.
Der Drachenstoß peitschte auf Gengar nieder, das sich zu seinem Schutz unsichtbar machte und mir einem Spukballangriff hinter Dragoran wieder auftauchte und ihn direkt in den Rücken schoss. Der Drache, der ohnehin schon wütend war, schnaubte kraftvoll aus und wandte sich mit einem groben Stampfen zu Gengar. Die kochende Wut war in seinen Augen zu sehen; und das alles nur, wegen ein paar Wassertropfen?
Der Drache raste auf Gengar zu und schlug mit roher Gewalt auf den Geist ein. Gengar spukte noch schwarze Schatten mitten in Dragorans Gesicht, aber das konnte ihn nicht mehr aufhalten.
"Na das nenn ich mal eine Drachenwut", kommentierte Theo im Hintergrund. Wie ein sonst recht friedliches Pokémon so ausrasten konnte?
Gengar konnte nichts weiter tun, als klein beizugeben.
Der junge Mann mit einem Heidenrespekt ging zu Drago und lobte es: "Danke, dass du mir geholfen hast, Drago. Du kannst echt gut kämpfen."
Der Weise holte Gengar zurück und winkte den beiden zu, dass sie ihm folgen sollten.
"Ab dem sechsten Stock ist der Turm verriegelt. Ich sperre euch auf. Den Weg nach oben müsst ihr aber alleine finden."
Hier begann die Herausforderung. Der Weg zur Spitze war ein Labyrinth. Mauern durchzogen den Raum. Die Intention der Erbauer war offensichtlich; nicht jeder sollte hinauf gelangen.
Theo seufzte und beschwerte sich: "Den Weg hätte er uns schon zeigen können."
Schulterzuckend entgegnete Tristan: "Wenn er den selber überhaupt kennt. Ich glaube nicht, dass die Weisen so oft hier hoch laufen."
Der Junge runzelte die Stirn: "Wo istn die Treppe?"
Der schwarzhaarige Mann zuckte mit den Schultern: "Keine Ahnung, aber wir werden sie schon finden."
"Ich kapier nicht ganz, warum die die Treppen irgendwo in den Raum gesetzt haben. So baut doch kein normaler Mensch... Aber irgendwie find ich´s witzig", bemerkte Theo mit einem breiten Grinsen.
"Vielleicht, weil ein religiöses Bauwerk anders ist als unsere normalen Wohnhäuser?"
Das Auffinden der nächsten Treppe wurde ausgiebig gefeiert. Zu lange hatte die Suche gedauert, als dass man sich nicht darüber hätte freuen können. Doch der Blick auf die nächste Etage ließ Theos Siegesgegröle schnell verstummen; es war wieder ein Labyrinth.
"Im Bronzeturm ist das sehr viel einfacher...", murmelte Tristan: "Dort befindet sich ein Treppenhaus, das bis zur Spitze führt und Ende."
Sein Begleiter ließ den Kopf hängen: "Warum haben die den Zinnturm so viel anders gebaut?"
Während der schwarzhaarige Kerl marschierte, erzählte er: "Der Zinnturm ist vor ein paar hundert Jahren schon einmal abgebrannt, nachdem Ho-Oh angegriffen wurde. Die Erbauer des neuen Zinnturms wollten wohl sicher gehen, dass niemand mehr so ohne Weiteres hinauf gelangen kann."
Der blonde Junge reckte die Hände in die Höhe und stöhnte: "Oh Mann! Warum kannst du nicht einfach Lugias Auserwählter sein?"
Er winkte ab: "Das ist meine Schwester schon."
Die drei Etagen, auf denen sich ein Labyrinth befand, zogen sich bitterlich. Erst ab dem neunten Stock war der Weg leichter zu finden...
Leichter deshalb, weil der Zinnturm ab hier bis zur Spitze praktisch hohl war.
Es waren keine Decken eingezogen, es gab keinen Boden. Stattdessen waren nur noch einzelne Bretter verlegt, über die man balancieren musste. Der Luxus von Treppen blieb aus. Stattdessen führten Leitern in die nächsthöhere Ebene.
"So ehrgeizig wie die beim Bau von Etage sechs bis acht auch waren... so lachhaft find ich das hier", kommentierte Theo spitz, während er vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte: "Warum sind wir nicht mit Dragoran auf die Spitze geflogen?"
Tristan zuckte mit den Schultern, ließ seinen Blick aber nicht vom Boden ab: "Teil des Tests, denke ich."
Sein Begleiter verzog skeptisch sein Gesicht: "Es ist Teil des Tests, sich in Lebensgefahr zu bringen? Auf morschen Brettern in schwindelerregender Höhe zu laufen?"
"Theo bitte", murrte er: "Ich muss mich auf den Weg konzentrieren."
In der Mitte des Raumes befand sich eine Plattform; mehrere Bretter waren über die Balken gelegt worden. Vermutlich waren die Bauarbeiten nur aus Geldmangel eingestellt worden.
Erleichtert seufzte Tristan auf, als er die breitere Fläche betrat. Doch plötzlich gab der Boden unter ihm nach und er rutschte hinunter. Immer wieder fasste der junge Mann nach, doch zerbröselte jenes Brett unter seinen Fingern und er bekam keinen Halt mehr.
Die Tiefe wartete auf ihn.
Dann aber spürte er, wie sich ein fester Klammergriff um sein Handgelenk legte. Er starrte nach oben, direkt in Theos Gesicht. Zum ersten Mal war Tristan froh, ihn mitgenommen zu haben. Mit einem Lächeln seufzte er aus.
Mit hochrotem Kopf versuchte der Junge, seinen Kameraden nicht fallen zu lassen.
"Komm schon", ächzte Theo: "Wenn du stirbst, dann bring ich dich um."
Tristan bekam ein festes Brett zu greifen, an dem er sich mit Hilfe seines Begleiters hochzog.
Stöhnend ließ er sich auf seinen Rücken fallen: "Danke Theo. Du hast was gut bei mir."
Der verzog eine Augenbraue: "Bleib am Leben, du Depp. Mehr will ich gar nicht."
"Es gab mal eine Zeit, da war es nicht so harmonisch zwischen uns", grinste der junge Mann: "Was hat sich für dich geändert?"
Der blonde Bube atmete noch schwer, ließ seinen Kopf Richtung Tristan hängen: "Elena ist meine beste Freundin. Du hättest sie mal in den Wochen sehen sollen, nachdem du abgereist warst. Nicht auszudenken, wie es ihr gehen würde, wenn du weg wärst vom Fenster." Er erhob abwehrend die Hände: "Ich weiß, ich weiß. Du musst denken, dass ich sie liebe und dich deswegen hasse. Aber so ist das nicht. Ich habe dich schon gehasst, aber nur, weil du der Unheilsbote von Ebenholz warst. Ich konnte dir die erste Zeit einfach nicht vertrauen, als sie schon blind vor Liebe war. Verstehst du das? Aber mittlerweile ist es anders. Mittlerweile glaub ich dir sogar, dass du sie auch magst. Und deswegen, naja, muss ich dir an ihrer Stelle dein Leben retten... Und eigentlich hass ich dich immer noch, weil du das Mädel deiner Wahl bekommen hast. Und ich nicht."
Tristan seufzte: "Mira? Das kriegen wir auch noch hin, Kleiner. Aber erst holen wir uns den Feuervogel."
Endlich erreichten die beiden die Spitze des Zinnturms. Die letzte Leiter führte nach draußen. Sie befand sich am südlichen Rand des Turms und war überdacht. Direkt nach dem Aufgang befand sich der Glockenstuhl mit der Klarglocke darin.
Tristan schirmte seine Augen gegen die Sonne ab und wagte einen Rundumblick um Johto. Das Glitzern des Meeres war am Horizont zu erkennen. Sonnenstrahlen spiegelten sich darin. Davor standen eingeschneite Bäume. In Richtung Süden nahm der Schnee immer mehr ab.
Theo folgte mit offenem Mund: "Wahnsinn, wie die vor 550 Jahren schon sowas bauen konnten und es immer noch steht." Dann holte er Tristan in die Realität zurück: "Ho-Oh wartet auf dich, los!"
Der junge Mann nickte und wandte sich zur Klarglocke: "Der Legende nach soll sie erklingen, wenn Ho-Oh auftaucht. Ich versuche mal, sie zu läuten."
Er beugte sich zum Seil der Klarglocke und zog daran. Nur träge bewegte sich die Glocke von der Stelle, aber sie ertönte nicht.
Sein Begleiter blickte skeptisch drein: "Ich dacht, sie muss klingeln?"
Unbeirrt winkte Tristan ab: "Nichts neues."
Er wandte sich zur allerletzten Leiter, die auf das Plateau über der Klarglocke führte. Jetzt war er am höchsten Punkt des Zinnturms. Er knöpfte seine Jacketttasche auf, holte die Buntschwinge heraus und hielt sie empor: "Ho-Oh, ich rufe dich."
Trotz der Windstille an diesem Tag zog eine Brise auf. Mit der Zeit wurde sie immer stärker und ein heftiger Wind wehte.
Mit Mühe klammerte Theo seinen Umhang an sich: "Was hat das zu bedeuten?"
Mit großen Augen starrte der junge Mann in den Himmel. Ungläubig flüsterte er zu sich: "Wird es das, was ich hoffe?"
Durch die zischenden Windgeräusche war es erst nicht zu hören. Aber dann wurde es lauter; das Klingeln der Klarglocke!
Sein Mund blieb offen stehen. Tristan kniff die Augen zusammen und erkundete den Himmel. War das hinter den Schleierwolken gerade ein Pokémon? Ein mächtiges Pokémon? Kam es überhaupt aus dem Norden? Er wandte sich einmal um die eigene Achse, um auch den Rest des Himmels abzusuchen, doch da war nichts.
Wieder fiel sein Blick in die nördliche Richtung. Jetzt war es klar!
Ein roter Phönix erschien aus den Wolken und nahm klar Kurs auf den Zinnturm. Mit irrsinniger Geschwindigkeit schoss Ho-Oh voran. Kurz vor dem Turm senkte es sein Tempo abrupt und landete vor seinem Auserwählten.
Sprachlosigkeit. Tristans Herz raste. Er atmete schwer. Aus Ehrfurcht fiel er auf die Knie.
Seine Zunge klebte am Gaumen, als er demütig sprach: "Ho-Oh, Legende des Himmels. Ich habe dich gerufen, weil Lugia deine Hilfe braucht. Es ist in böse Hände gefallen und selbst böse geworden. Neben dir ist kein anderes Pokémon dazu fähig, es zu befreien. Hilfst du uns?"
Der rote Phönix streckte dem jungen Mann seinen Kopf entgegen. Erst dachte Tristan, er müsste gegen Ho-Oh kämpfen. Aber seine Schwester war auch nicht gegen Lugia angetreten. Mit fragendem Blick erhob er sich, ging auf Ho-Oh zu und streichelte ihm den Kopf: "Heißt das ja?"
Der Phönix drehte sich seitlich zu Tristan. Das Pokémon senkte den Flügel, damit sein Auserwählter aufsteigen konnte.
"Hey", rief Theo: "Was ist mit mir?"
Der junge Mann griff zu seinem Gürtel und warf dem Jungen Dragorans Pokéball zu: "Vielleicht hört er ja auf dich."
Der Bube prustete aus: "Du bist witzig! Und wohin als nächstes?"
Tristans Blick fiel in Richtung Osten: "Indigo!"
So kacke ist Theo vielleicht hat nicht. Manchmal kann man ihn vielleicht sogar brauchen.
Jetzt ist es also da. Neue Hoffnung für Johto.
Viel Spaß weiterhin!
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