Kapitel 2 - 54 Minuten 00 Sekunden
Du hast noch 54 Minuten.
Der Satz hallte in meinem Kopf wider, bis er sich mit dem gleichmäßigen Ticken der Standuhr zu einer schrecklichen Melodie verband, die in meinem Kopf herumspukte wie ein Todesbote.
Als Angestellte von Sphinx-Hotels war von mir verlangt worden, dass ich meine Kunden und die potenziellen Waren in- und auswendig kannte, weshalb ich ohne Probleme den Gebäudeplan der alten Villa vor meinem inneren Auge aufrufen konnte.
Ich hatte 50 Minuten für 30 Zimmer. Das hieß, mir würden pro Zimmer gerade mal 100 Sekunden bleiben und da er die Phiole wohl kaum gut ausgeleuchtet in der Mitte des Raumes ausstellte, war ich aufgeschmissen.
"Scheiße!"
Ich fluchte ausgiebig in die Stille des Salons hinein. "Scheiße, Scheiße, Scheiße!"
Mit einem schnellen Wisch meines Daumens entsperrte ich mein Telefon und tippte die Notfallrufnummer ein. Nach zweimaligen Tuten nahm ein gelangweilter Officer ab.
"Polizeimeldestelle Idoridge, Offizier Josua Varon, wie kann ich Ihnen helfen?"
Dafür, dass es bei seinem Job um Leben und Tod gehen konnte, klang er ziemlich gelassen.
"Hier ist Katharina Langford. I-ich wurde vergiftet!"
Meine Stimme überschlug sich fast und ich wischte mir meine zitternde, schwitzende Hand an der Hose ab.
"Jetzt beruhigen Sie sich mal."
Der junge Mann, der zurzeit meine einzige Rettung war, klang immer noch so, als hätte ich ihm gerade eröffnet, dass ich Hilfe beim Abwasch bräuchte.
"Wenn Sie sich nicht gut fühlen, sollten Sie beim Arzt anrufen und nicht bei der Polizei."
Vielleicht hätte ich das wirklich tun sollen, denn eine noch größere Zeitverschwendung hätte das ja nicht werden können.
"Verdammt, jetzt hören Sie mir mal zu!"
Ich schrie verzweifelt in den Hörer.
Dem dumpfen Knall am anderen Ende der Leitung nach zu urteilen, war er gerade von seinem Stuhl gefallen.
"Ich heiße Katharina Langford und arbeite für Nolan Almas. Ich sollte heute bei einem Treffen mit dem Naturforscher Professor Frederik Arlott einen Vertrag bezüglich seines Gebäudes abschließen. Dabei hat er mich mit dem äußerst seltenen Gift der Velourotter vergiftet. Mir bleiben nur noch 53 Minuten, um das Gegengift zu finden, dass dieser psychopathische Opa irgendwo in seiner riesigen Villa versteckt hat, sonst bin ich tot!"
Meine Stimme klang schrill und mir kamen die Tränen.
"Bitte, Officer. Ich bin alleinerziehende Mutter einer kleinen Tochter, i-ich will noch nicht sterben!"
Es war still am anderen Ende der Leitung und fast hätte ich frustriert aufgelegt, um mir allein zu helfen. Doch dann hörte ich seine Stimme wieder. Sie klang verändert, nicht mehr so desinteressiert.
"Wo sind Sie?" Ich nannte ihm die Adresse.
"Wir sind so schnell wie möglich bei Ihnen. Bewegen Sie sich nicht vom Fleck und -"
"Natürlich werde ich mich bewegen", brüllte ich. „Dieses Gegengift ist meine einzige Chance, diesen Horror zu überleben."
"Okay, okay" versuchte er, mich zu beschwichtigen. Ich versuchte, tief durchzuatmen und wieder etwas ruhiger zu werden.
"Josua?" fragte ich. "Wenn ich das hier nicht überlebe, sagen Sie dann meiner Tochter Laila, dass ich sie liebe?"
Seine Antwort kam, ohne zu zögern.
"Ja"
Eine einsame Träne löste sich aus meinem Augenwinkel und rann meine Wange hinab.
Meine Hände zitterten immer noch - ob des Giftes wegen oder der unterdrückten Schluchzer - vermochte ich nicht zu sagen.
Bevor ich auflegen konnte, meldete sich Josua nochmal zu Wort. "Katharina?"
"Ja?"
"Versuchen Sie nicht zu sterben, ok?"
"Ok."
Trotz meiner Tränen musste ich lächeln.
Als ich aufgelegt hatte, fiel mein Blick wieder zur Standuhr.
51 Minuten 47 Sekunden.
Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich wischte mir die Tränen fort. Es würde jetzt nichts bringen, zusammenzubrechen. Ich musste überleben. Wenn schon nicht für mich, dann wenigstens für Laila. Sie sollte nicht auch noch ohne Mutter aufwachsen.
Schnellen Schrittes bewegte ich mich auf die Salontür zu. Gleichzeitig versuchte ich, meinen Handytimer auf 51 Minuten 30 Sekunden zu stellen.
Die Anzeige sprang auf 51 Minuten 29 Sekunden und ich erreichte die Tür.
Schnell drückte ich die kalte Metallklinke hinunter und spähte in den Flur.
Er war menschenleer, natürlich.
Ich rief mir in Gedanken erneut den Grundriss des Gebäudes vor Augen und versuchte nachzuvollziehen, wo ich mich befand. Wenn ich richtig lag - wovon ich ausging - dann war ich im sogenannten Blauen Salon im Westflügel.
Eine Etage über mir sollte sich das Arbeitszimmer des Professors befinden. Schnell wandte ich mich nach rechts und sprintete, so schnell es mir in Pumps und Bleistiftrock möglich war, den Flur entlang. Jeder Schritt wummerte in meinem Kopf wie ein Presslufthammer.
Ich bekam gerade die Kopfschmerzen meines - sollte ich nicht erfolgreich sein - recht kurzen Lebens.
Die breite, herrschaftliche Treppe war mit rotem Samt überzogen und in das Geländer waren feine Ornamente geschnitzt. Die Wände zierten Ölgemälde einer Regenwaldlandschaft - der großen Leidenschaft des Professors.
Doch ich hatte keine Zeit für hübsche Geländer oder farbenfrohe Gemälde. Zwei Stufen auf einmal nehmend hetzte ich die Treppe hoch in einen schummrigen Flur.
Vor der ersten Tür links kam ich schlitternd zum Stehen. Ich drückte die Klinke runter und betete, dass ein alleinlebender Mann nichts von verschlossenen Türen hielt.
Ich hatte Glück.
Schwungvoll öffnete sich die grüngestrichene Tür und gab den Blick auf ein weitläufiges Arbeitszimmer frei, in welches ich nun stolperte.
Die Wände waren gesäumt von meterhohen Regalen, in denen sich Gefäße mit ehemals lebenden Kuriositäten neben dicken Wälzer reihten.
Vor einer großen Fensterwand, durch die man einen fabelhaften Ausblick in den Wald rings um die Villa hatte, stand ein mächtiger, schwarzer Schreibtisch.
Er war vollgestapelt mit Zettelbergen und Büchern, sodass nur noch eine halbwegs freie Stelle zu erkennen war. Auf dieser stand ein Schlangenpräparat.
Als ich nähertrat, konnte ich die verschnörkelte Inschrift lesen, die an einer kleinen, goldenen Plakette am Sockel befestigt war.
Velourotter.
Das war also der Grund, warum sich mein Herzschlag immer noch nicht beruhigt hatte, obwohl ich nun stand. Der Grund, warum ich schwitzte, obwohl ich nur mein Businessoutfit - eine lockere weiße Bluse und einen Bleistiftrock, der beim Rennen gefährlich weit nach oben gerutscht war - trug.
Ich starrte in die toten Augen des Tieres, welches dafür verantwortlich war, dass ich meine Laila wahrscheinlich nie wieder sehen würde. Wut flammte in meinem Innersten auf, geschürt durch eine tiefe Verzweiflung.
Ich packte das ausgestopfte Tier und schleuderte es gegen ein Regal. Es prallte gegen ein Glas, in dem in einer trüben Konservierungsflüssigkeit ein komischer Fisch schwamm, und landete auf dem Boden.
Das Glas wackelte eins-, zweimal, bis es auch der Schwerkraft nachgab und auf dem kostbaren Teppich zerschellte.
Die Flüssigkeit durchtränkte die Schlange und sickerte in den grünen Stoff.
Das würde einen hässlichen Fleck geben.
Mit einem befriedigten Grinsen drehte ich mich zum Schreibtisch und fegte den ersten Papierstapel zu Boden.
Wenn mir schon angeboten wurde, im Hause meines Mörders - meine Hoffnung auf Leben schwand von Sekunde zu Sekunde - umherzustreifen, dann würde ich wenigstens keinen Stein auf dem anderen lassen.
Schnell hatte ich jegliche Stifte, Bücher und Zettel auf den Boden verteilt. Ich schritt um den Schreibtisch herum und zog die oberste Schublade raus.
Briefe. Ich hätte sie gern gelesen, doch ich gab mich mit einem schnellen Durchwühlen zufrieden.
In der nächsten Schublade fand ich Füller, Briefpapier und einen metallenen Brieföffner. Er war im Stile eines kleinen Messers eines - bei den Vorlieben des Professors wahrscheinlich brasilianischen - Ureinwohnerstamms gehalten und sah auch dementsprechend scharf aus.
Ich wog ihn kurz in der Hand und beschloss, ihn zu behalten.
Mit grimmiger Entschlossenheit setzte ich ihn an den Saum meines Rocks an und zog ihn hoch.
Es war mehr ein Reißen als ein sauberer Schnitt, aber nachdem ich auf beiden Seiten bis zur Hälfte gekommen war, hatte ich das Gefühl, genug Beinfreiheit zu haben, um für weitere Sprints besser vorbereitet zu sein.
Schnell durchsuchte ich auch noch die restlichen Fächer.
Nichts.
Keine Phiole. Ich ließ den verwüsteten Schreibtisch links liegen und suchte schnellen Schrittes die Regale ab.
Mit fahrigen Bewegungen riss ich Bücher und Einmachgläser raus, doch es war nirgends eine gelbe Phiole zu sehen.
Ich blickte auf mein Handy.
49 Minuten.
Ich hatte für die Verwüstung eines Zimmers gerade mal anderthalb Minuten gebraucht. Mein Atem ging stoßweise während mir mein Herz schnell gegen die Brust schlug und so immer schneller das vergiftete Blut durch meine Adern pumpte. Zum ersten Mal dachte ich daran, dass mein hektisches Rumgerenne, meine Lebenszeit verkürzen könnte.
Doch einfach aufzuhören, war keine Option. Ich holte noch einmal tief Luft und rannte los. Wie meine Bluse und mein Rock waren meine schwarzen Pumps durchnässt von den Flüssigkeiten der geborstenen Einmachgläser.
In einer hektischen Bewegung kickte ich sie mir von den Füßen und rannte barfuß weiter.
Es war eh ungefährlicher, denn sollte sich das Hämmern in meinem Kopf weiter vergrößern, würde es mich nicht wundern, wenn ich in ihnen umknickte und so mein Todesurteil endgültig unterschrieb.
Das hast du doch eh schon. Du hast für ein Zimmer anderthalb Minuten gebraucht. Fehlen ja nur noch 29.
Mit einem gekeuchten "Halt doch einfach die Klappe" brachte ich meine innere Stimme zum Schweigen.
Noch war es nicht zu spät. Schwankend kam ich vor dem nächsten Zimmer zum Stillstand.
Es war ein leerstehendes Gästezimmer mit angrenzendem Bad. Ich schaffte es innerhalb von dreißig Sekunden, die drei Schränke aufzureißen und die Bettdecke herunterzuziehen. Vielleicht, ganz vielleicht, hatte ich doch noch eine Chance.
~♡~
Was haltet ihr vom gelangweilten Officer Josua?
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