19 | Die Schlange

„Lass uns in mein Zimmer gehen. Magda kommt bestimmt irgendwann in der Nacht nach Hause“, meinte Gabriel irgendwann.

Ich hatte überhaupt keine Ahnung, wie lange wir schon auf dem Sofa saßen. Es konnten zehn Minuten sein, genauso wie auch zwei Stunden. Penny war inzwischen auf Gabriels Schoß eingeschlafen, und gab ein verwirrtes Mauzen von sich, als er sie hochhob, und behutsam in die Sofaecke legte.

Ich brachte nur ein Nicken zustande, und folgte Gabriel in ein Zimmer, in dem ich noch nie war. Als wir gemeinsam Filme geschaut hatten, war ich stets nur im Wohnzimmer oder in der Küche gewesen. Dieses Zimmer hatte er immer verschlossen gehalten. Nun aber öffnete er es. Ich verstand nun auch warum.

Als er das Licht aufdrehte, sah ich seine Abzeichen, welcher er beim Heer bekommen hatte, und einige Anerkennungen an der Wand. Über seinem Doppelbett hing die österreichische Flagge. Ansonsten war es in seinem Zimmer ziemlich leer.

Ich wandte mich Gabriel zu, welcher wieder leicht zitterte. Zaghaft berührte ich seinen Arm und brachte ihn dazu, mich anzusehen.

„Als wir Kinder waren, haben wir oft nebeneinander geschlafen, kannst du dich noch daran erinnern?“, wollte ich von ihm wissen.

Gabriel nickte. „Ja. Es ist viel Zeit dazwischen vergangen, und aus den beiden jungen Kindern sind Erwachsene geworden.“ Gabriels Mundwinkel zuckte nach oben. Er griff in seinen Kleiderschrank und nahm ein T-Shirt und eine Boxershorts heraus, welche er mir entgegenstreckte. „Du kannst das gerne anziehen, wenn du möchtest. Dein Rucksack ist noch im Auto. Ich kann ihn dir aber auch holen gehen, wenn du willst.“

„Nein, nein. Das ist perfekt, danke.“ Ich nahm Gabriels Kleidung an mich. Er drehte sich um, und starrte die Wand an.

„Du kannst dich umziehen.“

„Das ist sehr freundlich von dir, dass du dich umdrehst“, ich kicherte. Als ich umgezogen war, umrundete ich ihn, stellte mich vor Gabriel, und zeigte auf meinen Körper hinab. „Steht mir gut, oder?“ Eigentlich meinte ich das eher sarkastisch, da seine Hose schlabbernd von meinen Beinen hing und das T-Shirt mir bei Weitem zu groß war, doch Gabriel betrachtete mich ... gierig.

„Sehr gut sogar.“ Gabriels Hände umschlossen meine Hüfte, und er zog mich näher an sich heran. Mein Herz setzte augenblicklich zwei Schläge aus. Wärme durchflutete meinen Körper, und als ich in seine Augen schaute, fühlte ich mich sicher und geborgen.

Wie hatte ich die letzten fünfzehn Jahre bloß ohne ihn überlebt? Ich wusste es nicht mehr. Er war mein bester Freund gewesen, und er war es noch immer. Wohl besser: er war so viel mehr, als nur mein bester Freund, denn ich war drauf und dran mich Hals über Kopf in ihn zu verlieben. Wenn ich das nicht bereits war.

„Wenn ich dir so nahe bin, und du mich so anschaust, kann ich nicht klar denken“, gab ich schwer atmend zu. Nun war ich diejenige die zitterte, und nicht mehr Gabriel. Er schien schon wieder vergessen zu haben, über was wir uns vorhin unterhalten hatten, denn er drückte mich noch näher an sich heran.

„Ich würde dich so gerne küssen.“ Ich war von seiner Feststellung überrascht.

„Warum tust du es dann nicht?“ Mein Herz klopfte wild.

„Weil ich nicht deswegen wollte, dass du bei mir bleibst.“

„Okay", wisperte ich.

Ohne lange nachzudenken, ob es richtig war, oder falsch, stellte ich mich auf die Zehenspitzen, bis sich unsere Lippen berührten.

Gabriel konnte spüren, dass ich nervös war, deswegen schloss er mit einer einzigen kontrollierten Bewegung den Abstand zwischen uns. Er presste seine Hüfte gegen mich, und ich ließ mit meinem Kuss keine Zweifel aufkommen, wie sehr ich ihn die ganze Zeit schon begehrt hatte. Wie sehr ich mir gewünscht hatte, dass wir uns wieder so leidenschaftlich küssen würden, wie wir es beim Spieleabend gemacht hatten.

Erst als seine kalten Finger unter das von ihm geborgte T-Shirt glitten, schlug ich die Augen auf, und entfernte mich zaghaft von seinen Lippen.

„Ich, uhm." Ich wusste nicht, was ich sagen wollte, weil ich nicht genau wusste, weswegen ich den Kuss unterbrochen hatte.

„Schon gut, ich bin zu weit gegangen.“

„Nein. Nein!“, stellte ich sofort klar. „Es ist nur so, dass ich noch nie mit jemandem ge-geschlafen habe und du schon hunderte Male. Weißt du es ist …“ Mir viel nichts mehr ein, außer, dass ich schon wieder wirres, peinliches Zeug vor mich hinplapperte.

„Hunderte Male also?“ Gabriel ging auf sein Bett zu, und setzte sich. Von dort aus musterte er mich amüsiert. „Warum denkst du das?“

„Naja, geht es beim Spieleabend nicht genau darum?“ Zaghaft biss ich mir auf meine Unterlippe.

„Man kann, wenn man die Play with me Karte zieht, machen was man möchte. Das heißt nicht, dass man mit demjenigen schlafen muss. Haben wir zwei etwa miteinander geschlafen?“

„Nein, aber…“, ich war sprachlos.

„Ich weiß schon, was du denkst. Du liegst auch richtig, denn die meisten erwarten dies auch immer, wenn sie diese Karte ziehen. Doch ich habe die Frauen immer anders glücklich gemacht, wenn du verstehst, wie ich das meine. Ich habe mit keiner einzigen Frau geschlafen, mit der ich gemeinsam diese Karte gezogen habe. Sie waren auch so ganz angetan von mir“, lachte er kurz auf, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Es ist nur so, dass ich mich vor anderen Menschen sehr selten ohne lange Hose zeige. Quasi niemand kennt mich so, bis auf meine Eltern, und Magdalena. Markus weiß es, aber gesehen hat er mich so noch nie.“ Gabriel starrte auf seine verknoteten Finger. Wenn ich nicht ahnen konnte, über was er sprach, hätte ich es wohl nie erraten.

„Das wusste ich nicht. Als du mich das erste Mal mit rauf in dieses Zimmer genommen hast, ahnte ich schon das Schlimmste und dachte du seist der komplette Frauenaufreißer“, gestand ich ihm.

„Damals, vor dem Unfall, war das auch noch anders. Ich schlief zwar nicht mit jedem x-beliebigen Mädchen, aber mit sehr vielen. Ein Heiliger bin ich also nicht, und werde es auch niemals sein. Du musst wissen, auch wenn du Play with me nicht magst, dass ich dieses Spiel entworfen habe.“

„Du?“, fragte ich erstaunt. Mit dem hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Ich dachte es handelte sich dabei um so ein dämliches Spiel, welches man in so manchem Geschäft kaufen konnte, in welchem ich noch nie war. Oder online bestellen konnte. Oder was wusste ich.

„Ja, ich. Damals war ich auch echt stolz auf mich gewesen, so ein großartiges Spiel erfunden zu haben. Außerdem liebten meine Freunde dieses Spiel genauso sehr wie ich. Bei den Mädchen kam das Spiel auch ganz gut an, und so habe ich es mit nach Graz genommen, Markus kennengelernt und ihm in einem schwachen Moment von diesem Spiel erzählt. Er war natürlich sofort davon begeistert, und ich musste ihm versprechen, dieses Spiel ein einziges Mal bei seinem Spieleabend vorführen zu lassen. Aus einmal wurde zweimal, und alle fuhren darauf ab. Deswegen wird es immer noch gespielt. Die Leute kommen auf Markus Party, weil das Spiel der Hammer ist, wie viele behaupten. Ich spiele einfach nur mehr mit, weil ich weiß, wie ich die Regeln umgehen kann. Ich bin immerhin der Erfinder." Gabriel lachte auf, und schaute mich an.

„Oh“, war alles was ich herausbrachte. Irgendwie fand ich es witzig, dass Gabriel der Erfinder von Play with me war. „Bist du die Spielregeln denn schon oft umgangen?“, fragte ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Einige Male.“ Er grinste. „Zum Beispiel, als ich dich geküsst habe.“

„Was? War ich doch nicht die schönste Frau im Raum?“, fragte ich gespielt entsetzt.

Küsse leidenschaftlich die schönste Frau im Raum. Nun ja, das steht auf keiner einzigen Karte“, er lachte leise und schaute mich danach wieder an.

„Oh.“ Oh. Ich versuchte nicht zu grinsen, doch es gelang mir nicht. „Was stand denn dann auf deiner Karte?“

„Irgendetwas Blödes. Ich weiß es gar nicht mehr. Ich wusste nur, dass ich mit dir verschwinden wollte. Und, dass ich dich küssen wollte.“

„Also hast du es schamlos ausgenutzt, dass du der Erfinder bist“, schmunzelte ich.

„Das habe ich wohl. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.“ In seinen Augen funkelte es. Dieser Blödmann! Doch meine Mundwinkel zogen sich ungewollt nach oben.

Ich setzte mich zu ihm auf das Bett und lächelte ihn an. „Meinen ersten Kuss habe ich mir immer ganz anders vorgestellt. Allein. Vielleicht unter dem Sternenhimmel. Romantischer eben“, kicherte ich. „Aber, dass genau du es warst, das macht mich glücklich“, gestand ich.

Gabriel zog mich in seine Arme, und so saßen wir eine Zeit lang da. Es fühlte sich herrlich an, seine starken Arme um mich geschlungen zu haben. Seine Wärme tat mir gut. Sein Atem an meinem Hals fühlte sich gut an.

„Vielleicht sollten wir versuchen, schlafen zu gehen“, meinte ich nach einer Weile. Immerhin war es kurz vor Mitternacht und heute war ein turbulenter Tag gewesen. So viel hatte sich getan und so viel wurde gesagt. Noch dazu die lange Autofahrt, wie ich nun auch feststellen musste, mit nur einem richtigen Bein. Wie man so eigentlich Autofahren konnte, war mir ein Rätsel, doch heute würde ich ihn darauf nicht mehr anreden. Heute war schon genug passiert.

„Kassy, es ist unvorstellbar un-ungemütlich mit …" Er stotterte. Er war wieder nervös. Ich schaute ihm ermutigend in die Augen. Vor mir brauchte er vor nichts Angst zu haben. „... ungemütlich mit Pro-othese zu schlafen. Also, wenn du gehen möchtest, dann kannst du selbstverständlich, also jederzeit, gehen.“ Gabriel setzte sich aufrecht hin, und stieß schwer atmend die Luft aus.

Es musste wirklich schwer für ihn sein, über dieses Thema zu sprechen. Es war tief in seinen Knochen verankert und er hatte Angst. Auch mein Herz hatte bei dem Wort Prothese ausgesetzt. Denn erst jetzt, wo er es ausgesprochen hatte, wurde es die bittere Wirklichkeit.

„Gabriel, ich gehe nicht“, sagte ich fest entschlossen.

Er nickte. Danach zog er sich, ohne lange weiter darüber nachzudenken, zuerst sein T-Shirt, und danach seine Hose aus. Nun stand er mir nur noch mit seiner Unterhose gegenüber. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass mich das nicht auf andere Gedanken brachte. Doch deswegen war ich heute nicht hier. Deswegen hatte sich auch Gabriel nicht ausgezogen.

Sein rechtes Bein war anders als das von den meisten Menschen. Ich fand es nur erstaunlich wie so eine Prothese in Wirklichkeit aussah und wie gut Gabriel damit umgehen konnte, da ich es nicht gemerkt hätte, hätte er es mir nicht ungewollt klargemacht.

Die Prothese begann an seinem Oberschenkel. Sie sah ziemlich modern aus, und vermutlich war sie das auch, denn sie war mir bis jetzt noch nicht aufgefallen. Sie bestand aus einem Schaft, einem Kniegelenk, einem Unterschenkel und einem Fußteil.

„Du kannst damit Gehen. Du kannst damit Tanzen. Du kannst damit Autofahren.“ Nun hatte ich es doch angesprochen. „Auch wenn es für dich schwer ist, aber ich finde, du kannst damit gut umgehen. Die Menschen, die es nicht wissen, die würden es nicht einmal merken. Das finde ich bemerkenswert“, gab ich zu, und schaute in seine braunen Augen. Ich konnte erkennen, dass er nervös war, und sich am liebsten irgendwo verkriechen wollte. Doch er tat es nicht. Er blieb stehen, und musterte mich ebenfalls.

„Ich habe lange gebraucht, bis ich mich daran gewöhnt habe, und noch viel länger, bis ich es akzeptiert habe. Aber ich bin noch nicht so weit, dass es mir egal ist, ob es die Menschen sehen, oder nicht.“ Gabriel setzte sich nun wieder auf sein Bett, und ich berührte seinen Arm. Von seinem Arm wanderte ich weiter zu seiner Schulter, bis hin zu seinem Brustkorb. Bei seinem Tattoo machte meine Hand Halt. Erst jetzt merkte ich, wie Gabriel sich angespannt hatte, und mich erneut musterte.

Ich hob den Kopf, blickte ihm entgegen. Bevor ich etwas sagen konnte, schluckte ich schwer. Was tat ich hier eigentlich? Hatte ich nicht gesagt, dass wir schlafen gehen sollten?

„Für was steht diese Schlange, direkt über deinem Herzen?“ Ich räusperte mich, da meine Stimme plötzlich eine seltsame Tonlage angenommen hatte. Ich war offenbar genauso nervös, wie Gabriel. Nur, dass dieser einen besseren Grund hatte, als ich.

„Eine Schlange kann für Leid und Tod stehen, aber auch für Gesundheit und Wiedergeburt. Sie vereinigt Gut und Böse.“ Gabriel hob die Schultern. „Meine Eltern waren anfangs nicht begeistert von diesem Tattoo, da sie das Symbol der Schlange als böse empfinden. In der Bibel war es eine Schlange, welche Adam und Eva aus dem Paradies gelockt hatte. Deswegen waren sie anfangs nicht einverstanden damit gewesen, doch dagegen unternehmen konnten sie sowieso nichts mehr, da ich es mir schon stechen lassen hatte, bevor ich es ihnen überhaupt gesagt hatte.“ Gabriel seufzte auf. „Ich ließ sie mir erst nach meinem Unfall stechen. Für mich hat das Symbol der Schlange mehr Gutes als Böses. Man kann sich selbst aussuchen, wie man die Schlange sehen mag. Meine bohrt sich in meine Haut hinein, was man durchaus als böse sehen kann. Doch für mich hat sie eine heilende Wirkung und sie schenkt mir Kraft.“

„Ein Tattoo muss auch nur für einen selbst eine Bedeutung haben. Was die anderen darüber denken, kann dir egal sein. Ich finde diese Schlange faszinierend“, gab ich zu und löste meine Hand von seinem Körper.

„Danke.“ Gabriel lächelte mich an, schaute mir einmal fest in die Augen, ehe er sich seiner Prothese widmete. „Dieses Ding hier muss auch noch runter, sonst kann ich nicht schlafen.“

„Dann konntest du deswegen letzte Nacht nicht gut schlafen?“, wollte ich wissen.

„Nein, die Albträume habe ich immer.“ Er seufzte auf. „Falls dir das alles zu viel wird, kannst du gehen. Ich werde dich nicht davon abhalten.“

„Gabriel, warum sollte es mir zu viel werden? Du bist derjenige, der damit leben muss, nicht ich. Ich bin gerne für dich da, wenn du mich lässt, deswegen gehe ich auch nicht, solange du mich nicht wegschickst.“

„Also lässt du morgen die Uni sausen?“ Gabriel hob die Augenbrauen, grinste mich schelmisch an.

„Wieso?“ Ich runzelte die Stirn.

„Wenn du erst gehst, wenn ich dich wegschicke, dann wirst du für immer bleiben müssen.“

„Du Spinner", wisperte ich lächelnd.

Gabriel beschäftigte sich nun wieder mit seiner Prothese, streifte sie ab und legte Strumpf und Prothese zaghaft zur Seite. Er hatte einen bestimmten Platz, wo er sie hinlegte, und schaute mich von dort aus an.

„Ich werde jetzt das Licht abdrehen.“

„Okay“, flüsterte ich. Doch auch ich schaute ihn noch immer an. Es war ganz seltsam einen Mann zu sehen, welcher mit nur einem Bein vor einem stand. Ich wusste, dass Gabriel mir etwas anvertraut hatte, was ihm nicht leichtfiel. Ich wusste, dass es nicht viele Menschen gab, die ihn so kannten. Ich wusste, dass ich ihm irgendetwas bedeuten musste. Deswegen stand ich vom Bett auf, auch wenn es dunkel war, und sich meine Augen erst wieder an die Finsternis gewöhnen mussten, ging ich auf Gabriel zu.

„Was machst du?“, fragte er leise, als ich plötzlich vor ihm stand.

„Ich weiß es nicht“, war meine ehrliche Antwort. Doch ich ergriff seine Hand, und verflocht unsere Finger ineinander. Alles was ich wusste, war, dass ich ihn wollte. So wie er war. Alles an ihm wollte ich haben. Alles an ihm begehrte ich. Alles an ihm tat mir gut. Ich konnte nicht beschreiben wieso, oder warum genau er. Doch es war so. Es war einfach so.

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