12. Aus heiterem Himmel
Ihr Abendspaziergang verlängerte sich immer mehr in die Nacht hinein. So trottete Cecilia gedankenverloren durch die Gassen von Teak. Sie zog ihren Umhang fester zu, als die Kälte überall hindurch kroch.
Für den morgigen Tag, dem Tag der Befreiung von Viola, hatte die junge Frau beschlossen, Lugia um Hilfe zu rufen. Eine Stadt in Unterzahl verteidigen zu können, war möglich. Da sie sich jedoch als Angreifer in Unterzahl nach Viola begaben, war die Auserwählte auf Lugias Hilfe angewiesen.
Sie kam an ihrem Elternhaus vorbei und blickte traurig auf die Fassade. Dort drinnen; dort geschah der Mord an ihrer Mutter. Es tat ihr ehrlich um Julius leid, den sie nicht näher als nötig an sich heranließ, aber sie konnte nicht anders.
Ihre Verbündeten, die keine Flugpokémon bei sich hatten, machten
sich bereits vor einigen Tagen auf den Weg nach Viola. So war Cecilia mit Linda, Vinzent, Julius und einer Hand voll verletzter Soldaten alleine in Teak. Jetzt war die Stadt wirklich wie ausgestorben.
Für sie wurde es Zeit, zum Versorgungszelt am Marktplatz zurückzukehren, um für die morgige Schlacht ausgeschlafen zu sein.
Plötzlich sprang eine dunkle Gestalt mit Umhang von den Dächern und blockierte ihr den Weg.
Mit einem Blick erkannte sie: "Der Masken-Mann, wie schön..." Ihr Sarkasmus war nicht zu überhören und unwillkürlich rümpfte sie die Nase.
"Oh meine Schöne, du erkennst mich also wieder?", fragte er und verneigte sich vor ihr.
"Pfff", entgegnete Cecilia: "Ich wüsste nicht, dass wir schon beim ,Du' wären!"
Der Maskierte erklärte sich: "Ouh, ich dachte, nachdem du mir letztens in die Zunge gebissen hast..."
"... dass wir eine besondere Freundschaft zueinander haben?", spottete sie.
Selbst in finsterer Nacht war das Funkeln seiner Augen zu erkennen: "Aber ja! Ich wusste ja nicht, dass du keine Zungenküsse magst."
Die junge Lady verdrehte ihre Augen und schüttelte den Kopf: "Ich mag sie schon; nur nicht von Euch!"
Mit dem letzten Wort warf sie ihren Pokéball und Rizeros erschien:
"Und jetzt sagt mir, was Ihr von mir wollt und wer Euch geschickt hat!"
"Bitte; meine Verehrteste", entgegnete der Unbekannte: "Sag ,Du' zu mir. Und außerdem; was willst du mit dem lahmen Pokémon?"
Cecilia ballte die Faust und eine Wutader stieg auf ihrer Stirn hervor: "Steinkante!"
Mit dem emporschießenden Gesteinsblock nahm der Unbekannte Schwung auf, drehte einen Salto und landete vor ihr: "Zu langsam, sag ich doch."
Bevor die junge Frau verstand, was vor sich ging, war sie wieder von ihm umschlungen. Wieder presste er seine Lippen auf ihre, doch dieses Mal behielt er seine Zunge bei sich. Mit der Faust schlug sie in Richtung seines Gesichts in der Hoffnung ihn irgendwo zu treffen, wo es weh tat. Als er abließ, schnalzte Cecilia ihm eine kräftige Ohrfeige ins Gesicht.
Schockiert hielt sich der Unbekannte seine brennende Wange und blickte mitleidig auf die junge Lady: "Du willst mich wirklich nicht? Warum sagst du das nicht gleich?"
Empört stieß Cecilia aus: "Sag mal; bist du bescheuert oder so? Ich hab dich noch nie gemocht und das hab ich dir von der ersten Sekunde an gezeigt!"
Enttäuscht wich er zurück, dann aber grinste er: "Aber wir sind schon beim ,Du'!"
Die junge Frau rollte mit den Augen und hetzte Pokémon auf ihn: "Rizeros, Vielender!"
Wie erwartet wich der Maskierte aus, sprang auf die Dächer und floh. Oh wie sie ihn hasste! Wer auch immer dieser Volldepp war.
Am frühen Morgen vor der Schlacht machte sich Cecilia daran, den Bronzeturm zu erklimmen und die Gischtglocke zu läuten. Von der Turmspitze aus konnte sie ihren Patron bereits am Horizont sehen. Es war ein fabelhafter Anblick; im Morgengrauen segelte Lugia über die kühlen Nebelschaden zu seiner Auserwählten.
Mit tobendem Wind landete der Silberdrache auf dem Bronzeturm. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie auf Lugia. Als es gelandet war, hielt Cecilia ihm eine Beere unter die Nase und kraulte es am Hinterkopf.
"Danke, dass du gekommen bist", flüsterte die junge Frau: "Natürlich musst du mir mit Viola nicht helfen. Es ist deine Entscheidung."
Das legendäre Pokémon stupste ihr auf die Brust, wo Cecilia ihre Halskette und den Silberflügel umhängen hatte.
"Ja ich weiß... Du hast mich auserwählt, warum auch immer. Ich darf über deine Macht verfügen. Deswegen bitte ich dich Johto zu unterstützen..."
Skeptisch blickte sie auf Lugias Flügel: "Die Legenden stimmen gar nicht; du deckst gar keine Häuser ab... Oder waren das deine Ahnen?"
Die Soldaten saßen noch beim Frühstück, als Hauptmann Gerald zur Bewaffnung rief. Bis jeder seine Uniform und sein Schwert angelegt hatte, verging einige Zeit.
Einer der Wachmänner erkannte etwas am Himmel: "Hauptmann! Aus nordwestlicher Richtung kommen Flugkörper!"
Tristan wandte sich um und blickte empor. Ein Lächeln überkam ihn: "Das ist unsere Unterstützung... mit Lugia!"
Die vier Flugpokémon landeten auf einer freien Fläche in der Nähe der Truppenzelte. Die Trainer stiegen ab und gesellten sich zu den Soldaten. Als Cecilia und ihre Begleiter immer näher kamen, verneigten sich die jungen Krieger nach und nach. Diese Verneigung galt Lugia. Vielleicht war es auch ein Teil von Dankbarkeit ihr gegenüber, denn so bestand für die Johtolesen eine höhere Chance, lebend aus Viola rauszukommen.
Der Hauptmann erläuterte knapp den Plan: "... Ich und Tristan führen die Streitkräfte bis vor die Tore Violas. Wenn wir dort sind, schießt sein Arkani einen Flammenwurf in den Himmel. Dann fliegt ihr los und lockt die Kantonesen aus der Reserve. Während sie mit euch abgelenkt sind, stürmen wir die Stadtmauer."
Dagegen gab es keine Einwendungen; jeder machte sich startklar.
Im Gewirr des Aufbruchs umarmte der Tristan seine Schwester: "Viel Glück und bis gleich."
Cecilia blickte ihm in die Augen: "Bleib am Leben."
Der Fußtrupp setzte sich in Bewegung. Neben Tristan lief Valentin. Obwohl von den beiden sonst nie jemand die Klappe halten konnte, herrschte erst Stille.
Dann aber krächzte der Dürre aus: "Schon komisch, dass wir mal als Angreifer wo hinmarschieren."
"Das ist wahr... In diese Verlegenheit kommen wir sonst nicht", bestätigte der Leutnant: "War bis vor Kurzem auch nicht nötig."
Valentin grinste mit leuchtenden Augen: "Und ohne deine Schwester auch gar nicht möglich."
Tristans Augenlider senkten sich auf Halbmast: "Stehst du auf sie?"
Verlegen blickte er zu Boden: "N-n-nein..."
Der Bruder der Begehrten seufzte aus: "Also doch."
Valentins Kopf schnellte in die Höhe.
Der schwarzhaarige Kerl erklärte: "Wenn du nervös bist, dann stotterst du. Bei unseren Gesprächen in den ersten Monaten war das zum Beispiel der Fall. Ich dachte erst, es wäre ein angeborener Sprachfehler, aber nein; es ist die Nervosität. Und nervös bist du,
wenn du lügst."
Der Ertappte ballte die Fäuste und streckte sie in Richtung Boden: "Und wenn ich auf sie stehe, was ist das Problem?"
Mit zusammengekniffenen Augen erklärte Tristan: "Sie ist zu alt; wahlweise du zu jung. Außerdem hat sie ihren Partner schon gewählt ohne es zu wissen."
Sein Kumpel ließ die Schultern hängen: "Och Menno, die besten Frauen sind doch immer weg. Was ist eigentlich bei dir und deiner Deserteurin?"
Der Leutnant erblickte die Stadtmauer und beschleunigte seinen Schritt: "Nichts... Es ist nichts."
Arkanis Flammensäule ragte in den Himmel. Die wartenden Flugtrainer erblickten das Signal und hoben ab. Lugia führte die Flugstaffel an; ihm folgten Xatu, Noctuh und Aerodactyl. Kurz vor der Stadt konnte Cecilia die johtolesischen Soldaten erblicken. Die ersten Abwehrmaßnahmen seitens Kantos wurden bereits ergriffen.
Mit einem mächtigen Flügelschlag setzte Lugia einen Sturm frei, der die Verteidiger von der Stadtmauer fegte. Ungehindert konnten die Johtolesen auf die Stadtmauer zustürmen und diese durchbrechen.
Vor sich erkannte die Auserwählte einen Feuerdrachen. Es musste Nathans Glurak sein, von welchem ihr Tristan erzählt hatte. Allerdings ergriff der Kommandant die Flucht, als er den Silberdrachen erblickte.
Cecilia hätte ihm folgen können, doch wurde sie hier in Viola gebraucht: "Lass den Feigling davonfliegen."
Hier oben gab es für sie nichts mehr zu tun und so landete Lugia vor dem Turm, dem Wahrzeichen Violas. Hektisch blickte Cecilia um sich um Gefahrenquellen ausfindig zu machen.
Ein junger kantonesischer Leutnant, der höherrangiger als seine Kameraden war, trat hervor.
Ihr Bruder, seine Kameraden und die anderen drei der Flugstaffel bildeten einen Schutzring um Lugia. Der verfeindete Leutnant hielt sein Schwert vor sich.
Cecilia sprang von ihrem Patron ab und war zum Angriff bereit: "Lugia ...!"
Der Kantonese schrie auf: "Nein! Nicht!"
Er ließ sein Schwert vor sich fallen und fiel auf die Knie: "Wir wollen uns ergeben, werte Auserwählte. Niemand von uns möchte gegen seinen Patron in den Kampf ziehen. Bitte; tut uns nichts."
Das Klirren von Schwertern, welche auf den gepflasterten Boden fielen, war hundertfach zu hören. Jeder der Feinde verbeugte sich vor dem Silberdrachen.
Die junge Lady blieb einen Moment lang mit offenem Mund stehen und blickte skeptisch auf die Kantonesen. War es wirklich so einfach?
Sie neigte sich zu Tristan und wisperte: "Ist das eine Farce? Wollen die uns reinlegen?"
Ihr Bruder schüttelte den Kopf: "Die haben nicht nur ihre Schwerter fallen lassen, sondern auch ihre Pokémon zurückgerufen. Von denen wehrt sich niemand mehr. Sie wissen, dass sie sterben, wenn sie versuchen es mit Lugia aufzunehmen."
Hauptmann Gerald erklärte: "Na dann seid ihr jetzt unsere Gefangenen! Macht keine falsche Bewegung, sonst seid ihr alle des Todes!"
Die Johtolesen trennten die Kantonesen von ihren Pokémon und von ihren Waffen.
Valentin führte drei Gefangene mit sich: "Und wo sollen wir sie jetzt unterbringen?"
"Ganz einfach; wir teilen sie auf die Kerker in Teak, Dukatia und Viola auf. So viele sind es ja nicht und unsere Kerker sind für gewöhnlich leer."
Die meisten Inhaftierten entschieden sich nach Jahren der Kerkerhaft für ein Leben in erster Reihe an der Front. Sie stellten sich als Kanonenfutter zur Verfügung, um ihrem trostlosen Dasein endlich ein Ende zu setzen.
Die Menschenmasse lichtete sich. Mit Mehrfachbelegung in einzelnen Zellen konnte ein Großteil der Kantonesen in Viola untergebracht werden. Nur eine Hand voll wurde von einer kleinen Gruppe johtolesischer Soldaten nach Teak überführt.
Cecilia seufzte erleichtert aus, als sie den Fußsoldaten bei ihrer Arbeit hinterher blickte: "Wenn es in jeder Stadt so einfach wäre, dann wäre der Krieg an einem Tag beendet."
"Ja. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass Kanto so schnell aufgibt", bedachte ihr Bruder und fasste sich ans Kinn: "Immerhin ist Nathan geflohen. Er teilt seiner Führung bestimmt mit, was hier geschehen ist."
"Gut möglich", stimmte die junge Lady zu und wandte sich zu Lugia: "Aber mit dir können wir schnell Frieden finden."
Sie fütterte es wie gehabt mit Beeren, da Lugia diese gerne mochte.
Hauptmann Gerald rief aus: "Gut, dann belassen wir es hier wie es ist und machen uns direkt auf den Weg nach Rosalia! Um die Schäden müssen sich andere kümmern."
Seine Soldaten feierten und waren entschlossener denn je. Immerhin gab es heute keine Toten zu beklagen. Alles war perfekt und der Frieden schien in greifbarer Nähe zu sein.
Plötzlich ertönte ein Warnruf: "Unbekannter Flugkörper in Sicht!"
Die beiden Geschwister blickten sich gegenseitig an und hatten den gleichen Verdacht; kam Nathan etwa mit Glurak zurück? Was wollte er ausrichten?
Doch es war kein Glurak, welches angeflogen kam. Pfeilschnell schoss ein Tauboss vom Himmel, sodass erst nicht ersichtlich war, wer auf dessen Rücken saß. Mit direkter Richtung hielt es auf Lugia zu.
Cecilia wusste zwar nicht, was es damit auf sich hatte, aber sie wusste, dass es nichts Gutes war: "Lugia, verschwinde! Du musst fliehen!"
Der Silberdrache setzte zum Flug an, doch schlug das Tauboss mit gestreckten Klauen voran auf seinem Rücken ein. Lugias schmerzerfüllter Schrei ertönte und es landete auf dem Boden, während es versuchte, den Angreifer loszuwerden. Jetzt war auch zu erkennen, wem das braune Vogelpokémon gehörte; es war der General persönlich. Hermann biss die Zähne zusammen und hatte ein psychopathisches Grinsen im Gesicht als das legendäre Pokémon aufschrie.
Dann holte er einen gold-silber-farbenen Pokéball aus seiner Hosentasche und sagte siegessicher: "Jetzt gehörst du mir!"
Er warf den Ball auf Lugia. Cecilia konnte kaum fassen, was vor sich ging; ein legendäres übermächtiges Pokémon dematerialisierte sich zu einem roten Laser und verschwand im Pokéball. Der fiel auf den Boden und wackelte nicht einmal. Lugia war sofort gefangen; es versuchte noch nicht einmal sich zu wehren.
Dabei ging alles so schnell.
Tauboss packte mit seinen Klauen nach dem sonderbaren Pokéball und zog zugleich von Dannen.
Hermanns dreckig lachender Kommentar hallte in den Gassen Violas nach: "Die Avila-Company hat halt doch schon die beste Technologie!"
Cecilia starrte regungslos in den Himmel, wo Hermanns Tauboss immer winziger wurde. Sie taumelte von der Runde weg und saß sich wegen der Schwärze vor ihren Augen auf den Boden. Beschämt vergrub die junge Lady ihren Kopf zwischen ihren Knien, die Arme vor ihren Beinen verschränkt.
Dann legte jemand einen Arm um ihre Schultern. Erschrocken blickte sie auf und sah in das mitleidige Gesicht von Julius. Sofort senkte Cecilia ihren Kopf wieder und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Nach einer Weile schluchzte sie, ohne den Kopf zu erheben: "Es tut mir so leid."
Julius nahm sie in den Arm und beschwichtigte: "Hey, immerhin haben wir Viola befreit. Linda und Vinzent verfolgen Hermann. Sie holen Lugia zurück."
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