1 | Träumereien
Vor 15 Jahren, an einem sonnigen Sommertag
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„Gabriel!“
Ich lief meinem besten Freund kreischend und sogleich lachend im Garten hinterher. Wieder einmal hatte er sich Helena geschnappt. Helena war mein Stofftierdelfin. Es lag mir wirklich viel an ihm, da ich ihn vor fünf Tagen von meiner Oma zum sechsten Geburtstag bekommen hatte.
„Gabriel, bleib stehen!“, versuchte ich es erneut. Doch der zehnjährige Junge lief vergnügt weiter. Seine langen Beine machten es ihm ein Leichtes, mir mühelos zu entkommen.
„Das ist unfair!“ Trotzig blieb ich irgendwann mitten im Garten stehen und funkelte ihn von Weitem böse an. Der Schweiß stand mir auf der Stirn, und ich war schon ziemlich außer Puste geraten.
Gabriel war ebenso zum Stehen gekommen, doch auf seinen Lippen lag noch immer dieses schelmische Grinsen, welches ich meistens gerne mochte, weil es bedeutete, dass er irgendetwas ausheckte. Und ich war dann meist mit von der Partie.
„Wenn du Helena unbedingt haben willst, musst du kommen und sie dir holen!“ Gabriel wedelte mit meiner Helena herum, was mich sauer werden ließ.
„Aber du bist größer als ich. So komme ich niemals an sie ran, wenn du so groß bist.“ Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und schmollte weiter vor mich hin.
Grinsend ging Gabriel auf die Knie und fragte herausfordernd: „Wie sieht es jetzt aus?“ Diese Chance ergriff ich natürlich sofort und stürmte ihm lachend entgegen. Kaum hatte ich ihn erreicht, schmiss ich mich auf ihn und forderte Helena zurück.
„Ich will Helena haben. Ich habe dich erwischt.“
Nachdem ich Helena erfolgreich zurückerobert hatte, legten wir uns ins Gras und beobachteten den Himmel. Es war ein nahezu wolkenloser Sommertag im schönen Burgenland in Österreich. Eine Biene summte an uns vorbei, ließ sich neben mir auf einem Löwenzahn nieder, während wir die wenigen Wolken zählten.
„Irgendwann haben wir ein Schloss“, meinte Gabriel, der meine Träume nur zu gut kannte. Meistens wenn wir zusammen waren, überlegten wir, was wir alles einmal gemeinsam besitzen würden.
„Im Schloss müssen aber auch Pferde sein“, träumte ich vor mich hin. "Oh, und Ponys!"
„So viele wie du willst. Aber nur, wenn Chilly auch einziehen darf.“
„Chilly muss sogar mit! Die gehört doch zu dir“, lachte ich. Chilly war Gabriels Katze, also natürlich zog sie mit ins Schloss. „Und außerdem brauchen wir ja jemanden, der auf das Schloss aufpasst, wenn wir nicht zuhause sind.“
In unseren Träumereien versunken, hörten wir im Haus plötzlich jemanden grell aufschreien. Ich zuckte aufgrund der Lautstärke zusammen. Dann zerbrach ein Glas, und die aufgeregten Stimmen von unseren Müttern schallten zu uns in den Garten. Sie klangen, als würden sie heftig miteinander streiten. Was aber unmöglich war, denn das taten sie nie!
Ich schaute Gabriel erschrocken an, und er schaute mich an. Aus seinem Gesichtsausdruck konnte ich nicht lesen, was er dachte, zu sehr war ich mit meinen eigenen verängstigten Gefühlen beschäftigt. Was hatte das zu bedeuten?
„Kassy, du bleibst hier. Ich schaue mal, was da los ist.“ Gabriel wirkte auf einmal sehr ernst, als er mich im Garten allein zurückließ. Ich verstand nicht ganz, warum er mich hier im Gras liegend alleine lassen wollte, deswegen stand ich auf, ließ Helena achtlos im Gras zurück, und marschierte ebenfalls in Richtung Haus.
„Kassy, du solltest doch nicht herkommen“, flüsterte Gabriel, als ich mich neben ihn stellte. Wir standen neben der offenen Terrassentür, versteckt hinter der rauen Hausmauer, und lauschten.
„Es geht doch nur um ein Stück Schokolade!“, hörte ich Gabriels Mutter gereizt zischen.
„Aber diese Schokolade war sündhaft teuer und mein Sohn hat lange darauf hingespart! Wenn er nicht teilen möchte, dann muss er das auch nicht!“, schrie ihr meine Mutter entgegen. Ich fand es erschreckend, dass meine Mutter so laut werden konnte, und mit ihrer besten Freundin um ein Stück Schokolade stritt. Zumindest hatte ich immer gedacht, dass unsere Mütter beste Freundinnen waren. Meine Augen füllten sich augenblicklich mit Tränen, weil einfach wollte, dass sie sich wieder gerne hatten.
„Wie oft habe ich deinen Kindern schon zu essen gegeben, ohne einen Streit anzufangen? Und ich habe weitaus weniger Geld als du!“
„Oh, kommt wieder die alte Leier, von wegen du bist so arm? Du hast kein Geld? Weißt du was, dann such dir doch einen gutbezahlten Job!“
Ängstlich zupfte ich an Gabriels T-Shirt. Er schaute mich an und versuchte mich durch sein unehrliches Lächeln zu beruhigen.
„Es wird bestimmt alles gut werden, Kassy. Unsere Mamas werden das sicher regeln.“ Sein guter Zuspruch bändigte meine Angst ein wenig.
„Du weißt, wie hart ich arbeite, um meinen Kindern ein schönes Leben zu bieten! Also wirf mir nicht vor, ich bräuchte einen besseren Job! Im Gegensatz zu dir, habe ich einen Vollzeitjob. Ach, wie schön wäre es doch, wenn ich auch nur zehn Stunden die Woche arbeiten müsste!“, fauchte Gabriels Mutter.
„Ich möchte mich eben um meine Kinder kümmern können.“
„Und du denkst, ich würde das nicht auch gerne können?“ Gabriels Mutter war offensichtlich verletzt.
„Dann soll sich dein Ehemann doch einen besseren Job suchen! Das ist nun wirklich nicht mein Problem!“
„Stefan gibt sein Bestes! Lass' meinen Mann aus dem Spiel!“, meinte Gabriels Mutter zornig.
„Weißt du was? Ich glaube, dass du dich nachts nach einem Mann wie meinem sehnst. Jemanden, der so viel Zeit für die Familie hat, einem großartigen Job nachgeht, der …“ Weiter ließ sie Gabriels Mutter nicht reden.
„Spinnst du jetzt komplett?“ Ihr entfuhr ein wütender Schrei und ich zuckte zusammen. Gabriel neben mir ging es gleich. „Du hast sie wohl nicht mehr alle. Ich werde jetzt von hier verschwinden. Nie wieder will ich dich sehen. Nie wieder! Hörst du! Nie wieder! Und regle das mit deinen Kindern! Verdammt, dass ich dir diesen Ratschlag überhaupt noch gebe! Aber wenn du es nicht tust, wirst du es irgendwann bitter bereuen!“ Jetzt war sie schon so laut, dass selbst die Nachbarn genau hören müssten, was in unserem Haus vor sich ging.
„Gabriel?“, nun war ich mehr als nur verängstigt, denn seine Mutter sprach nie Schimpfworte aus.
„Ich geh zu ihnen“, meinte er nur flüsternd. Er sah mich lange an, bevor er ins Haus ging, und ich schaute ihn ebenfalls lange an. Es kam mir fast wie ein Abschied vor, doch wie hätte ich wissen können, dass es auch tatsächlich einer war? Heiße Tränen liefen über meine Wangen, als Gabriel bei unseren Müttern ankam.
„Gabriel, Schatz. Komm, such deine Geschwister und dann ab ins Auto.“
„Aber Mama, ihr solltet euch wieder vertragen.“
„Gabriel, ins Auto!“, seine Mutter wurde drängender, und ihr Tonfall ließ absolut keine Widerrede zu.
„Gabriel“, heulend stand ich nun auch im Wohnzimmer und blickte in sein trauriges Gesicht.
„Kassy, wir werden uns sicher bald wiedersehen.“
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Es waren ein paar Tage seit dem großen Streit vergangen und immer wieder versuchte ich meine Mama davon zu überzeugen, dass Gabriel zu mir zum Spielen kommen sollte. Doch jedes Mal aufs Neue, wurde meine Bitte abgeschlagen.
Ich konnte mich noch an den Tag des Streites erinnern. Als Gabriel mit seiner Familie verschwunden war, lief ich zu meiner Mama und hatte in ihre Kleidung geweint. Sie hatte mir über den Rücken gestrichen und geflüstert, dass alles wieder gut werden würde. Gut werden? Ohne Gabriel? Das konnte ich mir nicht vorstellen.
Meine Mama hatte mir befohlen, meine Spielsachen vom Garten zu holen und sie wegzuräumen. Als ich dies getan hatte, hatte sie so getan, als wäre nichts passiert. Ihre eigene Wut hatte sie gebändigt und mit einem Lächeln im Gesicht hatte sie uns ein Abendessen gezaubert, das wir gemeinsam gegessen hatten, als mein Papa von der Arbeit nach Hause gekommen war. Beim Abendmahl hatte sie kein einziges Wort gesprochen, und weil ich ein artiges Mädchen war, war auch ich leise geblieben. Nur mein Bruder und mein Papa hatten sich über Traktoren und Mähdrescher unterhalten, als sei überhaupt nichts Schlimmes vorgefallen. Aber seit diesem Tag plagte mich nicht nur die Langeweile, sondern auch nachts schlief ich sehr schlecht.
„Mama, mir ist langweilig“, kam ich zwei Wochen später zu ihr ins Wohnzimmer.
„Dann spiel' mit deinem Bruder“, meinte diese nur, ohne von ihrer Zeitschrift aufzuschauen, in der es um Mode und dem neusten Klatsch aus der High Society ging. Sie hatte es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht. Im Hintergrund ließ sie den Fernseher laufen.
„Aber Helenos ist blöd!“, schmollte ich. Helenos war mein Zwillingsbruder, und nur um ein paar Minuten jünger als ich. In Wirklichkeit war er alles andere als blöd, aber wie das unter Geschwistern nun einmal war, liebte man sich über alles, obwohl man oft miteinander stritt.
„Dann suche dir eben einen anderen Freund. In deiner Klasse gibt es bestimmt Mädchen, die mit dir befreundet sein möchten. Oder du gehst zu Siena.“ Siena war ein Mädchen aus unserer Nachbarschaft, die auch öfter mit ihrer kleinen Schwester mit uns im Garten spielte.
„Aber die sind auch blöd! Ich will, dass Gabriel zu uns kommt!“ Tränen verabschiedeten sich von meinen hellblauen Augen, doch meiner Mutter schien das egal zu sein. Sie ignorierte mich regelrecht. So kannte ich sie gar nicht, und das machte mir Angst.
Ich stellte mich vor meine Mama und schaute sie so lange an, bis sie mit einem Seufzer die Zeitschrift zur Seite legte und ich mich neben sie setzte. Sie konnte sehen, dass ich weinte, doch sie versuchte mich erst gar nicht zu trösten, oder mir die Tränen fortzuwischen.
„Manchmal ist es besser, jemanden nicht mehr zu treffen. Ich weiß, was gut für dich ist, Kassy. Glaub mir, ich möchte nur das Beste für dich und deinen Bruder, schließlich bin ich eure Mama.“
„Aber ...“, versuchte ich es erneut. Ich heulte vor ihren Augen. All das konnte ich nicht verstehen, und all das wollte ich auch nicht verstehen. Warum hatte man mir meinen besten Freund genommen?
Meine Mutter kniff die Augen zusammen, und legte nun doch ihre Arme um mich. Sie strich mir über den Kopf und wir schauten an die Wand gegenüber von uns, wo der laufende Fernseher auf einer Kommode stand.
„Manchmal ändert sich etwas im Leben. Du lernst neue Menschen kennen, und irgendwann wirst du merken, dass du Gabriel nicht brauchst.“
Diese Worte ließen nur noch mehr Tränen über meine Wangen fließen. Ich wollte Gabriel aber brauchen. Er war mein bester Freund. All das wollte ich meiner Mama sagen, doch ich brachte kein Wort heraus. Ich schluchzte nur weiter vor mich hin, während sie mir über den Kopf strich.
„Kassy, willst du mit nach oben kommen?“ Helenos stand plötzlich neben uns und nahm mich an der Hand. Meine Augen wanderten zu meiner Mama, welche mir zunickte, dass ich mit meinem Bruder mitgehen sollte. Ich stand also vom Sofa auf und ließ mich von meinem Bruder die Treppen hinauf in das erste Stockwerk führen, wo wir in sein Kinderzimmer gingen. Dort konnte ich heulen, während mich mein Bruder tröstete.
„Wir schaffen das“, meinte Helenos. „Vielleicht ändert Mama ja noch ihre Meinung. Wir werden sie einfach solange fragen, ob Gabriel wieder kommen darf, bis sie Ja sagt."
Für diese Worte war ich meinem Bruder sehr dankbar, denn sie munterten mich ein Stück auf.
"Danke, ich hab' dich lieb."
"Ich dich auch."
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