16 | Kein Zuckerschlecken
Ich bemerkte, dass ich schon ziemlich lange unter der heißen Dusche stand, und stellte sie ab. Eine Träne bahnte sich einen Weg über meine Wange. Ich hatte nicht mitbekommen, dass ich angefangen hatte zu weinen, doch die Erinnerung an diesen Tag war schrecklich. Dabei hatte der Tag so gut angefangen. Dass er im Krankenhaus endete, mit der Diagnose, mein Vater hätte Krebs, damit hätte ich niemals gerechnet. Genauso wenig wie mein Bruder. Oder meine Mutter. Mein Vater jedoch schien irgendwie gefasster. Er hatte sich wohl schon seit längerer Zeit darüber Gedanken gemacht, und hatte diese Diagnose für möglich gehalten.
Ich schüttelte meine trüben Gedanken ab, denn sie stimmten mich nur traurig. Außerdem war das alles schon ziemlich lange her. Ich konnte mich ja nicht einmal mehr an den Duft meines Vaters erinnern. Als mir dieser Gedanke zum ersten Mal durch den Kopf geschossen war, hatte ich tagelang keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Ich hatte vergebens versucht meinen Papa zu riechen, oder auch nur an den Geruch zu denken, doch er mochte mir bis heute nicht einfallen.
Ich schob die Türen der Duschkabine zur Seite, trocknete mich ab, und stieg aus der Dusche. Danach wagte ich einen Blick in den Spiegel, welcher ziemlich angelaufen war, und schüttelte den Kopf. Meine Mascara war sehr verschmiert, obwohl ich mich davor abgeschminkt hatte. Doch die heiße Dusche und meine salzigen Tränen hatten den Wimpern den Rest gegeben.
Als ich, in meinem Pyjama bekleidet, das Schlafzimmer von Gabriel betrat, musterte mich dieser mit einer besorgten Miene.
„Ist alles okay bei dir?“
„Ja-a“, stotterte ich. Denn mit dieser Frage hätte ich nicht gerechnet. Eigentlich hätte ich mit gar keiner Frage seinerseits gerechnet.
„Das klang jetzt sehr ehrlich.“ Gabriel sah besorgt aus und kam auf mich zu. „Was ist los?“
„Ich musste nur an meinen Vater denken, das ist alles.“
„Weil wir das Thema vorhin beim Abendessen angesprochen haben?“, fragte Gabriel. Doch ich schüttelte den Kopf.
„Nein, oder vielleicht ja. Ich weiß es nicht. Ab und zu denke ich an ihn, und werde meistens traurig.“
„Dein Vater hätte sicher nicht gewollt, dass du traurig wirst, wenn du an ihn denkst. Es gibt bestimmt viele schöne Erinnerungen, an die du dich zurückerinnern kannst, oder?“ Ich setzte mich neben Gabriel auf das Sofa.
„Ja, natürlich. Aber danach muss ich immer daran denken, dass es niemals wieder so sein wird, und er nicht mehr bei uns ist. Ich kann nicht mehr mit ihm reden, ihm nicht mehr meine Sorgen erzählen, und er kann mir nicht mehr sagen, dass alles gut werden wird“, seufzte ich laut auf.
„Du irrst dich. Du kannst sehr wohl mit ihm sprechen. Ob du es in Gedanken machst, oder laut aussprichst. Wann warst du ihn das letzte Mal am Grab besuchen?“
„Das ist schon eine Weile her“, gab ich betrübt zu. „Doch ich weiß nicht, ob das etwas ändern würde. Er würde mich sowieso nicht verstehen. Er kann mich nicht mehr hören. Er ist tot.“
„Aber er lebt dennoch weiter. In dir und in deinem Bruder. Und eines Tages wird ein kleiner Teil von ihm in deinen Kindern weiterleben. Auch wenn du ihn nicht mehr sehen kannst, er ist noch hier. In dir.“ Gabriels Handfläche berührte die Stelle, an der er meinen Herzschlag spürte. Mein Atem beschleunigte sich. Wenn er mich so anfasste, dann weckte das ganz andere Gedanken in mir.
„An das habe ich noch gar nicht gedacht“, antwortete ich ihm leise. „Aber er fehlt mir dennoch so sehr.“
„Das glaube ich dir.“ Gabriels Hand entfernte sich wieder von meinem Brustkorb, doch er schaute mir noch immer in die Augen. „Wir sollten morgen an das Grab deines Vaters fahren. Du könntest wieder einmal Zeit mit ihm verbringen. Ob du mit ihm sprichst, oder nicht, ist deine Sache.“
„Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Es ist so schrecklich, wenn man nicht weiß, an was man glauben kann. Deinen Eltern fällt es leicht, sie sind überzeugte Christen. Doch ich? Ich weiß es nicht.“ Aus mir sprach die Verzweiflung. Ich wollte an etwas glauben, an irgendetwas. Doch ich war so skeptisch allem gegenüber. Vor allem der Religion.
„Wenn du einmal dem Tod nahe warst, dann wirst du an etwas glauben. Und sei es auch nur an den Tod selbst.“ Gabriels Blick entfernte sich von meinem Gesicht und er starrte an die Tür. Ich wollte etwas sagen, doch er kam mir wieder zuvor. „Ich danke Gott, dass ich noch am Leben bin. Ich glaube an ihn. Zwar verehre ich ihn nicht so sehr, wie meine Eltern, aber ich denke, dass es ihn gibt. Und wenn es ihn tatsächlich gibt, dann passt er gut auf deinen Vater auf.“
„Danke.“ Es herrschte Stille im Raum. „Was meinst du damit, du verdankst Gott dein Leben?“
Gabriel holte tief Luft. „Verdanken wir nicht alle einem Gott das Leben?“ Ich spürte, dass er mir nicht die Wahrheit sagte, doch ich wollte ihn zu nichts drängen. Außerdem hatte er es nun sehr eilig aufzustehen, um sich ebenfalls duschen zu gehen.
Als er wieder kam, lag ich in seinem Bett und scrollte auf meinem Handy durch Instagram. Anja hatte ein neues Foto gepostet, auf dem sie und Max zu sehen waren. Anscheinend waren die beiden wieder einmal auf dem Weg zu einer Party, oder einer Bar. Jedenfalls irgendwohin wo es Alkohol und Musik gab. Denn das waren zwei Komponenten, die Anja unbedingt brauchte, um an einem Samstagabend Spaß haben zu können. Sie hatte sich auch einmal kurz bei mir erkundigt, ob alles in Ordnung war, auch wegen der Sache mit Gabriel. Dieser setzte sich nun auf das Sofa und starrte mich an.
„Was ist?“, wollte ich von ihm wissen. Ich legte mein Handy zur Seite, und grinste ihn an.
„Du bist sehr … hübsch.“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er den Lichtschalter betätigte und es sich auf der Couch gemütlich machte.
„Oh, uhm … danke.“ Nun saß ich im Dunkeln und runzelte die Stirn. Dieser Junge machte mich irgendwann wahnsinnig. Naja, wohl eher Mann. Oder doch Junge? Blieben sie nicht alle irgendwie Jungs?
„Schlaf gut, Kassy.“
„Gute Nacht, Gabriel.“
Seufzend legte ich mich auf die weiche Matratze und versuchte an nichts zu denken. Einzuschlafen war für mich immer sehr schwierig, da die Gedanken in meinem Kopf einfach nie schlafen gehen wollten. Sie meinten, sie seien Partytiger. Ich meinte aber, dass ich lieber schlafen wollte. Wer meistens gewann, konnte man sich ja denken.
Eine ganze Weile dachte ich noch über Gabriel und seine Worte nach. Sollte ich meinen Vater morgen auf dem Friedhof besuchen? Das hatte ich tatsächlich schon lange nicht mehr getan, und ein großer Teil von mir wollte sogar dorthin. Zwar hatte ich Angst, wie es sein würde, doch ich wollte meinen Vater wiedersehen. Sei es auch nur auf einem Foto am Grabstein, doch ich wollte ganz fest daran glauben, dass seine Seele noch lebte, und er sich darüber freuen würde, wenn ich sein Grab besuchen ginge. Doch die schönsten Erinnerungen von ihm, hatte ich ohnehin im Kopf. Denn das war es, was mich mein Vater immer gelehrt hatte. Auf Fotos konnte man glückliche Momente zwar festhalten, doch wirklich erinnern konnten sich nur die eigenen, lebhaften Gedanken.
》♡《°☆°》♡《
Ein lautes Jammern, ein leiser Schrei.
Ich schrak aus meinem Schlaf hoch, und musste mich zuallererst einmal orientieren. Doch als ich den Duft von Gabriel in mich einsog, wusste ich sofort, wo ich mich befand. Keine Sekunde später vernahm ich das Gejammer erneut. Jenes Gejammer, welches mich aus meinem lang ersehnten Schlaf gerissen hatte. Denn so lange schlief ich noch nicht. Ehe ich wusste, dass es Gabriel war, hatte ich einen schnellen Blick auf die Uhr geworfen. Es war gerade einmal ein Uhr in der Früh.
„Gabriel?“, wisperte ich. Doch es kam keine Reaktion seinerseits. Er jammerte stets unverständliche Wörter weiter vor sich hin.
So leise wie möglich stand ich von dem Bett auf und schlich auf Zehenspitzen zum Sofa. Dort sah ich, wie sich Gabriel unruhig bewegte und wie sehr er schwitzte. Aus seinem Mund drangen Wortfetzen, die ich nicht verstehen konnte.
„Gabriel?“, wagte ich abermals. Dieses Mal etwas lauter und fester. Doch er zeigte wieder keine Reaktion.
„Es ist alles gut. Wovon auch immer du träumst, es ist nur ein Traum“, murmelte ich, als ich mich zu ihm auf die Couch setzte. Ich strich ihm zaghaft die Haare aus dem Gesicht und beobachtete ihn. Ich wollte, dass es aufhörte. Dass er sich beruhigte und in einen ruhigen Schlaf sinken konnte. Doch bei ihm sah es so aus, als litt er unter einem Albtraum.
„Alles ist gut“, versuchte ich es erneut. Ich berührte ihn an der Schulter. Dann ging es sehr schnell.
Gabriel öffnete seine dunkelbraunen Augen, packte mich unsanft an meinem Arm, welcher ihn berührt hatte, und drückte mich auf das Sofa. Doch so schnell er mich geschnappt hatte, so schnell ließ er mich auch wieder los.
„Kassy“, keuchte er bestürzt auf. „Was machst du hier?“ Er schien außer Atem zu sein.
„Du hast schlecht geträumt.“ Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass mich sein kurzer Angriff ein bisschen aus dem Konzept gebracht hatte.
Für einen kurzen Augenblick schloss Gabriel seine Augen, und versuchte sich abzuregen. Sein Traum schien ihn furchtbar mitgenommen zu haben.
„Habe ich dich verletzt?“, wollte Gabriel sofort besorgt von mir wissen, drehte das Licht auf und betrachtete meinen Arm. Wegen des grellen Lichts musste ich kurz blinzeln.
„Nein, hast du nicht.“ Ich schüttelte den Kopf. Doch Gabriel begutachtete meinen Arm noch weiter. Tatsächlich hatte er sehr fest zugepackt, doch ich hatte ihn schließlich geweckt. Übelnehmen konnte man es ihm nicht. Doch ich erinnerte mich daran, als wir in Markus Bruder seinem Zimmer waren. Da hatte ich ihn ebenfalls zufällig geweckt, und da hatte er meinen Arm ebenso hart ergriffen.
„Du hast mich nicht verletzt, wirklich nicht“, versuchte ich es nochmals, da er noch immer sehr besorgt um meinen Arm war. Als er daraufhin noch immer nicht aufhörte, entzog ich ihm meinen Arm einfach.
„Gabriel, was ist denn los?“
Er atmete zuerst tief aus, ehe er mich anschaute. „Ich habe bloß schlecht geträumt. Es tut mir leid, dass du das mitbekommen hast.“
„Wovon handelte der Traum?“ Ich versuchte ihn zu beruhigen, wollte ihm meine Hand auf den Oberschenkel legen, doch Gabriel fing sie ab.
„Bitte nicht.“
Ich seufzte. Durfte ich ihn jetzt nicht einmal mehr berühren? Ich biss die Zähne aufeinander, schüttelte den Kopf.
„Ich weiß nicht, was du willst, Gabriel.“
„Es gibt so vieles, was du von mir nicht weißt. Vielleicht ist es besser, wenn es so bleibt.“
„Warum hast du mich dann im Auto geküsst?“, piepste ich. Ich wagte nicht, diese Frage lauter zu stellen.
„Das ist kompliziert“, flüsterte er ebenso leise.
„Ach ja, ist es das? Dann kläre mich bitte auf, was daran so kompliziert ist?“ Langsam wurde ich wütend. Auch wenn er gerade von einem Albtraum aufgewacht war, musste er mir diese Frage beantworten. Er war so seltsam in letzter Zeit, und ich wusste einfach nicht wieso.
„Das würdest du nicht verstehen.“
Ich lachte auf. „Das würde ich nicht verstehen? Du hast es ja nicht einmal versucht!“
Dass es eines Tages so schwierig sein würde, mich mit Gabriel normal unterhalten zu können, hätte ich als Kind niemals gedacht. Als wir Kinder waren schien alles so leicht, doch nun schien alles unendlich mühsam zu sein. Das Leben war wohl doch kein Zuckerschlecken, so wie wir es als Kinder immer angenommen hatten.
„Na gut.“ Gabriel stieß einen Seufzer aus. „Komm an meine andere Seite.“ Er klopfte auf den Platz neben sich, an dem ich sonst auch immer saß. Ich saß immer links von ihm, das fiel mir eben auf. Nun aber war ich rechts von ihm gewesen. Mit einem skeptischen Blick tat ich ihm den Gefallen und setzte mich an seine linke Seite.
„Ich möchte dir nur sagen, dass ich nicht mehr dieses kleine Mädchen von damals bin, und schon weitaus mehr verkraftet habe, als du dir vorstellen kannst. Mein Leben war auch nicht immer einfach.“
„Welches Leben ist schon einfach?“, fragte Gabriel in den Raum, ohne sich eine Antwort zu erhoffen.
Einige Minuten war es still, und wir saßen stumm nebeneinander. Ich wusste, Gabriel rang mit sich, mir etwas zu erzählen. Er wusste offenbar nicht, womit er anfangen sollte, doch ich konnte ihm dabei nicht helfen. Unterstützend hätte ich ihm gerne meine Hand auf den Oberschenkel gelegt, doch nun wagte ich es nicht mehr.
„Ich weiß, was ich will, als ich dich beim Spieleabend zum ersten Mal wiedergesehen habe. Ich würde dir gerne sagen, was du von mir hören möchtest, doch ich kann nicht. Ich habe einfach Angst davor, dass du eines Tages weglaufen wirst, weil du mit meiner Vergangenheit nicht zurechtkommst. Deswegen habe ich versucht, Abstand zu halten, aber wenn du bei mir bist, dann habe ich diese Selbstbeherrschung einfach nicht.“ Gabriels Blick haftete auf seinen Händen, die auf seinem Schoß lagen. Ich merkte, dass diese leicht zitterten. Solche Situationen hasste ich, denn ich wusste nie, was zu tun war. Doch ich wusste, ich wollte, dass es ihm gut ging.
Nach vielen schweigenden Sekunden legte ich meine Hand auf seine bebenden Hände, und erschrak, wie kalt diese waren.
„Gabriel, ist dir kalt?"
Doch er schüttelte den Kopf. „Meine Finger sind öfter kühler.“
„Darf ich dich etwas fragen?"
„Das würdest du doch ohnehin tun.“ Kurz zuckten seine Mundwinkel nach oben.
„Vermutlich.“ Ich biss mir auf die Unterlippe. „Was ist in der Vergangenheit passiert, dass du denkst, ich würde von dir weglaufen?“ Ich hatte es ausgesprochen. Nun gab es kein Zurück mehr.
Gabriel ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Dem Anschein nach wusste er noch immer nicht, wie er mit mir über jenes Thema sprechen sollte, welches ihn so sehr beschäftigte.
„Du weißt, dass es als Kind mein größter Traum war, ein Soldat zu werden. Das wurde ich auch. Allerdings habe ich mich für den Sanitätsdienst entschieden, und dort einige Zeit lang gedient. Bei uns Sanitätern ist das oberste Gebot, der Wille, den anderen zu helfen. Allerdings hatte ich in meinem dritten Jahr einen Unfall, und konnte deswegen nicht mehr als Sanitäter beim Bundesheer arbeiten. Nach einiger Zeit des Überlegens habe ich mich dann entschieden, zu studieren.“ Nun schaute Gabriel mich an.
„Was denn für ein Unfall?“ Meine Stimme war kaum ein Flüstern, doch mein Herz klopfte dafür umso lauter.
„Ich habe ab und zu Flashbacks, die mich zurück an diesen Tag bringen. Ich spreche nicht gern darüber, doch erinnern tue ich mich fast täglich daran. Wenn ich es nicht am Tag mache, dann erinnern mich nachts meine Träume daran.“
Gabriel zuckte mit den Schultern, und starrte wieder zu unseren Händen. Er zitterte noch immer leicht. „Der Unfall hat mein Leben verändert.“ Er atmete tief ein und aus „Ich bitte dich, sei mir nicht böse, wenn ich es dir noch nicht sagen kann. Aber du sollst wissen, dass ich versucht habe, so viele Menschen wie möglich zu retten, bis plötzlich eine weitere Mine in die Luft ging und ich …“, weiter kam er nicht. Er wandte sich von mir ab, entzog mir seine Hände und versuchte gleichmäßig zu atmen. Er grub sich seine Fingernägel tief in die Haut, um die Selbstbeherrschung zu bewahren.
Bis plötzlich eine weitere Mine in die Luft ging.
Diese Worte bescherten meinem gesamten Körper eine Gänsehaut. Die Zeit blieb stehen. Mein Puls beschleunigte sich. Selbst wenn es nur gesprochene Worte waren, es war schlimm, dies zu hören. Wie entsetzlich musste es dann für Gabriel gewesen sein, mittendrin im Geschehen zu sein. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken.
„Gabriel?“, fragte ich zaghaft und legte ihm meine Hand auf die Schulter.
„Es tut mir leid, ich habe mich gleich wieder gefasst“, meinte er hektisch. „Ich kann es nur nicht glauben, was ich dir gerade anvertraut habe.“
Ich kann es auch nicht glauben. Doch das sagte ich ihm nicht. Ich wollte gar nicht daran denken, in welcher Gefahr er sich begeben hatte, und dass er sterben hätte können. Irgendetwas Schlimmes musste er erlebt haben, doch dies wollte er mir noch nicht anvertrauen, was ich natürlich verstehen konnte. Doch was er definitiv davongetragen hatte, war ein Trauma. Das konnte ich an seiner jetzigen Art erkennen, und daran, dass er ständig unter Albträumen litt.
„Gabriel“, murmelte ich und lehnte mich an seinen, mir zugewandten Rücken. Ich küsste ihn zögerlich auf sein Schulterblatt und zwang ihn somit, mich wieder anzusehen.
„Unsere Themen sind heute etwas trüb, was?“ Er versuchte zu lächeln, doch dieses Lächeln erreichte seine Augen nicht.
„Naja, der Tod und Papas Grab waren nicht gerade der perfekte Einstieg dafür“, gab ich leicht schmunzelnd zu. Gesprächsthemen konnten eben nicht immer über Freude und Sonnenschein handeln. Nicht dann, wenn sie so wichtig waren, angesprochen zu werden.
„Ich will dich nicht verlieren“, sagte Gabriel plötzlich und schnitt ein komplett anderes Thema an.
„Wer sagt denn, dass du das wirst?“ Mit klopfendem Herzen schaute ich ihm in die Augen. Wie konnte er denken, dass ich ihn verlassen würde? Nach so vielen Jahren, wo ich ihn verloren hatte, und nun endlich wieder hatte. Ich wollte nie wieder ohne diesen Jungen sein.
„Ich habe Angst davor. Dabei würde ich so gerne keine Angst davor haben, dass du fortgehen könntest.“
„Das möchte ich auch gar nicht. Ich will bei dir sein.“ In letzter Zeit war ich mir darüber, was Gabriel wollte, und was nicht, nicht mehr so sicher gewesen. Doch plötzlich schienen meine Bedenken darüber wie verflogen.
Gabriel zog mich in seine starken Arme, und so saßen wir eine Weile da. Ich lauschte dem unregelmäßigen Herzschlag von Gabriel, und sog seinen Duft ein. Er roch herrlich nach ihm selbst, und dass er vorhin so sehr geschwitzt hatte, machte mir nichts aus.
Der kleine Funken Glück, der vor wenigen Tagen da war, als Gabriel mich geküsst hatte, wurde nun wieder größer. Es war noch kein Leuchten, doch ich konnte diesen Funken spüren. Er breitete sich in meinem Körper aus, bis ich gar nicht anders konnte, als zu Lächeln. Ich war geschockt von dem was mir Gabriel erzählt hatte, doch ich war ebenso glücklich, weil er es getan hatte. Es schien mir nicht so, als hätte er schon mit vielen Menschen über dieses Thema gesprochen und außerdem schien er von sich selbst überrascht, dass er es mir überhaupt erzählt hatte.
Das Leben … es war kompliziert und anstrengend. Man erlebte Enttäuschungen und Angst. Beim Leben ging es darum, am Leben zu bleiben, selbst, wenn der Verstand verrücktspielte. Man erlebte Dinge, die man einst für unmöglich gehalten hatte. Es lag an einem selbst, wie man damit umging. Ob man daran zugrunde ging, oder ob man versuchte, weiterzumachen. Ich selbst erlebte dies, als mein Vater starb, und meine Mutter weder für meinen Bruder noch für mich so da sein konnte, wie wir es uns erhofft hatten. Sie war in ihrer Trauer ertrunken und selbst heute, nach etlichen Jahren, war sie nicht mehr wirklich aufgetaucht.
Das Leben war ein Kampf. In der Dunkelheit. Im Licht – In der Vergangenheit. In der Gegenwart. In der Zukunft. Egal wo man war, man musste immer weiterkämpfen. Das Leben konnte sich von einem Augenblick zum nächsten um hundertachtzig Grad drehen, und plötzlich war nichts mehr so wie es einmal war. Alle Pläne, die man hatte, alle Sorgen, die man vernichten wollte, und alle Träume, die man verwirklichen wollte, verpufften in der Luft.
Wir Menschen strebten nach der Freiheit, nach einem Leben, in dem wir alles sein konnten. Gesund. Glücklich. Frei. Doch wenn wir dies waren, dann stattete uns das Leben wieder einmal einen Besuch ab, und zeigte uns die Realität. Niemand konnte stets gesund sein. Niemand konnte stets glücklich sein. Und niemand konnte stets frei sein. Es gab immer Momente im Leben, die uns Sorgen bereiteten.
Gabriel hatte einiges zu verarbeiten, einiges wovor er Angst hatte. Ich konnte es spüren, und ich konnte es sehen. Ich wusste, wie unbeschwert und frech er damals als kleiner Junge war. Ebenso kannte ich jenen Gabriel, welcher mich küsste, ohne Rücksicht auf Verluste. Er war gut in dem, was er tat, und er war sich selbst sicher. Doch ich kannte nun auch den Gabriel, welcher Angst hatte, und unter Albträumen litt. Welcher ein Trauma von einem Geschehnis hatte, und welcher offensichtlich noch nicht oft darüber gesprochen hatte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top