3 | Play with me

Nach all den Jahren, die mittlerweile vergangen waren, sah ich ihn wieder. Es hatte sich so viel zugetragen, so viel, was ich nicht mehr ungeschehen machen konnte. So viel, was ich heute anders machen würde. So viel, was ich geliebten Menschen noch sagen wollte. So viel, was ich für immer festhalten wollte.

Tage und Nächte waren vergangen, Stunden und Sekunden. Ich war durch die Finsternis gewandert, und hatte gelernt, schöne Erinnerungen festzuhalten. Ebenso war ich durch das Licht getreten, und hatte dabei gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich würde mich nicht wiedererkennen, würde ich nur meine Seele sehen können. Doch vom Äußeren hatte ich mich kaum verändert. Vom Aussehen her glich ich einer griechischen Göttin, wie meine Mutter oft zu sagen pflegte. Schwarzes Haar, blaue Augen.

Ich war Kassandra. Kassy - und gerade sah ich zu jenem jungen Mann hinüber, der meine Welt auf den Kopf stellen sollte.

Gabriel Pilch.

Ich konnte es nicht glauben.

Ich war schon dabei, einen Schritt nach hinten zu setzten, doch Anja erfasste mich am Handgelenk, und hinderte mich an meinem Vorhaben. Durch ihre Berührung wurde ich abrupt in die Gegenwart zurückkatapultiert.

„Wo willst du denn hin?", fragte sie sichtlich enttäuscht. „Du hast dem Spiel doch noch gar keine Chance gegeben."

Mein Blick hing allerdings noch immer an Gabriel, welcher mich ebenso verwirrt anstarrte, wie ich ihn. Versuchte er soeben herauszufinden, woher er mich kannte? Oder hatte er es bereits mit dem ersten Blick in meine Richtung gewusst?

Nun schien auch Anja mitzubekommen, dass nicht ihr meine Aufmerksamkeit galt, deswegen drehte sie sich um, und suchte nach dem Schuldigen.

Gabriel erhob sich vom dunklen Parkettboden, was mein Herz zum Hüpfen brachte. Er ließ mich dabei kein einziges Mal aus den Augen. Um seine Gesichtszüge war nicht mehr das ausgeglichene Lachen zu sehen, das er seinem Freund zu verdanken gehabt hatte, sondern er schien neugierig, irgendwie verblüfft.

„Kassandra?" Aufgrund seiner tiefen Stimme erschrak ich beinahe. Sie klang so männlich, so erwachsen. So anders als damals.

Er stellte sein Glas auf der Kommode neben sich ab, und kam auf mich zu. Anja hatte in der Zwischenzeit mein Handgelenk losgelassen, und betrachtete unser Zusammentreffen mit geweiteten Augen.

„Unglaublich. Wie geht es dir?", fragte er schließlich als er direkt vor mir stand. Ein ehrliches Lächeln umspielte seine Lippen, und sein Aftershave hüllte mich augenblicklich komplett ein, sodass ich nicht mehr klar denken konnte. Der Geruch erinnerte mich an Fichtennadeln, und ließ ein Gefühl der Vertrautheit in mir hochkommen. Früher waren wir oft zusammen im Wald unterwegs gewesen. Oh, wie sehr ich unsere gemeinsame Zeit genossen und vermisst hatte!

Ich musste schlucken, und mich räuspern, ehe ich einen Ton herausbrachte. Er hatte mich etwas gefragt, demnach sollte ich ihm endlich antworten, anstelle ihn nur anzuglotzen.

„G ... Gut." Endlich schaffte ich es meinen Blick von seinem Gesicht zu wenden, und gaffte stattdessen auf sein T-Shirt, unter dem ich seine muskulöse Brust ausmachen konnte. Huch, zu welcher Art an Mann war er bloß herangewachsen?!

„Ich muss jetzt los", brachte ich noch hervor. Dieses Zusammentreffen war mir momentan zu viel. Meine Gedanken fuhren Karussell, alles war so verwirrend. Ich war schon ein paar Schritte gegangen, als ich ihn plötzlich neben mir mitgehen sah.

„Bitte bleib noch etwas." Er berührte mich kurz sachte an meinem rechten Handgelenk, und brachte mich somit zum Stehen. Mein ganzer Körper zitterte, doch ich nahm all meinen Mut zusammen, und schaute Gabriel wieder in die Augen. Dort wo er mich für einen Augenblick berührt hatte, brannte meine Haut. Würde ich es nicht besser wissen, könnte ich annehmen, dass meine Haut in Flammen stand.

Das war doch nicht normal. Wieso reagierte mein Körper so befremdlich? Ich kannte mich so gar nicht.

„Ehrlich gesagt, weiß ich gerade nicht was ich sagen soll, außer, dass du bitte noch nicht gehen sollst." Seine Stimme klang ehrlich, so aufrichtig wie früher immer. Mit ihm hatte ich heute nicht gerechnet. Mit allem, nur nicht mit ihm.

Er forderte mich auf, gemeinsam in die angrenzende Küche zu gehen, denn dort war niemand, und wir konnten uns ungestört unterhalten. Ich kam seiner Aufforderung nur zu gerne nach, denn im Augenwinkel konnte ich das Pärchen von vorhin erkennen, das noch immer wild knutschend mit der Wand eins wurde.

„Möchtest du etwas trinken?", fragte er, um die Stille zu durchbrechen.

„Ein Glas Wasser wäre toll."

Ich schluckte sichtbar, als ich ihm dabei zusah, wie er ein Glas aus dem Schrank nahm. Dabei rutschte sein T-Shirt etwas hoch, und offenbarte mir einen Teil seines nackten Rückens.

Hastig schaute ich weg, und dachte daran, dass ich es noch immer nicht glauben konnte.

Wie häufig hatte ich geheult, weil ich meinen besten Freund verloren hatte? Wie viele Tage, war ich an seinem Haus vorbei gegangen, nur um ihn zu sehen, und festzustellen zu müssen, dass sie allesamt umziehen würden? Wie viele Male hatte ich meine Mutter angebettelt, dass sie mir meinen besten Freund wiedergeben sollte? Und wie oft hatte ich mir vorgestellt, dass ich einfach davonlaufen würde, um Gabriel zu finden? Selbst einige Jahre nach diesem Streit hatte ich ihn vergebens in den Social Media Plattformen gesucht. Und nun, fünfzehn Jahre später, sah ich ihn wieder. Er stand vor mir, und wollte sich mit mir unterhalten.

Fünfzehn Jahre war eine lange Zeit, und ich wusste, dass sich in den letzten Jahren einiges getan hatte. Selbst bei mir und meiner Familie hatte das Leben keine Gnade gezeigt. Ich hatte mich verändert, und Gabriel würde sich ebenso verändert haben. Nur, würden wir uns irgendwann wieder so gut verstehen können, wie damals? Oder war er zu einer komplett anderen Person geworden, mit der ich nicht zurechtkommen würde? Ich konnte es nicht sagen, und das machte mir im Moment genauso viel Angst, wie ihn wieder zu verlieren, wo ich ihn doch gerade erst gefunden hatte.

„Danke", sagte ich, als er mir mein Glas Wasser überreichte. Unschlüssig, was ich mit ihm reden sollte, nahm ich einen Schluck, und wartete, ob er den ersten Schritt machte.

„Du wusstest bestimmt nicht, dass ich einer der Gastgeber bin, oder?", wollte er von mir wissen.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Und wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob ich dann gekommen wäre. Irgendwie ist es schräg, dich wiederzusehen", gab ich zu.

„Das stimmt. Ich habe mir öfter Gedanken darüber gemacht, was aus dir wohl geworden ist."

„Gleichfalls." Ich lächelte zaghaft, und versuchte ihm wieder in die Augen zu schauen. In diese schönen, verdammt dunklen, braunen Schokoaugen. Sein Gesicht hatte sich fast nicht verändert, doch seine Züge waren reifer und erwachsener geworden. Es war kein Junge mehr, der mich beäugte, sondern ein junger, verflixt gutaussehender Mann.

„Hast du dir deinen Traum vom Schloss schon erfüllt?" Er grinste mich frech an.

„Nein, ich ... Ich studiere Germanistik und Geschichte auf Lehramt. Was machst du?" Ich nahm einen weiteren Schluck vom Wasser.

Meine Augen überflogen seinen restlichen Körper. Er war gut gebaut, und musste wohl auch viel trainieren. Er trug dunkle Kleidung, und seine Haare hatte er bestimmt noch nie gefärbt, was ich gut fand. So ein schönes blond wie er es hatte, konnte man mit keiner Färbung der Welt hinbekommen. Ob er bemerkte, dass ich ihn abcheckte?

„Ich studiere Medizin. Ich möchte Arzt werden."

„Arzt?" Ich war überrascht. „Das klingt wirklich großartig. Früher wolltest du immer Soldat werden."

„Und du wolltest Prinzessin werden." Er lächelte für einen kurzen Augenblick. Dann wurde er ernster. „Was meinen damaligen Kindheitstraum angeht, den habe ich mir tatsächlich erfüllt. Ich bin Soldat geworden."

„Ehrlich?" Ich war glücklich für ihn, dass er seinem Traum nachgegangen war, doch irgendetwas ließ mich zweifeln, dass er darüber fröhlich war. Nun wollte er Arzt werden, was eine komplett andere Berufsrichtung war. Ich wollte ihn schon fragen, wieso das so war, doch biss mir rechtzeitig auf die Unterlippe. Irgendwie schien mir diese Frage zu persönlich, und im Grunde genommen kannten wir uns nicht. Wir waren durch die Jahre zu Fremden geworden. Dieser Gedanke versetzte mir einen Stich.

„Ja." Er nahm sich mein Glas Wasser, das ich soeben am Küchentresen abgestellt hatte, und trank selbst daraus. „Wir sollten vielleicht wieder zu den anderen zurückkehren. Deine Freunde wollen bestimmt wissen, wohin du verschwunden bist."

Ich stimmte ihm zu, und deswegen gingen wir in das Zimmer, wo Play with me gespielt wurde, zurück. Die anderen Personen darin hatte ich vorhin nicht wirklich wahrgenommen, doch es waren sehr viele junge Frauen beim Spiel dabei. Sie alle trugen Kleidung, bei der ich sehr viel Haut zu sehen bekam, und hohe Schuhe, bei dessen alleinigem Anblick ich schon umzukippen drohte.

Anja und Max waren längst im Spiel integriert, als sie Gabriel und mich zurückkommen sahen. Anja deutete mir wild gestikulierend, dass ich mich zu ihr setzen sollte, was ich zu ihrer Erleichterung auch tat.

„Du kennst Gabriel?" Ihrem Tonfall nach zu urteilen, wollte sie jedes noch so kleine Detail hören.

„Das erzähle ich dir, wenn wir wieder zuhause sind."

„Du spannst mich ganz schön auf die Folter!" Sie klang gespielt eingeschnappt "Aber okay. Nur, woher kennst du ihn? Diese Frage musst du mir beantworten."

„Als Kinder waren wir sehr gut befreundet. Das ist alles."

Natürlich war das noch bei Weitem nicht alles, aber das musste sie jetzt noch nicht erfahren. Und ob ich ihr von meiner innigen Beziehung zu ihm erzählen wollte, wusste ich auch noch nicht. Niemand, außer meinem Bruder, wusste von ihm und wie sehr ich damals verletzt gewesen war.

Eine Flasche in der Mitte wurde gedreht und blieb bei einem Mädchen in einem roten, hautengen Kleid stehen. Dieses Spiel erinnerte mich an Flaschendrehen. Nur, dass neben der azurblauen Flasche zwei Stapel mit Karten zu finden waren. Auf dem einen Stapel stand Play with me mit einem weiblichen Zeichen, und auf dem anderen Stapel stand Play with me mit einem männlichen Zeichen darauf. Das Mädchen, auf das die Flasche deutete, nahm sich eine Karte aus dem weiblichen Stapel, und las sie laut vor.

„Such dir den attraktivsten Jungen in der Runde, und küsse ihn leidenschaftlich."

Natürlich standen solche Sachen auf den Karten oben. Wie hätte ich auch etwas anderes erwarten können? Dieses Spiel war mir jetzt schon zu blöd, und am liebsten wäre ich aufgestanden und gegangen, doch Anja hielt mich zurück und flehte mich mit ihrem Blick an, zu bleiben.

Das Mädchen in dem roten Kleid stand auf, und stolzierte selbstsicher zu einem Jungen neben Gabriel hin. Dieser besaß kastanienbraunes Haar, und war derjenige, mit dem sich Gabriel vorhin unterhalten, gelacht und angestoßen hatte.

„Das ist Markus. Seinen Eltern gehört das Haus", flüsterte mir Anja zu.

Ein Pfiff und Gelächter ging durch die Runde, als sich das Mädchen zu Markus runterbeugte, und ihn küsste. Nein, nicht nur küsste. Sie ließ ihren schlanken Körper auf seinen Schoß gleiten, presste sich eng an ihn, legte die Arme um seinen Nacken, und seufzte in den Kuss hinein. Die Menge johlte, und war sichtlich begeistert.

Ich musste wegschauen, gaffte die Tür an, durch die ich vorhin gekommen war. Denn das, was die beiden machten, war mir eindeutig zu intim. Es schienen Stunden zu vergehen, bis der Kuss endlich vorüber war, und das Mädchen nahm ihren alten Sitzplatz ein.

Ich ließ meinen Blick über die Leute im Kreis schweifen, und schaute mir die Gesichter an. Alle waren gespannt, wer als nächstes an der Reihe wäre, und auf ihren Lippen lag immerzu ein Lächeln. Doch dann trafen sich meine Augen mit Gabriels, und mein Herz setzte für einen kurzen Moment aus. Er betrachtete mich, und es schien ihm überhaupt nichts auszumachen, dass ihn jeder dabei sehen konnte, wie er mich ungeniert anstarrte. In seinen Augen konnte ich lesen, dass er verwirrt über mich, aber gleichzeitig auch interessiert war. Mir ging es mit ihm nicht anders.

Ein Jubel drang durch die Runde, weswegen ich meinen Blick von Gabriel wandte, und schaute, wer nun an der Reihe war. Es war irgendein Typ, welcher aus einem Modekatalog entsprungen sein könnte. Hatte ich es in diesem Haus eigentlich mit lauter Adonis zu tun?

„Spendiere der gesamten Runde ein Stamperl Schnaps", las er laut lachend vor, und guckte Gabriel gespielt beleidigt an. „Wie oft muss ich denn noch eine Runde spendieren?", wollte er erheitert wissen.

„Solange, bis du endlich mal eine andere Karte ziehst." Gabriel grinste. Huch, und wie er grinste. Mein Herz flatterte. Und diese Stimme dazu. Eine ungewohnte Sehnsucht machte sich in mir breit.

Meine Reaktion auf ein schlichtes, stinknormales Grinsen, war alles andere als gesund. Ich sollte von hier fort. Am besten sofort. Denn ich hatte keine Ahnung, zu welchen skurrilen Reaktionen mein Körper heute noch fähig war.

„Wir drehen mal weiter, denn bis du wiederkommst, dauert es ewig", lachte ein Mädchen in einem blauen Kleid. Sie saß in der Nähe von Gabriel, und sah ihm ziemlich ähnlich. Nur, dass über ihre Schultern brünettes, welliges Haar fiel, und kein blondes. War das etwa Magdalena? Die Schwester von Gabriel? Ich hatte mit ihr nie wirklich viel zu tun gehabt, doch meine Vermutung bestätigte sich, als sie mich ebenfalls ansah, und mich leicht anlächelte. So, als wüsste sie, wer ich war.

Der Junge, der die Schnapsgläser bringen wollte, drehte noch schnell, ehe er sie holen ging.

Es war mir klar gewesen, dass diese dämliche Flasche irgendwann bei mir stehen bleiben würde, doch dass es so schnell ging, hätte ich mir nicht gedacht. Zumindest hatte ich es nicht gehofft, denn wenn ich ehrlich war, wollte ich nicht drankommen. Absolut. Nicht.

Diese blöde Flasche deutete zielgenau auf mich. Nicht so, dass es vielleicht ich, oder mein Nachbar sein könnten. Nein, sie ließ mir nicht einmal eine Wahl.

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