Sei laut! Hör zu! (I)

(Gekürzter) 1. Akt: Vom Mädchen, das vor sich selbst Angst hatte. Und vom Schweigen.

Manchmal ist es leichter zu schweigen. Den Blick abzuwenden, die Augen zu verschließen und keinen Ton von sich zu geben. Weil es zu belastend ist, darüber zu sprechen. Zu kompliziert. Zu schlimm.

Manchmal ist es leichter zu schweigen, aber viel öfter macht uns dieses Schweigen mit der Zeit kaputt. Ich stelle mir vor, dass jeder Blick, der abgewendet wird, jedes Augenlid, das verschlossen wird und jeder Ton, der ungesagt verklingt, wie ein Tropfen Wasser ist, der auf Eisen fällt. Ein Tropfen Wasser, der ganz allein zunächst einmal völlig harmlos ist. Der jedoch, gemeinsam mit anderen und in Verbindung mit Sauerstoff, das Eisen dazu bringt, zu kapitulieren. Der dazu führt, dass Eisen rostet. Dass hässliche Löcher in das Metall gefressen werden. Dass das Metall allmählich seinen Glanz verliert und zutiefst gebrochen eines Tages nicht mehr wiederzuerkennen ist. Irreparabel zerstört liegt es da und macht es schwer vorstellbar, dass an allem lediglich ein paar Tropfen Wasser und etwas Sauerstoff schuld sein sollen.

Wasser ist, so stelle ich es mir vor, genau wie Schweigen. Es ist leise, unauffällig und doch verändert es uns unaufhaltsam. Schweigen hat die Macht, uns mindestens ebenso sehr zu verletzen wie Wasser. Es kann sich anfühlen wie kleine Nadelstiche. Kleine Nadelstiche, die man zunächst vielleicht ignorieren kann. Man kann sich eine dickere Haut zulegen, die das Schweigen nicht länger durchdringen kann. Und wenn es wächst und sich bald schon wie ein verdammtes Messer anfühlt, das sich in unsere Brust bohrt und uns den Atem raubt, ziehen wir eben ein Kettenhemd drüber. Dann eine Rüstung und schließlich sind wir endlich komplett abgedichtet. Abgeschottet von der Außenwelt. ,,Jetzt kann uns nichts mehr verletzen'', denken wir. Und vergessen dabei, dass wir selbst und unser Körper, auch Licht brauchen und Luft zum Atmen. Weil wir sonst ersticken. In uns selbst.

Und vielleicht möchtest du jetzt einwerfen, dass es auch gutes Schweigen gibt. Dass sich Schweigen auch anfühlen kann wie Wassertropfen einer Massagedusche. Wie die Tropfen Wasser, die es braucht, um zusammen mit Sonnenlicht einen wundervollen Regenbogen aufzuspannen. Dass Schweigen beruhigend sein kann. Verbundenheit spenden kann. Und das stimmt. Natürlich. Doch dass, wenn das Schweigen zu laut wird, all die ungesagten Worte eines Tages zu unseren größten Feindinnen werden können, stimmt eben auch. Und genau davon möchte ich euch heute erzählen. Weil es an der Zeit ist, dass der Körper dieses Mädchens endlich wieder Luft bekommt. Dass sie ihre Rüstung abnimmt, ihr Kettenhemd ablegt und uns zumindest so viel erzählt, wie sie kann. Damit es besser wird. Weil man das so sagt. ,,Du musst drüber reden", sagen sie. ,,Musst deine Vergangenheit aufarbeiten", sagen sie. Damit es besser wird. Irgendwann. Aber fangen wir von vorne an.

Ich kenne ein Mädchen, das ist jetzt 22 und nach außen hin wirkt sie so langweilig normal, wie man nur wirken kann. Doch: Sie ist auch ein Zwilling. Zwei Seelen leben, ach, in ihrer Brust. Die eine zeigt sie. Die andere nicht. Die eine verschweigt sie – ihr Leben lang schon – die andere nicht. Denn dieses Mädchen ist nicht naiv. Schon lange nicht mehr.

Das Mädchen, das ich kenne, wuchs in einem kleinen Dorf in Bayern auf. Mit Eltern, die diese Geburt nicht geplant hatten, schon gar nicht so früh. Doch für eine Abtreibung waren beide Elternteile viel zu konservativ und überhaupt stellten sie es sich dann wohl doch beide ganz schön vor. Zusammenzuziehen und eine eigene kleine Familie zu gründen. Wie im Bilderbuch. Doch was dabei wohl niemand bedacht hatte, war, dass beide ihre eigene Kindheit nie losgeworden waren. Dass beide die Geister ihrer Vergangenheit noch immer in sich trugen und damit schon bald die Luft verpesteten. Die Luft in diesem Haus, in dem das Mädchen aufwachsen sollte. Die Luft zwischeneinander. Die Luft, die sie alle atmeten.

Es gibt unzählige Statistiken, die einzufangen versuchen, was diesem Mädchen und anderen Kindern passiert ist und noch immer passiert. Aber egal ob es nun 5 oder 10% sind, die im Kindesalter von ihren Eltern schwerwiegende und relativ häufige Körperstrafen ertragen müssen. Egal, ob es nun genau eines von drei Kindern ist, das unter 18 Jahren weltweit von emotionaler Gewalt betroffen ist. Die Geschichten existieren. Und die des Mädchens, das ich kenne, gehört dazu.

Das Mädchen, das ich kenne, lernte den gewaltvollen Umgang schon früh als normalen Bestandteil ihres Alltags anzusehen und zu integrieren. Es war normal, dass die Mutter dem Vater einen Boxhieb auf die Schulter verpasste, wenn dieser einen schlechten Witz riss. Spielerisch natürlich. Es gehörte zur Kindheit des Mädchens, Schläge angedroht zu bekommen oder aushalten zu müssen, wenn etwas nicht nach den Vorstellungen der Eltern lief. Es war normal für das Mädchen bei jeder Jahreszeit damit rechnen zu müssen, ins Vorhaus verbannt zu werden und erst wieder ins Haus gelassen zu werden, wenn es sich wieder ,,eingekriegt'' hatte. Das Mädchen lernte schnell, dass Worte und Argumente nicht zählen. Wer lauter schreit, schlimmer droht oder fester schlägt, gewinnt. Immer. Das Mädchen lernte, sich besser an absurdeste Regeln zu halten, wenn es in Ruhe gelassen werden wollte. Es lernte aber auch, dass alles zum Anlass für Auseinandersetzungen werden konnte. So war es eben. Bestimmt war das bei anderen Familien ähnlich. Doch gleichzeitig wusste das Mädchen instinktiv, dass es dennoch auf gar keinen Fall darüber sprechen durfte. Nicht beim Arzt, der die Schulter des Mädchens wieder einrenkte, nachdem die Mutter es etwas zu fest am Arm gepackt hatte. Nicht im Kindergarten, in dem es der Erzieherin stattdessen etwas von ,,böse Buben schlagen mich'' auftischte. Und auch sonst niemals irgendwann auch nur einen einzigen Ton.

Das Mädchen, das ich kenne, lernte mit der Zeit, dieses Schweigen zu verfestigen. Einerseits aus zutiefst verinnerlichter, schwer zu ergründender Angst. Und andererseits aus Scham. Hatte es die Behandlung durch seine Eltern womöglich sogar verdient? Und wem sollte es sich überhaupt anvertrauen? Würde man ihm Glauben schenken? Einem jungen Mädchen, dessen Eltern im Dorf gut bekannt und einigermaßen gut angesehen waren? Und außerdem: Was würde dann mit ihm passieren? Konnte sie das ihren jüngeren Geschwistern antun? Musste sie es vielleicht sogar?

So viele Fragen. So viele Gedanken. So viel Angst. So viele Verletzungen. Alles fest unter ihre Rüstung gepackt, damit es bloß niemals jemand entdecken konnte. Denn genau das war das Problem an ihrer Situation: Es gab niemanden, an den sie sich wenden konnte, ohne etwas zu befürchten, das weit schlimmer wäre als ihre aktuelle Situation. Und überhaupt: Es gab ja auch die guten Tage. Und war es nicht in letzter Zeit viel besser geworden? Wurde sie in letzter Zeit nicht viel seltener bedroht? Oder drohte nun lediglich ein anderes Geschwisterchen im Fokus zu stehen?

Das Mädchen legte sich über die Jahre eine dickere Haut zu. Dann ein Kettenhemd. Und schließlich eine Rüstung. Es lernte, seinen Kummer mit sich selbst auszumachen. Lernte, seine kindliche Naivität abzulegen und durch Misstrauen und Vorsicht zu ersetzen. Das Mädchen ist seitdem selten leicht zu überzeugen, denn Naivität konnte es sich schlicht nie leisten. Weil es selten über seine Gefühle spricht, wird es vorschnell oft für herzlos gehalten. Dabei ist das Mädchen nicht herzlos. Die meiste Zeit fühlt es sogar eher zu viel. So verdammt viel zu viel. Denn da sind all diese Gedanken in ihm. Der Kummer. Diese Wut. Die Ängste, die es nur mit sich selbst ausmacht. Die Angst vor allem vor sich selbst. Denn das Mädchen begann nicht nur mit der Zeit zu begreifen, dass das Verhalten ihrer Eltern weit von in Ordnung geschweige denn von gesetzlich erlaubt entfernt war. Es bemerkte auch bald darauf, wie viel es bereits davon verinnerlicht hatte. Wie ähnlich es seinen Eltern in all der Zeit geworden war. Und durfte es seine Eltern für etwas verurteilen, das es längst selbst tat?

Wenn man so lange geschwiegen hat, wie dieses Mädchen es tat, scheint es irgendwann schlicht keine Option mehr zu sein, dieses Schweigen zu brechen. Doch die muss es sein. Die einzig wahre Option muss es immer sein, eines Tages endlich zu reden. Weil man nichts, das so belastend ist. So schlimm. So kompliziert. Für immer in sich tragen kann, ohne eines Tages zu ersticken. In sich selbst. Weil es sich immer lohnt, sich zu verlieben. Weil Liebe mehr ist als Schmerz, egal, was sie gelernt hat.

Das Mädchen, das ich kenne, ist jetzt 22. Inzwischen weiß es, dass ein Leben mit Rüstung kein Leben ist. Und Schweigen, trotz allem, keine Option. Es weiß, dass es sich eines Tages rettungslos verlieben möchte. Das Leben teilen mit einem anderen Menschen. Vielleicht sogar selbst Kinder haben. Doch für den Moment versucht sie einfach nur zu heilen. Versucht Stück für Stück zuerst die Rüstung. Dann das Kettenhemd. Und vielleicht sogar die dicke Haut abzuschälen. Abzulegen. Frei zu atmen. Das Licht und die Luft ganz ohne Barrieren auf sich zu spüren. Da zu sein. Für andere. Für sich selbst. V.a. für sich selbst. Und niemals mehr dem Wasser die Macht über sie zu geben.

,,Du schaffst das", sage ich zu ihr. Und meine es auch so. ,,Und wenn du mich lässt, bin ich für dich da. Immer."

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