Ho ho ho(t) Christmas

Ratternd fuhr der Zug in die Station ein und hielt mit einem abrupten Rucken an. "This stop is Flinders Street", tönte die weibliche Ansagestimme durch das - trotz der Sommerhitze - kühle Zugabteil. Seufzend schulterte Estelle ihren Jutebeutel. Darauf zu sehen waren kleine Kängurus, die um den orangenen "Down Under" Schriftzug hüpften. Es war ihre Lieblingstasche, seit sie sie in einem kleinem Ramschladen in Sydney nur zwei Stunden nach ihrer Ankunft gekauft hatte. Damals hatte ihr das herausgeschmissene Geld noch in der Geldbörse wehgetan, doch heute war sie um jeden Cent froh, den sie in ihre Tasche investiert hatte.

Die Datumsanzeige der Flinders-Station zeigte den 24. Dezember an. Sie war bis gerade auf der Arbeit festgehalten worden, da Heiligabend in Australien kein gesetzlicher Feiertag zu sein schien, was Estelle keinesfalls fair fand! Jedoch waren viele Arbeitgeber so zuvorkommend ihren Angestellten immerhin einen halben Tag Freizeit zu gewähren. Dies war auch der Grund, weshalb Estelle wie eine Welle durch ein Meer aus Menschen durch die engen Tunnel der Zugstation schwappte. Dem Grauen der Weihnachtsbesessenen Menschenhorde lebend entkommen, trat Estelle ins Freie, breitete wie zum Dank ihre Arme aus und schloss die Augen. Aber wem dankte sie? Dem Leben? Sich selbst? Gott? Dem Universum?

Die leicht salzige Luft des Flussufers vom Yarra River stieg ihr in die Nase, als ihre Glieder auch schon augenblicklich von dem Gefühl purer Ruhe geflutet wurden. Durch ihre Lungen drang die Ruhe in ihre Blutbahnen und verteilte sich innerhalb weniger Sekunden in ihrem gesamten Körper. Dieser Fluss heilte sie von Innen.

Als Estelle ihre Augen wieder öffnete, blickte sie auf die Stadt ihres Herzens: Melbourne!
Nach ihrem Abitur hatte sie ihre sieben Sachen gepackt und war Hals über Kopf ins Abenteuer "Australien" gestürzt. Seither liebte Estelle die Stadt.

Der Putz-Job, mit dem sie sich nicht nur über Wasser halten konnte, sondern zusätzlich noch ein wenig Geld für ihren Eastcoast-Trip ansparrte, war gewiss nicht ihr Traumberuf, doch sie hatte seit nun dreieinhalb Monaten eine gesicherte Arbeitsstelle, und was noch viel wichtiger war: Sie war unabhängig!

Mit ihrem eigenen Geld konnte Estelle selbst entscheiden, was sie tun wollte, und was nicht.
Denn wäre es auch in diesem Jahr nach ihrer Großtante Magali gegangen - die sie großgezogen hatte, nachdem sich Estelles Eltern dazu entschieden hatten, sich nicht um ihre Tochter kümmern zu wollen - müsste Estelle ihr hart erarbeitetes Geld auf ein separates Sparkonto überweisen und für die Universität sparen.

Ach ja, die Uni ...

Estelle hatte keinen blassen Schimmer was sie aus ihrem Leben machen wollte. Denn momentan gab es für sie nur eine Lebensweise, die sie glücklich machte: In Melbourne leben, zur Arbeit gehen, am Strand spazieren gehen, Surfen gehen.

Melbourne war natürlich nicht mit der Gold Coast zu vergleichen und auch kein Traumheim für wirkliche Surfer, doch schon die kleinen Wellen bereiteten Estelle große Freude und brachten ihre ganz eigenen Herausforderungen mit sich.

Langsam schlenderte sie den Yarra River entlang und begutachtete mit verzogenem Gesicht die knallige Weihnachtsdeko. Ihren Geschmack traf sie jedoch nicht.

In Australien setzte momentan der Sommer ein. Hochsommer, um genau zu sein. Das spiegelte sich auch in der Dekoration wieder: Es gab neben einem Santa mit Surfboard in Badehose und Schneemännern aus Sand auch den typischen Weihnachtsstern mit "Merry Christmas" Schriftzug.

Von der Hitze der Mittagssonne erfasst, wirbelte Estelle ihre kupferroten Haare im Nacken zusammen und fixierte sie mit einer hellblauen Haarklammer in Lilienform. So ließ sich das Sonnenbad ertragen. Bereits am Morgen hatte sie eine dicke Schicht Sonnencreme aufgetragen, doch da sie sich stehts um ihre blasse Haut sorgte, schmierte Estelle sich sogleich eine zweite Schicht der weißen Flüssigkeit auf die Arme, die Schultern und das Gesicht.

Angeekelt verzog sie das Gesicht. Sie hasste Sonnencreme. Aber umso mehr würde sie potenziellen Hautkrebs hassen, also akzeptierte sie ihr Schicksal und schmierte fleißig weiter.

Akzeptieren.

In ihrem Leben musste Estelle bisher vieles akzeptieren. Den Umzug zu ihrer Großtante, als ihr Verhalten und ihre rebellische Ader ihren Eltern zu schwierig wurde, die darauffolgende strenge Erziehung ihrer Großtante, die Nachhilfestunden, die Klavierstunden...

All jenes hatte Estelle akzeptiert.

Doch nun war sie an der Reihe, die Zügel ihres Lebens in die Hand zu nehmen. "Ein Jahr", hatte Großtante Magali Estelle versprochen, um frei zu sein. Um herauszufinden, was sie studieren möchte. Einen tollen Twist hatte der Deal mit ihrer Großtante ebenfalls: Sollte es Estelle innerhalb dieses Jahres gelingen auch ohne Studium etwas zu erreichen, was in den Augen ihrer vorgestrigen Großtante nur in Form von Geld, Rum oder Ansehen zählte, dürfte sie weiterhin ein freies, ungebundenes Leben führen.

Sollte sie jedoch in dieser Aufgabe scheitern, und sich auch für keinen Studiengang entscheiden können, würde Großtante Magali sie in den nächstbesten BWL Kurs stecken und Estelle, bis sie ihr Master-Diplom in Händen hielt, triezen.

Angesichts dieser Tatsache, tat es Estelle nicht leid, Weihnachten so fernab von zu Hause zu verbringen. Ihre Eltern interessierten sich seit Jahren nur noch oberflächlich für sie und von ihrer Großtante brauchte sie den nötigen Abstand. Liebe hatte sie von ihr noch nie erhalten, warum also Weihnachten gemeinsam verbringen?

Auf ihrer bisherigen Reise hatte Estelle gelernt, mit sich selbst als Person im Reinen zu sein. Den Frieden auch mal im Alleinsein zu finden und es nicht mehr unangenehm zu finden, wenn sie ohne Begleitung in ein Restaurant ging.

Mittlerweile hatte sie gelernt, dass die einzige Person, mit der sie sich wirklich gut verstehen musste, sie selbst war. Nur zu sich selbst musste sie einhundert Prozent ehrlich sein. Denn wenn einmal niemand mehr für sie da sein sollte, würde sie immer noch sich selbst haben. Sich selbst konnte man nicht loswerden. Man war immer an sich selbst gebunden. Daher versuchte Estelle sich auf ihrer Reise ein wenig mit sich selbst anzufreunden.

Denn wenn man selbst sein bester Freund war, war man nie alleine!

Mit diesem Gedanken betrat Estelle das schwimmende Hausboot-Restaurant, welches auf dem Yarra River vor sich hin schaukelte. Sie hatte sich bereits auf der Bürotoilette nach dem Putzen umgezogen, als sie ihre Putzutensilien zurückgebracht hatte. Nun stand sie in einem hellgrünen Maxikleid vor der Empfangsdame am Tresen.

"Hello, I booked a table for Estelle", sagte sie höflich.

"Sure, let me see ... oh, only for one person?", kam irritiert die Antwort, mit der Estelle fest gerechnet hatte.

Doch voller Stolz und mit einem breiten Lächeln auf den Lippen konnte sie nun sagen: "Yes, today it's only me!"

"All right, Merry Christmas! Here we go..."

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Merry Christmas euch allen!!
Ich verbringe gerade ein Gap Year in Australien und habe angesichts dessen diesen Text geschrieben. Mit dem einzigen Unterschied, dass ich heute mit Freunden essen gehe, und mich auch super mit meiner Familie verstehe! Ich hätte sie gerne hier gehabt!

24. Dezember 2024 🌼

PS: Mein erstes Kapitel aus dieser Story habe ich einfach schon vor zwei Jahren veröffentlicht, wie schnell die Zeit vergeht...

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