25 | Familiendrama
„Sein Name war Andreas.“ Meine Mutter seufzte auf. „Er war das Beste, was mir je passiert ist.“
„Von was redest du denn da?“ Mein Bruder schob den Stuhl quietschend nach hinten, und stand abrupt auf. „Ich hoffe, du sprichst nicht davon, wovon ich denke, dass du sprichst.“
„Das, mein Sohn, kommt ganz darauf an, was du denkst“, zischte sie. „Aber ich werde dir nun etwas ganz anderes sagen, als womöglich in deinem Gehirn herumgeistert.“ Meine Mutter schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Setz dich wieder.“
Ich bebte am ganzen Körper, denn mir war nicht wohl dabei, eine Geschichte zu hören, welche mir jetzt schon Angst bereitete. Ich fürchtete, dass jener Vater, welchen ich immer als solchen angesehen hatte, in Wahrheit nicht mein Vater war.
Gabriel nahm meine Hand in seine, und drückte sie beruhigend. Mein Bruder setzte sich wieder, und gemeinsam schauten wir zu unserer Mutter. Sie hatte unseren Vater doch nicht betrogen? Schon allein bei dem Gedanken graute es mir. Nein, meine Mutter war zu vielem fähig, aber das hätte sie ganz bestimmt nicht gemacht. Ich wusste doch, wie sehr sie ihn geliebt hatte.
„Sein Name war Andreas“, begann meine Mutter ein weiteres Mal. „Wir waren über vier Jahre miteinander zusammen. Ich wurde schwanger. Mit euch.“ Sie machte eine kurze Pause.
Mir fehlte die Luft zum Atmen, doch ich entschied, noch nichts zu sagen, und meine Mutter aussprechen zu lassen.
„Ich war im fünften Monat, als er bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam.“ Eine Träne verabschiedete sich von Mutters Auge. Mir stockte der Atem. Warum hatte sie uns das nie erzählt? „Kurz darauf lernte ich Marcel kennen. Er wusste, dass ich schwanger war, und er wusste, dass ihr nicht von ihm wart. Er kannte meine traurige Geschichte, doch er ließ sich dennoch auf mich ein. Er wollte nie eigene Kinder haben, doch da er sich in mich verliebte, wollte er auch euch. Er liebte euch. Sehr sogar. Wie, wenn ihr sein eigenes Fleisch und Blut gewesen wärt. Ihr kanntet es doch auch nie anders, denn er war stets für euch da gewesen. Seit dem Tag eurer Geburt. Er mochte zwar nicht euer Erzeuger gewesen sein, doch er war ganz bestimmt euer Vater!“
An unserem Tisch war es still geworden. Keiner von uns sagte ein Wort. Wenn ich ehrlich war, fehlten mir sogar die Worte.
„Es tut mir leid, dass ich es euch erst jetzt erzähle. Doch wie hätte ich es euch als Kinder klarmachen können? Und als Marcel dann starb …“ Die Stimme meiner Mutter brach, doch sie hatte sich erstaunlich schnell wieder gefangen. „Ich weiß nicht, wie viel Schmerz ein menschliches Herz aushalten kann, doch mir wurden schon zwei geliebte Menschen innerhalb weniger Jahre genommen. Ich wollte euch nicht auch noch verlieren“, schloss sie ihre Geschichte und betrachtete abermals ihre Fingernägel.
„Unser Vater hat es die ganze Zeit gewusst?“ Mein Bruder starrte unsere Mutter fassungslos an.
„Natürlich. Er hat mich so kennengelernt.“
„Wo habt ihr euch kennengelernt?“, fragte ich sie. Meine Stimme hörte sich erstaunlich normal an.
Sie seufzte. „Im Supermarkt.“ Ein kleines Lächeln stahl sich für einen winzigen Augenblick auf ihre Lippen. „Doch das ist schon ewig her.“
„Das mag schon sein, aber warum zum Henker, erfahren wir erst jetzt von ihm? Was ist mit seinen Eltern? Sie wissen nicht einmal, dass sie Enkel haben, oder?“ Helenos schien wütend zu sein. Ihn nahm diese Geschichte wohl mehr mit, als mich.
„Andreas hatte kein sonderlich gutes Verhältnis zu seinen Eltern, weswegen sie noch nicht einmal wussten, dass ich schwanger von ihm war. Er hatte es ihnen noch nicht mitteilen wollen“, sie seufzte. „Deswegen nein, seine Eltern wissen nicht, dass es euch gibt.“
„Ich würde sein Grab dennoch gerne besuchen“, meinte mein Bruder fest entschlossen.
„Er und Marcel liegen am gleichen Friedhof begraben. Ich besuche beide regelmäßig.“
Mein Herz wurde schwer, denn auf einmal tat mir meine Mutter unendlich leid. Wie viel Leid sie ertragen musste! Es war schrecklich einen geliebten Menschen zu verlieren, aber gleich zwei? Das war dann doch sehr heftig.
„Ich wollte es euch all die Jahre nie sagen, doch nun fällt mir ein Stein vom Herzen“, gab sie ehrlich zu. „Ich hoffe, ihr seid mir nicht allzu böse, doch ich konnte es nie über mich bringen. Marcel war euch so ein guter Vater gewesen.“ Seufzend starrte sie ins Leere.
Hätte Gabriel meine Hand nicht kurz gedrückt, hätte ich vergessen, dass wir in einer Pizzeria saßen, umrundet von fremden Menschen. Wenn sie gelauscht hatten, dann kannten sie unser Familiendrama nun in und auswendig. Doch um uns herum ging das Gelächter, das Getratsche und Gerede einfach weiter.
Für meinen Bruder und mich hatte sich etwas geändert. Wir hatten nun zwei Väter. Zwar hatten wir dies schon seit dem Tag unserer Geburt, wir wussten nur nichts davon. Wie hätten wir es auch ahnen können? Marcel war stets für uns da gewesen, hatte uns beigestanden, uns geholfen, mit uns gelacht, getanzt, gesungen, gegessen, gelebt. GELEBT. Er war unser Vater, egal was ich nun erfahren hatte. Andreas hätte es zwar gerne sein wollen, doch durch seinen Tod hatten wir ihn nie kennengelernt.
Helenos und ich hatten zwei Väter. Doch beide Väter weilten nicht mehr auf dieser Erde. Einen der beiden hatten wir kennenlernen dürfen, den anderen leider nicht mehr. Vielleicht hatte Andreas Marcel zu meiner Mutter gesandt, damit sie uns nicht allein großziehen musste, wer wusste das schon. Dieser Gedanke gefiel mir irgendwie, auch wenn uns Marcel viel zu früh verlassen hatte. Doch verließen uns geliebte Menschen nicht immer zu früh? Auch wenn man glaubte, darauf vorbereitet zu sein, so richtig war man es dann doch nie.
Für meine Mutter war das bestimmt ein harter Schlag ins Gesicht gewesen, als sie erfahren hatte, dass unser Vater an Krebs erkrankt war. Doch auch für Marcel stellte ich es mir schwierig und traurig vor, zu wissen, dass man eine Frau zurücklassen musste, welche dieses Leid schon einmal ertragen hatte müssen.
Mir wurde klar, warum meine Mutter so war wie sie war, und weswegen sie so handelte, wie sie handelte. Sie war eine verunsicherte und ängstliche Frau. Sie dachte womöglich, ihr sei das Glück nicht vergönnt. Sie hatte keine Freunde, und schon seit Jahren keinen Mann mehr an ihrer Seite. Sie versuchte alle Menschen auf Abstand zu halten und jene die sie liebte, ständig anzumaulen. Ich verstand meine Mutter, irgendwie. Ich wüsste nämlich nicht, wie ich sein würde, wäre ich ihren harten Weg gegangen.
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Zwei Stunden später standen wir zu viert bei Vaters Grab. Gabriel hatte nicht viel gesagt, seitdem wir die Pizzeria verlassen hatten. Er war einfach immer nur an meiner Seite.
Marcel. Jener Mann, welcher uns großgezogen hatte. Uns kannte, als wir Babys waren. Kleinkinder. Kinder. Doch weiter hatte er uns nicht kennenlernen dürfen. Er kannte uns nicht als erwachsene Personen. Doch womöglich guckte er vom Himmel herab, und beschützte uns von oben. Möglich war alles, auch wenn ich nicht sehr daran glaubte.
„Er war immer gut zu euch. Ich hatte ihn nicht verdient, doch er ließ mich nie allein. Er hat mich nie verlassen und er beteuerte, dass er auch niemals daran gedacht hatte. Ich liebe ihn noch immer.“ Meine Mutter seufzte, und ging auf die Knie. Sie lächelte, als sie auf sein Grab schaute. Dann kam sie wieder hoch, berührte den Grabstein und flüsterte noch ein paar Worte, die ich nicht verstand.
„Kommt“, meinte sie plötzlich. Sie eilte voraus, und wir torkelten ihr hinterher. Mein Bruder und ich tauschten nervöse Blicke, denn das alles erschien uns so unwirklich. Genauso, wie die Geschichte, die mir Gabriel letztens erzählt hatte. Mir lief es noch immer eiskalt über den Rücken, wenn ich daran dachte. In letzter Zeit schien alles in meinem Leben ein bisschen durcheinander zu kommen. Nichts hatte mehr eine gerade Linie, denn ständig bauten sich irgendwelche Kurven ein.
„Hallo Andreas“, flüsterte meine Mutter, als sie bei einem weiteren Grabstein stehen blieb. Es war direkt neben der Friedhofsmauer, und hier herrschte eine angenehme Stille. Niemand war in absehbarer Ferne zu sehen. Zwei Kerzen brannten an seinem Grab und ein frisches Paar Blumen stand in einer Vase darauf. Es schien, als würde auch er regelmäßig besucht werden.
Für immer geliebt.
Niemals vergessen.
Auf ewig vermisst.
Andreas Jakob Long
Mein Erzeuger. Mein Vater. Mein Erzeuger, der mein Vater sein wollte.
Ungewollt lief mir eine Träne über die Wange, die ich mir hastig wegwischte. All die Jahre war er hier gewesen, all die Jahre hatten wir ihn nicht besucht. Es war schrecklich zu wissen, dass wir nichts von ihm gewusst hatten, doch es tat auch weh.
Ich wusste nicht recht, wie ich mit dieser neuen Information umgehen sollte. Sie änderte so viel, und gleichzeitig auch nichts.
„Auch ihn liebe ich noch immer“, gestand unsere Mutter. „Wie könnte ich auch nicht? Er hat mir zwei wundervolle Kinder geschenkt. Ohne euch, würde ich vermutlich nicht mehr leben.“
„Mama.“ Entsetzt schaute ich sie an.
„Das ist die Wahrheit. Hätte ich euch nicht, ergäbe mein Leben keinen Sinn mehr. Warum werden mir immer die Menschen genommen, die mir am wichtigsten sind? Ich habe viel darüber nachgedacht, doch ich weiß es nicht. Das Leben möchte nicht, dass ich glücklich werde. Außerdem habe ich zu große Angst davor, was wäre, wenn ich mich erneut verlieben könnte.“ Sie seufzte.
„Vielleicht solltest du dem Leben noch eine weitere Chance geben?“, schlug ich vor.
Meine Mutter lächelte für einen kurzen Augenblick. Sie drehte sich zu mir, und schaute mich an. „Die Liebe deines Lebens findest du im Normalfall nur ein einziges Mal. Ich dachte immer, es sei Andreas. Als er starb, hätte ich nicht gedacht, dass so schnell jemand neues in mein Leben treten würde. Marcel sah, dass ich komplett überfordert war, Angst hatte und in Trauer versank. Er half mir über alles hinwegzukommen, neu anzufangen, und nach vorne zu blicken. Bis heute weiß ich nicht, wen ich mehr geliebt habe. Andreas oder Marcel. Ich weiß es nicht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich liebe sie beide. Doch ein drittes Mal kann und will ich das nicht mehr erleben. Ich würde einen weiteren Tod meines Geliebten womöglich nicht überleben, doch ich will leben. Für euch. Auch wenn ich keine sonderlich gute Mutter bin, möchte ich das ihr wenigstens einen lebenden Elternteil habt.“
Ich umarmte meine Mutter, und nuschelte in ihre Jacke: „Ich habe dich lieb.“
„Ich dich auch. Und dich auch, Helenos.“ Nach einer Weile schaute sie auf, und betrachtete Gabriel. Sie musterte ihn abermals von oben bis unten. „Es tut mir leid, wie ich zu dir war. Ich dachte immer, deine Mutter würde mein Geheimnis weiterplappern. Ich wusste nicht, dass sie so dichthalten würde.“
„Meine Mutter mischt sich selten in Angelegenheiten ein, die sie nichts angehen. Sie möchte keine Familien zerstören“, meinte Gabriel.
Kurz war es still. Selbst der Wind schien stehen geblieben zu sein.
„Was ist dir widerfahren?“
Die Frage meiner Mutter brachte Gabriel kurz aus dem Konzept, und er stotterte für einen Moment bei seinem Satz herum: „Was meinst du?“
„Ich habe Tage und Nächte im Krankenhaus verbracht. Ich erkenne Menschen, die nur mehr ein Bein haben. Ich merke es an deinem Gang, ich sehe es an deiner Hose und ich erkenne diese Schuhe. Das sind extra dafür angefertigte Schuhe. Während der Zeit im Krankenhaus habe ich einige besondere Menschen kennengelernt.“ Sie seufzte, und rang um ein Lächeln.
Ich stellte mich neben Gabriel, nahm seine Hand in meine. Er musste nichts sagen, was er nicht laut aussprechen wollte. Schon gar nicht in der Gegenwart meiner Mutter, und meinem Bruder.
Mein Bruder allerdings war ganz überrascht, und betrachtete schockiert die Beine meines Freundes. Wie viele Informationen über das wahre, nackte und harte Leben würde mein Bruder heute noch zu hören bekommen? Wie viel konnte er ertragen?
„Es war ein Auslandseinsatz“, war alles was Gabriel sagte. Meine Mutter schenkte ihm ein schnelles mitleidiges Lächeln, drehte sich dann aber wieder zu dem Grabstein von Andreas um.
„Niemand hat es verdient, schwer krank, oder ernsthaft verletzt zu werden. Das tut mir leid“, meinte meine Mutter. Entweder mehr zu sich selbst, oder doch zu Gabriel.
Keiner von uns sagte mehr ein Wort. Eine Weile standen wir stumm neben dem Grab meines Erzeugers, und betrachteten die Gravur. Es war eine schöne Schrift, und man hatte sich wirklich viel Mühe gegeben, damit dieser Grabstein schön aussah. Es freute mich, dass Andreas Menschen um sich gehabt hatte, die ihn geliebt hatten. Zu gern hätte ich ihn kennengelernt, doch dann wäre ich meinem Vater, Marcel, niemals begegnet. Das wäre mindestens genauso traurig, wie Andreas niemals begegnet zu sein.
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