22| Vierzehnter Januar
„Leute, in zwei Tagen und vier Wochen ist Valentinstag, das bedeutet, unser Park wird wieder rosig schön werden!", rief Ash erfreut in die Runde und kuschelte sich an Logan, welcher seine Arme um sie gelegt hatte und sie an seine Brust gedrückt hielt. Mir lief in Schauer den Rücken hinab, als ich das hörte. Vierzehnter Januar, das war der Tag, in welchem mein Leben sich drastisch veränderte.
Die Übelkeit stieg in mir auf, weil die aufkommenden Bilder, welche mir seit dem Geschehen letzten Jahres präsenter waren als nie zuvor, mich daran erinnerten, dass ich niemals sorgenlos leben könnte. Weil meine Erinnerungen verrücktspielten und mich daran erinnerten, wie ich noch vor nicht einmal zwei Wochen felsenfest davon überzeugt war, verfolgt zu werden.
„Claire, glaubst du, du bekommst eine Rose?", fragte Dean und spielte in Gedanken verloren mit Phils Fingern.
Es war lange her, dass wir alle zusammen saßen. Dean, Ashley, Logan und Phil, Nathan, Jason, Liz und selbst Nick. Die Zwillinge – so hatte Jason mir erzählt – hatten sich eher dem Sportclub angeschlossen.
Ich schüttelte auf Deans Frage den Kopf. Roseday wurde bei uns ohnehin überbewertet. Jährlich wurden Rosen verkauft, alle möglichen Farben zur Auswahl, selbst selbstgefärbte bunte. Mit jedem Kauf einer Rose musste man einen Zettel ausfüllen, in welchem Adressat und gegebenenfalls ein Absender draufstehen musste. Einige Hunde der Hundeschule, welche zwei Straßen weiter ihren Sitz hatte, würden für den Tag gemietet werden, damit sie die Rosen überliefern. Das einzig Süße daran waren die Hunde.
„Nein, ich finde diesen Tag unsinnig. Wahrscheinlich werde ich mir selbst eine Rose kaufen, damit ein Hund zu mir gerannt kommt. Den Hund klau ich mir für den Rest des Tages und verbring mit ihm einige Zeit. Hoffentlich stößt sich meine Mum dann den Kopf, wenn sie daheim wegen der Hundeallergie niest", wurde ich von Nathans Schmunzeln aus den Gedanken gerissen. Auch ich musste darauf lachen, weil ich ihm das sehr wohl zutraute. Und mir war auch klar, dass er es letzten Endes tatsächlich machen würde.
Kurz darauf wurde eine Diskussion entfacht, warum Valentinstag schön oder scheiße war, Jason, Ash und Dean waren auf der Seite des Schönseins und die anderen auf der Seite des Unnötigseins. Nathan und ich enthielten uns.
Ich wünschte, ich hätte einfach mitgeredet, weil Nathan die Unaufmerksamkeit der anderen dazu nutzte, mich zu fragen, was ich übermorgen vorhatte. „Claire, hast du übermorgen schon etwas vor? Ich wollte dir etwas zeigen."
Hatte ich etwas vor? Ja, hatte ich. Wie jedes Jahr am 14. Januar im Zimmer eingesperrt unter meiner Bettdecke liegen, Tür und Fenster verschlossen und Musik so laut hören, dass ich meine Gedanken nicht hören kann, so lange, bis der Tag vorbei war.
„Ja, Aidan zieht ja bald in ein Studentenheim, damit er näher an der Uni ist. Ich wollte ihm helfen." – „Claire, du weißt schon, dass Aidan und ich uns gut verstehen? Und dass ich dementsprechend weiß, dass er bereits seit letzter Woche ausgezogen ist?" Mist.
Stotternd versuchte ich, mich irgendwie rauszureden, doch so im Nachhinein hatte ich selbst keine Ahnung, ob ich etwas gesagt oder doch nur Geräusche von mir gegeben hatte. Er ersparte mir weitere Peinlichkeiten aber damit, dass er mir schelmisch zulächelte – was mein Herz zum Aussetzen brachte, weil ich sein Lächeln liebte - und meinte: „Sei Freitag um drei fertig, ich werde dich abholen."
Und ehe ich mich versah verging der Tag, ebenso wie der darauf, und der Freitag brach an. Nun, genau genommen brach er nicht an, ich konnte nämlich die ganze Nacht über nicht schlafen, also war ich stattdessen am Lesen.
Wenn man meine Aktivität lesen nennen konnte, denn, auch wenn ich mich normalerweise immer in der fiktiven Welt fallen lasse und in ein anderes Leben einsteigt – völlig unabhängig und frei zu der Realität –, ich las die Wörter und doch blieben sie nicht im Kopf. Es waren alles leere Wörter ohne Bedeutung aneinandergereiht, die alle keinen Sinn für mich ergaben, sodass ich noch nicht einmal zwei Seiten weit gekommen bin, bis ich mich in die Dusche gestellt hatte und laut Musik angemacht. Mein Vater war ohnehin auf Reise, meine Mutter war mit ihren Arbeitskollegen Überstunden arbeiten. Weshalb auch immer. Und ich, die kleine, naive und paranoide Claire, alleine daheim mit der ständigen Angst, jemand könnte jeden Moment hinter mir erscheinen.
Und hier war ich nun, mit brennenden Augen, pochendem Kopf, nutzlosen Sinnen, um halb drei morgens am Küchentisch und versuchte, die Bilder aus meinem Kopf zu bannen.
Doch immer wieder tauchten Lauras trübseligen, blauen Augen vor mir auf, wie sie mich voller Leere anblickten und dennoch, obwohl sie tatsächlich nichts als eiskalte, abweisende Leere ausstrahlten, bekam ich das Gefühl von Schuld. Weil ich sie hätte retten können. Hätte ich nichts gesagt, dann hätte sie vielleicht nicht so sterben müssen. Ich war keine Mörderin, nein, aber zeitgleich habe ich gemordet, indem ich ihr nicht helfen konnte.
„Es tut mir leid", hörte ich meine Stimme die Stille durchbrechen, „es tut mir so leid."
Ich verspürte urplötzlich diesen Drang danach, zurück an den Ort des Geschehens zurückzukehren, um ihr meine Entschuldigung persönlich zu vermitteln. Zwar glaubte ich nicht an Geister, aber ich glaubte daran, dass Seelen weiterlitten, wenn sie ihren Seelenfrieden nicht gefunden hatten. Wenn Laura im Himmel war, so konnte sie es nicht genießen ohne dem Wissen von Begleichung.
Aber ich wusste, dass es eine ziemliche scheiß Idee wäre. Spätestens kurz vor der Bar würde ich einen Rückzieher machen und irgendwo verzweifelt zusammenbrechen. Nichtsdestotrotz bewegte ich mich Richtung Flur, nachdem ich mir einmal über die brennenden Augen gefahren bin, in die kleine Kammer, in welchem sich meine Stiefel befanden.
Auch meine Winterjacke ergriff ich und zog mir sowohl Schuhe als auch Mantel über. Ich holte tief Luft, so als wollte ich mir damit selbst meinen Mut zusammenkratzen, doch ich wusste, dass es richtig so war. Ich konnte mich nicht ewig verstecken, ich musste meine Angst konfrontieren.
Denn manchmal, da darf man sich nicht gnadenlos dabei betrachten, wie man sich selbst zerstört, sondern muss den Kopf erheben, die Haltung stabilisieren und frontal gegen die Angst vorgehen.
Und mit diesem Gedanken schnappte ich mir im Vorbeigehen den Schlüssel vom Schrank und riss die Tür auf; der Enthusiasmus hielt nicht lang, denn ein Kreischen verließ meine Kehle, als ich jemanden direkt vor der Tür stehen sah. Durch die Straßenlaternen hinter der Person erkannte ich nur die Silhouette eines männlichen Menschen.
Begleitet von meinem Kreischen und seinem Schreien, schmiss ich die Tür wieder zu, sodass ein lauter Knall ertönte, die Kerzengläser auf dem Schrank vibrierten und mein rasendes Herz aussetzte.
Ich hatte Angst.
Was glaubt ihr, wer ist vor der Tür? xT
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