20| Blümchen
„Ist etwas passiert?", sprach ich leise zu ihr und setzte mich neben sie. Zaghaft schüttelte sie den Kopf und schenkte mir ein Lächeln, so vorsichtig als würde jede einzelne Bewegung ihre Mauer zum Einsturz bringen. Ich konnte nicht verhindern, dass meine Augen tränig wurden, einfach, weil es mich so sehr schmerzte, mitansehen zu müssen. Wie jemand so Junges sich schon so gebrochen fühlen kann, dass er alleine im Zimmer ist und weint.
Ich sagte nichts mehr, nahm sie einfach in den Arm und strich ihr langsam über den Rücken, weil ich wusste, dass genau dies manchmal das Einzige ist, was man brauchte. Und ich schien Recht zu behalten, weil das kleine Mädchen nur wenig später seine zärtlichen, kleinen Arme um meinen Rücken schlang und sich in mein Shirt krallte. Rose' Schluchzen erfüllte den Raum, ihre Tränen flüchteten sich in den Stoff meines Oberteiles und es war okay.
Ja, es war okay, dass sie ihre Gefühle zuließ. Es war okay, alles rauszulassen. Es war okay, Tränen zu zeigen und es war absolut okay, die Trauer und Wut durch Weinen zu zeigen.
Wir blieben still, doch nach einigen Minuten schniefte sie einmal auf und entfernte sich ein wenig von mir. „'tschuldigung", nuschelte sie in meine Haare und lachte leicht peinlich berührt, doch ich schwieg lediglich, schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
„Ich hasse es, alleine zu Hause zu sein. Mama und Papa streiten sich nur noch, wenn Papa mal zuhause ist, und wenn Papa arbeiten ist, dann streiten Nathan und Mama. Und ich hasse es, dass dieses Haus so unglaublich riesig ist, weil ich mir noch einsamer vorkomme. Und noch mehr hasse ich Nathan dafür, dass er ausziehen wird und mich alleine lässt. Aber am meisten hasse ich mich, aber das ist okay, weil ich nicht die einzige bin, die mich hasst."
Geschockt starrte ich sie an. „Roselyn, was meinst du damit, dass du nicht die einzige bist, die dich hasse? Du bist jemand so Wundervolles. Hör mal, ich weiß schon, dass du denkst, ich würde jetzt die üblichen Worte sagen, um dir Selbstbewusstsein zuzureden, aber ich werde absolut ehrlich sein. Zu aller erst, ich habe deine Mutter bereits kennengelernt. Sie ist-" – „Eine Hexe?" Ein Lächeln entfloh mir. Ja, wie richtig das kleine Mädchen doch lag. „Ja, so ungefähr. Weißt du, Eltern streiten sich oft. Es ist ein Lauf der Dinge, dass Menschen miteinander klarkommen, sich dann streiten, sich manchmal hassen und einfach einander Stühle nachwerfen wollen, doch man verträgt sich. Wenn sie anfangen, sich zu streiten, ruf mich an, ich komm vorbei mit Kirschen und Disneyfilmen und entführ dich zu mir, okay?
Nein, warte, du brauchst nicht warten bis deine Eltern oder deine Mum und Nathan anfangen, sich zu streiten, um mich anzurufen; es ist egal wann. Ruf mich an, wenn du Gesellschaft und Ablenkung brauchst. Und wegen Nathans Auszug, das wusste ich gar nicht. Aber weißt du was? Ich weiß, dass Nathan dich mehr liebt als alles andere auf dieser Welt. Und er würde dich niemals in Stich lassen, du brauchst ihm nur zu sagen, dass er dich braucht und er wird da sein. Und jetzt zu dem Letzten, Rose, gibt es Menschen, die dich ärgern?"
Sie schluchzte unterdrückt und versteckte sich wieder in meinen Armen. Ich spürte ihr Nicken des Kopfes, weshalb ich beruhigend meine Hand auf ihren Rücken legte und langsam auf- und abstrich. „Wer? Was machen sie?"
Mir war klar, dass ich eventuell zu unsensibel bin, doch es war mir egal. Der Gedanke, dass Rose tatsächlich in der Schule gemobbt wird, machte mich so rasend vor Wut und so unglaublich frustriert. Meine Hoffnungen auf eine gerechte Welt schwanden mehr, wenn sie nicht schon längst ein Teil meiner naiven Vergangenheit waren.
„Klopf Klopf, können wir los?", wurde dem kleinen Mädchen vor mir das Wort abgeschnitten. Erneut erschrak sie sich und krallte sich noch mehr in mein Shirt. Es passte mir nicht, dass Jason ausgerechnet jetzt reinplatzen musste, doch vielleicht war es besser so. Sie schien ohnehin nicht den Drang gehabt zu haben, mit mir darüber zu reden.
„Oh mein Gott, Engel!", rief Jason plötzlich erschüttert und stürzte auf uns zu. Er warf sich ohne Rücksicht auf uns, schubste mich dann weg und zog Roselyn in seine Arme. „Was hat diese blöde Kuh dir angetun? Hat sie dich an den Füßen gekitzelt, obwohl du „Nein" gesagt hast? So ungefähr?", regte Jason sich gespielt auf und kitzelte Roselyn dann exemplarisch an ihren Füßen. Ich sah in seinen Augen, dass er traurig war, doch mich rührte seine Reaktion. Zeitgleich legte sich aber auch ein schwerer Schleier um mein Herz, welcher so unscheinbar wirkte und mir doch die Luft zum Atmen nahm. Die Tatsache, dass Jason nicht überrascht ist, bedeutet doch nur, dass es nicht das erste Mal ist.
„Nein, lass das", quietschte Roselyn und lachte ein wenig dabei auf. Tief in ihrem Inneren war sie doch nur ein kleines Mädchen, welches es liebte, herumzualbern und dem Drang, laut und sorglos zu lachen, nicht entgegenstehen konnte, wenn es gekitzelt wird. Ich beschloss genau in dem Moment, in welchem ich Rose wild strampeln sah und in der Sekunde, in welcher ihr Fuß der Magengrube des Braunhaarigen Gesellschaft leistete, ihr heute den Kummer zu nehmen und den Tag zu genießen. Niemand sollte so in das nächste Jahr starten.
Und in diesem Moment beschloss ich auch, mich aufzurappeln, mir die Tränen wegzuwischen und mich auf Jason zu stürzen, um ihm klarzumachen, dass ich mich gegen ihn stellte.
Ich würde mich immer auf Rose' Seite stellen, weil sie mein kleines Blümchen war.
PLOTTWIST AND OPEN END; nächstes Kapitel hoffentlich Mittwoch~ xT
PS: Habt ihr Lust auf eine Story über Rose' Leben während ihres pubertären Teenagerlebens?
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