34| der Kochlöffel
Gähnend verließ ich ich am nächsten Nachmittag den Klassenraum, da der Gong das Ende der Stunde signalisiert hatte, und zu meinem Glück auch mein letztes Fach für diesen Tag. Ich war mehr als nur müde, mein nächtliches Recherchieren ging mehr auf mein Gemüt als vermutet. Zudem war Schule wie erwartet nervenzerrend und -raubend gewesen.
Es war ein Wunder, dass Nathan mich nicht überredet bekommen hatte, heute blauzumachen und den Tag entspannt mit ihm zu genießen. Aber ich war nicht dämlich, denn hieß es mittlerweile Endspurt. Wir hatten nur noch zwei Monate Schule, dann fingen die Abiturprüfungen an und jetzt, wo die meisten Kurse bereits alle im Kerncurriculum stehenden Themen abgedeckt hatten, wurde hauptsächlich Relevantes wiederholt und behandelt. Man mag sich zwar denken, dass es das Erscheinen dann umso unnötiger sei, aber dem war nicht so. Denn die Bemerkungen und Hinweise, die Lehrer einem teilweise gaben, waren ausschlaggebend für den Zeit- und Lernplan.
„Puh, zum Glück bist du immer in Gedanken versunken und lahmarschig, sonst kann man dich bei deinem Schnellen Verschwinden nie erwischen!", erschrak mich Dean und warf seinen Arm um meine Schultern.
Zusammenzuckend blickte ich zu ihm auf, lachte dann kurz über den Moment und erklärte ihm, dass er selbstverständlich alles sei, woran ich denken könnte. Daraufhin stupste er mich gespielt flirtend an und wackelte anzüglich mit seinen Augenbrauen, worauf ich mit einem Kopfschütteln antwortete.
„Meine Mutter fragt, warum du so lange nicht mehr da warst", fing er dann grinsend an und blickte mich abwartend auf eine Reaktion an. „Oh, wirklich? Wenn du magst, kann ich jetzt direkt vorbeikommen!", erwiderte ich überrascht und ein wenig wehmütig, weil Deans Mutter die freundlichste Frau war, die ich kannte. Sie war wie eine zu junge Oma. Ich vermisste sie.
„Ne, brauchste nicht. Wir sind heute bei Phil essen", winkte er ab und setzte dann wieder sein Grinsen auf, „ich habe ihr sowieso schon eine Antwort gegeben. Habe ihr erzählt, dass du jetzt einen Freund hast und sie war aus dem Häuschen!" Lachend tätschelte er mir den Kopf, als ich stehenblieb und ihn fassungslos mit großen Augen anstarrte.
„Bitte was?"
„Ja, sie hat nach einem Grund gefragt und den hat sie bekommen!"
„Aber du kannst ihr das doch nicht einfach so sagen, als sei Nathan der Grund dafür, dass wir uns nicht verabredet haben."
„Naja... Ist er aber ja schon irgendwie, aber Phil auch. Wir treffen uns halt mittlerweile eher in der Gruppe als privat wie früher."
Traurig blicke ich in seine trüben Augen. Er hatte Recht, wir unternahmen nicht mehr so viel zu zweit, nur er und ich. Das hatten wir früher ständig machen, nur wir beide und sonst niemanden. Kein Freund, keine Freundin, keine Familie.
„Okay, lass uns morgen was machen, Deal? Nur wir beide, kein Verschieben, kein nichts." – „Deal."
Gesagt, getan.
Ganze siebenundzwanzig Stunden später klopfte ich an der glasigen Gartentür des Cooper Hauses, doch drückte wie üblich bereits die Türklinke auf, bevor mich jemand ins Haus bat. „Hallo", rief ich mit einem Grinsen, sodass meine Stimme im Haus hallte und die Erinnerungen von den vielen Tagen, die ich hier verbrachte, durch mich hindurchströmten.
„Oh, Claire!", ertönte wenig später die angenehme Stimme von Deans Mutter, „ich habe dich so lange nicht mehr gesehen, Liebes! Wie geht es dir? Hast du schon gegessen?"
Keine Minute später schoss die braunhaarige, pummelige Frau um die Ecke in die Küche, in welcher ich mich befand, und beäugte mich prüfend. „Du bist so mager, sachma, gibt dir Marilyn nichts Vernünftiges? Zum Glück hast du mich!", bemängelte sie meine Statur und assoziierte meine Figur mit dem Zeitmangel meiner berufsbeschäftigten Mutter. Lächelnd trat ich auf sie zu und nahm sie herzlich in die Arme, amüsiert darüber, dass selbst ich ein Stück größer als sie war.
„Ich habe dich vermisst, Mary", gab ich zu und tätschelte ihren Kopf, um sie ein wenig zu ärgern. Wie vermutet griff sie nach dem Kochlöffel, welcher auf dem Tresen lag, und schlug mir sanft auf den Po: „Ich bin doch nicht dein Kind! Nun setzt dich schon hin, ich koche dir etwas."
Belustigt blickte ich dem Grinsen entgegen und konnte es nicht vermeiden, sie in diesem Moment mehr in der Rolle einer wundervollen Mutter zu sehen als meine eigene.
„Ich hab' es schonmal gesagt. Nur weil meine Mutter genau wie deine heißt, sollst du sie mir nicht wegnehmen!", kam Dean ebenfalls hinzu und schubste mich ein wenig zur Seite. Anschließend sprang er zu seiner kopfschüttelnden Mutter, um ihr Küsse auf die Wange zu drücken, doch sie wehrte sich mit dem gleichen Kochlöffel, mit welchem sie auch mich vertrieben hatte. „Du ungezogenes Kind, nicht einmal dein Geschirr wegräumen kannst du! Da ist mir Claire als Kind lieber, du blödes Rind!"
Fassungslos starrte mein bester Freund seine Mutter an, ließ seinen Blick dann zu mir gleiten und schnappte dann nach Luft, um anschließend mit eingeschnapptem Ausdruck zu schmollen. „Wer zum Teufel nennt sein eigenes Fleisch und Blut Rind! Dann bist du eine blöde Kuh, schließlich bin ich aus deinem Körper gekommen", konterte er und zuckte erschrocken weg, als Mary erneut ihren Kochlöffel anhob.
Amüsiert lachte ich auf und umarmte die kleine, pummelige Frau erneut, doch wechselte dann das Thema. Ich erklärte ihr, dass sie uns nichts kochen brauchte, weil Dean und ich an den Hafen fahren würden. Als sie daraufhin wieder geschmollt und meinen Körper nur skeptisch gemustert hatte, schloss ich meine Arme ein weiteres Mal um sie.
„Na, was ist das denn hier? Och nö, Claire ist wieder hier? Immer wenn du hier bist, klaust du mir meinen Schatz! Das ist mein Schatz, allein meiner!"
Die tiefe Stimme ließ mich zum Türrahmen schauen, in welchem ich niemand Geringeres als den Mann des Hauses erblickte, welcher in Anzugshose und Hemd vor uns stand und doch entgegen seiner Autoritätserscheinung seltsame Affenbewegungen machte und Gollums Stimme nachäffte.
Mein Lachen intensivierte sich und schmerzend hielt ich mir den Bauch, als er anfing, auf uns zuzuspringen. Eilig ließ ich von der Hausfrau los, welche liebevoll und lachend zugleich ihren Mann beobachtete, und eilte zu Dean, welcher sich spaßeshalber wie eine Mauer aufbaute und mich abschirmte.
„Da musst du zuerst an mir vorbei!", schrie er voller Brunst und stampfte wie ein Sumoringer auf den Boden. Doch gegen seinen Vater hatte er keine Chance, denn im Gegensatz zu Dean ging dieser regelmäßig trainieren, sodass mein arroganter bester Freund keine Sekunde über die Schulter geworfen wurde. Daraufhin folgte großes Genörgel von Dean, welcher sich für die Situation schämte und sogar rot anlief, aber das Lachen von seiner Mutter, seinem Vater und seiner besten Freundin war lauter.
„Dad! Ich kotz dir gleich auf deine neuen Schuhe. Oh mein Gott, Mom!!!", schrie er zum Ende hin auf einmal laut auf und erhob seinen Kopf, um seine Mutter böse grinsend anzugucken, „Dad hat Schuhe im Haus an!"
„Oh scheiße, du Petze!"
Daraufhin ging alles ganz schnell, Dean wurde fallen gelassen und sein schmerzerfülltes Aufstöhnen geflissentlich ignoriert, während Mary böse ihren Ehemann anguckte, welcher seinen Welpenblick aufgesetzt hatte, und schneller als ich blinzeln konnte mit erhobenem Kochlöffel auf ihn zulief. Während er augenblicklich anfing, wegzurennen, schnappte Dean sich meine Hand und öffnete die Hintertür mit einem „Wir sind dann weg, wartet nicht auf mich!".
Er musste mich förmlich hinter sich herschleppen, so sehr war ich am Lachen und konnte mich nicht fassen. Ich liebte seine Familie, sie war zu jeder Tageszeit ein unglaublich wohlwollender liebevoller Chaos, in welchem ich mich nicht besser aufbewahrt fühlen konnte. Zudem beneidete ich die Beziehung von Deans Eltern, weil sie selbst nach zwanzig Jahren noch so unsterblich ineinander verliebt wirkten. Ich wünschte mir auch eine so starke Liebe und Zuneigung zueinander, aber ich zweifelte nicht daran, dass Nathan mir genau diese gab.
„Was für Chaoten", murmelte Dean auch leise lachend und öffnete die Beifahrertür, um mich rein zu schubsen.
Und eine kurze, aber dennoch lustige Autofahrt später befanden wir uns am Hafen, auf dem gleichen Steg wie jener, an welchem ich ihn einst auf die Wange geküsst hatte. „Oh, die Erinnerungen", seufzte Dean wohlig auf und atmete tief die frische Luft ein.
Kichernd stimmte ich ihm zu und ließ mich auf die Decke nieder, welche er eingepackt und vor wenigen Sekunden ausgebreitet hatte. „Ich habe das vermisst. Danke, dass du immer für mich da bist und Geduld mit mir hast", murmelte ich und lehnte meinen Kopf auf seine Schulter, sodass ich seinen lachenden Körper spüren konnte. „Ach, Kleines. Jetzt werd mir hier aber ja nicht nostalgisch und traurig! Ich gebe dir sonst keine Kirschen!", drohte er mir und legte seinen Arm um mich, um diesen Moment selbst ein wenig mehr zu genießen. Einfach den Kopf freibekommen, im Jetzt denken.
Lächelnd ließ sich Dean kurzerhand nach hinten fallen und zog mich dadurch mit, sodass ich auf seiner Brust lag. Unsere Beine hingen noch immer ein wenig unbequem vom Steg, aber wir beide hatten keine Lust, weiter nach oben zu rutschen.
„Phil und ich haben uns getrennt."
Erschrocken setzte ich mich auf und blickte ihm ins Gesicht, doch er löste seinen Blick nicht von dem Himmel, von den vorbeiziehenden Wolken. Er schien gemerkt zu haben, wie überrascht ich war, denn schloss er leicht lächelnd die Augen und legte den Arm über sein Gesicht. Und genau diese Geste brach mein Herz, denn das Zittern seiner Unterlippe zeigte mir, dass er verletzt war. Sehr.
„Er meinte, er könnte nicht mit mir zusammen sein, weil ich bi bin. Phil ist so ein eifersüchtiger Mensch, dieses gottverdammte Arschloch. Weißt du, was er meinte?", zischte er und setzte sich auch auf, um mir direkt in die Augen zu blicken. Überraschenderweise sah ich keine Trauer in diesem Moment, sondern reine Wut. Aber ich wusste, dass die Phase des Traurigseins und Weinens noch kommen würde.
„Er meinte, dass er nicht mit dem Gedanken leben könnte, sowohl bei jedem Mädchen als auch bei jedem Jungen die Befürchtung zu haben, dass die Person mein Herz kriegen könnte. Als sei ich ein dummes Kind, welches für jeden Menschen Gefühle entwickelt. Das ist so verletzend und respektlos. Er wusste von Anfang an, wie meine Sexualität ist und worauf er sich eingelassen hat. Aber leider wusste ich das nicht."
Verkrampft hielt er seinen Blick auf seine zu Fäuste geballten Hände, während er tief einatmete und sich damit zu beruhigen versuchte. An seinem Arm waren bereits die Adern am Heraustreten.
Innerlich schockiert über Phillips Denkweise stockte mein Atem für einen kurzen Moment, doch ich riss mich zusammen und rückte ein wenig näher an Dean heran, legte meine kalten Hände auf seine. Ich schwieg dabei, denn ich wusste, dass er weitererzählen würde.
„Diesen Streit hatten wir schon so oft. Seine dauernden Eifersuchtsattacken, sogar bei dir! Nimm mir das nicht böse, aber als ob ich mit dir etwas anfangen würde, du bist für mich wie eine Schwester, verdammt. Er wollte gestern nicht, dass wir uns heute treffen, weil ich ihn auf eine Hochzeit begleiten sollte. Aber als ich dich erwähnt habe, ist er ausgerastet und meinte, ich würde dich bevorzugen und ihn gar nicht lieben und dann hat er mir ein fucking Ultimatum gestellt, ist das zu glauben? Gott, warum gebe ich überhaupt einen Fick, wenn ihm das alles egal zu sein scheint."
Rot vor Zorn raufte er sich die Haare und gab dabei wütendes Knurren von sich. Augenblicklich griff ich nach seinen Händen und strich sanft mit den Daumen über die Handrücken. Ohne weiter nachzudenken, beugte ich mich vor und nahm ihn fest in die Arme, ließ zu, dass er seine Arme um mich schlang und meinen Körper kräftig drückte, seinen Frust in diesem Moment ausließ.
„Danke", murmelte er in meine Haare und drückte sein Gesicht noch fester an meine Schulter, dass ich glaubte, mir eine leichte Nässe an meinen Schlussbein einbilden zu können. Schweigend ließ ich eine Hand in seine Haare wandern und meine Finger beruhigend durch diese fahren.
„Ich habe ihm gesagt, dass er mir kein Ultimatum stellen kann zwischen zwei Personen, die ich liebe, er hat nach einer Antwort verlangt. Ich habe ihm keine gegeben, sondern Schluss gemacht. War das falsch?", flüsterte er leise und hob seinen Kopf soweit an, dass er sein Kinn auf meiner Schulter ruhen lassen konnte.
Leicht schüttelte ich den Kopf. „Liebe ist schön und wenn Liebe erwidert wird, ist es umso schöner. Aber das bedeutet nicht, dass dir jede Liebe guttut. Manchmal kann sie einen von innen heraus zerfressen und schaden, aber man mag es nicht akzeptieren, weil in den Augen der Gesellschaft die Liebe etwas Warmes und Perfektes sein soll. Aber das ist sie nicht immer und wenn eine Beziehung dir mehr Zweifel an dir selbst bringt und mehr Leid als Freude, dann solltest du um deiner Selbstwillen das machen, was dir guttut. Ich kann dir nicht sagen, ob du das Richtige getan hast, aber das Falsche war es definitiv nicht. Menschen sind keine Objekte, zwischen denen man sich entscheiden müssen sollte und du bist kein Unmensch, welcher solche Entscheidungen fällen sollte."
„Ich finde es toll, wie du immer so psychologisch antworten kannst", kicherte er leicht und löste die Umarmung, sodass wir uns in die Augen sehen konnten. „Was zum, warum weinst du?", lachte Dean leicht und wischte mir grob die Tränen weg, welche ich nicht bemerkt hatte.
„Keine Ahnung, du Blödmann, lass mich doch", erwiderte ich nur gespielt grob und erhielt als Antwort ein amüsiertes Aufgrunzen.
„Er ist es nicht wert. Phil hat mich nicht verdient!", rief er euphorisch und griff kurzerhand nach dem Korb hinter seinem Rücken, „und jetzt essen wir erstmal ordentlich Sandwiches und Kirschen."
Zustimmend und auf den Ablenkungsversuch eingehend nickte ich und wischte mir die nassen Spuren auf meinem Gesicht mit meinen Ärmeln weg. Ich war deutlich zu sensibel, aber Dean so verletzt und fertig zu sehen brach mir das Herz, denn war er mit einer der letzte Mensch auf Erden, welcher Leid verdient hatte.
Doch obwohl der Tag für ewig mit einer schlechten Nachricht und viel negativen Emotionen verbunden sein würde, hätten sich weder Dean noch ich einen schöneren Tag vorgestellt haben können.
Ein extralanges Kapitel! Einfach, um ein wenig Alltag reinzubringen und Dean ein wenig Sendezeit zu geben, mein Schnuckel. Was meint ihr dazu, was Phil abgezogen hat? ~T
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