Samstag 13.11.1999

Idriss wachte auf, weil das Licht flackerte. Im dunklen Flur flimmerte es aus der geöffneten Badezimmertür: An, aus, an, aus. Er stand auf und tappte hinüber, rieb sich die Augen. Das Linoleum war kalt unter seinen nackten Füßen.

Said hockte auf der Schwelle zum Bad und machte Licht an, Licht aus. Drinnen war der Klodeckel oben, es roch nach Erbrochenem. Idriss nahm seine Hand vom Schalter, und da guckte er hoch. Er zitterte, Schweiß tropfte ihm vom Kinn.

„Hilf mir", sagte er in Gebärdensprache. Idriss' Mund wurde trocken.

„Ich rufe Ihssane an", antwortete er mift bebenden Händen. „Bist du gefallen?"

„Nein, lass, hilf mir aufstehen."

Idriss schob die Schulter unter seine Achsel, langsam arbeiteten sie sich in den Stand. Sein Vater war groß und mager und schwer. Als er endlich stand, schwankte er. Saids Gewicht auf seiner Schulter knickte Idriss beinahe um.

„Schwindlig", sagte sein Vater mit einer Hand. „Langsam."

Schritt für Schritt gingen sie nach links den Flur hinab in Saids Schlafzimmer. Mit der einen Hand stützte sein Vater sich an der Wand ab, mit der anderen auf ihm. Das schlimme rechte Bein zog er nach. Sein schmerzverzerrtes dunkles Gesicht. Idriss' Herz hämmerte vor Angst, denn wenn Said umfiel, konnte er ihn nicht festhalten.

Endlich schafften sie es zum Bett. Said setzte sich, als ob er tausend Jahre alt wäre, wischte sich das Gesicht ab und schaltete die Nachttischlampe an.

„Gut gemacht", sagte er, „danke."

„Bist du gefallen, Baba?"

„Nein, mir war nur schwindlig."

„Aber was-?"

„Es sind diese Tabletten. Nichts Schlimmes."

Aber Saids Hände bewegten sich anders als sonst. Unruhiger, Unsicherer. Umständlich legte er sich hin und sagte: „Geh schlafen, Idriss."

„Kann ich bei dir schlafen?"

„Nein."

„Bitte?"

„Nein", sagte sein Vater gereizt, „ich hab Schmerzen. Geh in dein eigenes Bett."

„Na gut ..."

Er schlurfte zurück ins Bad, zog die Toilette ab, schaltete das Licht aus und verkroch sich in sein Zimmer. Ihm war nach Heulen zumute. Alles war ganz dunkel. Er wollte nicht allein schlafen. Idriss zog sich die Decke über den Kopf und igelte sich ein.


Der nächste Tag war ein Samstag. Idriss verbrachte den Vormittag über seinen Hausaufgaben, mittags machte Said Tiefkühlpizza. Er aß lustlos, während sein Vater ihm eine Einkaufsliste schrieb. Das Radio dudelte in der Ecke, gerade liefen die Nachrichten. Es war dreizehn Uhr, in der Innenstadt Stau und irgendwer irgendwo überfahren worden.

„Du kennst den Weg, nicht?"

„Ja, Baba."

Said sah heute besser aus, und er konnte allein laufen. Idriss betrachtete ihn, während er das Geschirr spülte und ins Schlafzimmer humpelte, um die Geldbörse und das Drehzeug zu holen. Sein Vater, der sonst so weit ausschritt, dass er kaum mithalten konnte, bewegte sich wie ein Opa. Und immer ging es ihm schlecht wegen den Medikamenten. Und arbeiten ging er auch nicht mehr, seit er krank geworden war. Das war schon seit dem Sommer so, und jetzt lag morgens Raureif auf den Fensterbänken.

Said setzte sich zähneknirschend und zählte ihm das Geld hin: Fünfzehn Mark. Langsam. Als ob er jede Münze zweimal umdrehte.

„Du gehst nirgendwo anders hin. Und du kommst direkt wieder zurück. Was noch?"

„Ich red nicht mit Fremden. Ich geh nicht mit Fremden mit."

„Gut."

Zu Beginn der Sommerferien, als Said aus dem Krankenhaus entlassen worden war, waren noch Leute gekommen, hatten Essen mitgebracht und ihnen ausgeholfen. Seine Arbeitskollegen und manchmal deren Frauen, Männer und Frauen aus der Moschee. Aber das hatte schon lang aufgehört. Inzwischen kamen nur noch Ihssane oder Bouchra, und die konnten nicht jeden Tag.

Said drehte sich eine Zigarette und öffnete das Fenster, rauchte hinaus. Kalte Luft kam herein. Idriss saß da und drehte die Gedanken in seinem Kopf um.

„Baba", sagte er zaghaft.

„Was ist?"

„Was machen wir, wenn wir kein Geld mehr haben?"

„Ich-"

„Was mach ich, wenn du stirbst?"

„Was, sterben? Kein Mensch stirbt an Bandscheibe. Wie kommst du darauf?"

„Ilir musste doch auch ins Krankenhaus und dann ist er gestorben ..."

„Der Junge hatte Leukämie. Das ist eine böse Krankheit, eine tödliche Krankheit. Meine ist bloß lästig."

„Aber bist du sicher? Wann bist du denn wieder gesund?"

„Idriss, nicht jetzt", erwiderte Said und drückte seine Zigarette aus, „später, wenn du zurück bist. Geh einkaufen, bevor der Supermarkt zumacht."

„Na gut", sagte Idriss und senkte den Kopf, zählte sich das Geld vom Tisch in die hohle Hand. Schwere Münzen.

Er nahm die Liste und las: Milch, Brot, grüner Tee, Tiefkühlpizza, Birnen ...

Saids enge, kantige Druckschrift. Sein Vater schrieb Deutsch wie mit dem Lineal.


Draußen war es kühl, obwohl die Sonne schien, aber mit dem Pulli fror er gar nicht. Einkaufen war einfach gewesen, es hatte ihn auch kein Fremder angesprochen oder so. Bloß die Tüte war schwer. Das Rückgeld klimperte in Idriss' Hosentasche, als er sich auf den Heimweg machte.

Die Plattenbauten ragten himmelhoch auf und warfen lange Schatten. Er ging zügig quer über den Hof und war schon am Kiosk vorbei, als Liridon ihn rief.

„Ey! Driss!", brüllte er vom Klettergerüst runter. Neben ihm hing Kevin an den Sprossen. Idriss kam zögerlich näher, die Tüte schlug gegen sein Bein.

„Was macht'n ihr?"

Kevin sprang vom Gerüst in den Sand und fuchtelte mit dem Plastikschwert herum, das er in der rechten Hand hielt. Er trug bloß ein Shirt, seine Nase lief und seine Wangen und Finger waren knallrosa.

„Kämpfen und so!", sagte er. „Ey, kumma, wetten du traust dich nicht da rauf? Weil wer da oben bleibt und verteidigen kann, gewinnt!"

„Driss, willste mitmachen?", fragte Liridon von ganz oben.

„Ich kann nicht, ich muss nach Hause, Baba hat gesagt-"

„Du traust dich nicht, du Mädchen!" Er lachte und ahmte ein Hühnchen nach. „Bok-bok-bok!"

„Tu ich wohl!", rief Idriss zurück.

„Driss is' ein Mädchen!"

„Bin ich nicht!"

„Dann komm doch rauf und schmeiß mich runter!", krähte Liridon.

„Ja, mach ich auch!"

Er schmiss die Tüte in den Sand und schwang sich aufs Gerüst.

Sie waren lange draußen und irgendwann kam Liridons große Schwester, um ihn abzuholen. Idriss fror, und es dämmerte. Die Laternen an der großen Straße waren schon an.

„Agneta, noch nicht, noch fünf Minuten!", bettelte Liridon. Sie wand ihm Kevins Schwert aus der Hand und erwiderte: „Mach keine Zicken, Liri, ich muss noch arbeiten heute. Komm jetzt!"

„Hast du Nachtschicht?"

„Ja. Komm endlich rein, Nënë kocht schon. Hast du alles?"

„Boah, du nervst! Ja-a! Ey, wollt ihr mitessen?"

„Liridon, du kannst nicht dauernd-"

„Wie spät ist es?", fragte Idriss.

„Fünf", antwortete Agneta. Ihm wurde heiß und kalt. Er verabschiedete sich nicht einmal, schnappte sich nur die Tüte und rannte davon. Weg vom Spielplatz, quer über den Hof, dann durch die Unterführung, über die Straße, und dann war er da.

Idriss' stand mit pochendem Herzen vor der Eingangstür. Da war ihr Klingelschild, Alaoui. Sein Finger schwebte über der Klingel, aber er traute sich nicht. Er würde so Ärger kriegen, weil er so spät dran war und alles. Ob er zu Liridon zurückgehen sollte? Da konnte er mitessen, und Liridons Eltern würden ihn bestimmt übernachten lassen. Aber er musste seinem Vater ja die Einkäufe bringen, denn die brauchte er fürs Abendessen und den Sonntag und den Montag.

Idriss stöhnte, fluchte, und klingelte. Der Türsummer brummte. Er ging rein.


Oben war die Wohnungstür offen und von seinem Vater nichts zu sehen. Er zog sich die Schuhe aus, dann stand er im Flur und wagte sich weder vor noch zurück.

„Idriss! Komm her!", rief Said aus der Küche, und Idriss kam.

Er stand am Herd und kochte Reis. Neben ihm auf der Arbeitsplatte das Schneidebrett mit dem großen Messer, Zwiebelschalen, gehackte Zwiebeln in einem Schälchen. Als Idriss eintrat, wandte er sich um.

„Baba, tut mir leid, ich-"

„Was habe ich dir gesagt?"

„Es tut mir leid, ich hab's vergessen, echt, weil da-!"

„Will ich nicht hören. Was habe ich dir gesagt?", wiederholte er.

„Dass ich ... dass ich direkt nach Hause kommen muss."

„Und was hast du getan?"

„Ich bin nicht direkt nach Hause gekommen", antwortete Idriss verwaschen und zog den Kopf ein.

„Weshalb?", fragte Said. „Und lüg mich nicht an."

„Weil ich unterwegs meine Freunde getroffen hab, und dann, und dann hab ich die Zeit vergessen und dann war schon fünf."

„Bist du vielleicht ein Baby? Ich sage dir, erledige das, und du brauchst den ganzen Tag? Gib mir die Sachen."

Idriss murmelte etwas, aber wollte eigentlich nicht antworten. Seine Wangen brannten vor Scham. Er reichte die Tüte Said, der einen Blick hineinwarf und dann den Pizzakarton herausholte.

„Da. Nimm das. Guck es dir an."

Idriss nahm den Karton, der matschig und kaputt war, weil die Pizza aufgetaut war.

„Das kostet Geld. Weißt du das nicht?"

„Es tut mir leid."

„Du bist bald zehn. Als ich so alt war, hab ich gearbeitet", sagte Said. „Und du kannst nicht allein einkaufen?"

„ ... doch, Baba."

„Wirf das weg."

Idriss gehorchte. Er fühlte sich wirklich schlecht, denn die Pizza war teuer gewesen. Und jetzt war sie im Müll.

„Gib mir das Rückgeld und den Bon", sagte Said.

Er schob die Hand in die Hosentasche, aber da war nichts, kein Bon, keine Münzen, nicht einmal Flusen.

„Ich hab ... das Geld ... das Geld ist nicht da."

„Wo ist das Geld dann?"

„Weiß nich", nuschelte er. „Hab ich ... hab ich glaub ich verloren. Aufm Spielplatz."

Said ohrfeigte ihn. Idriss stand eine Weile dumm in der Küche, dann sagte er leise: „Es tut mir leid, Baba. Ich hab's nicht absichtlich getan."

„Absicht, nicht Absicht, das interessiert mich nicht! Muss ich für jeden Mist meinen Bruder anrufen? Kann ich mich nicht mal bei Kleinigkeiten auf dich verlassen?"

„ ... doch."

„Und Wäsche abhängen? Falten? Kriegst du das vielleicht hin?"

„Ja, Baba."

„Dann mach, geh mir aus den Augen", sagte sein Vater.


Idriss schlüpfte in seine Hausschuhe und stieg die Treppe hinab in den Wäschekeller. Er hängte die Sachen ab und faltete sie und weinte ein bisschen, weil Said ihn hier nicht sehen konnte. Als er mit dem unhandlichen, schweren Korb die Treppe wieder hinauf stolperte, war das Abendessen fertig.

Reis, aufgewärmte Kichererbsen aus der Dose, starker grüner Tee. Sie saßen sich am Küchentisch gegenüber, Idriss wich Saids Blick aus.

„Bismillah", sagte der.

„Bi ... bismillah."

Er löffelte schweigend. Es schmeckte eklig. Liridons Mutter konnte viel besser kochen.

„Baba, ich kann ... ich kann nochmal auf den Spielplatz und das Geld suchen."

„Meinst du? Guck mal raus."

Idriss blickte aus dem Fenster. Draußen war es inzwischen stockfinster.

„Jetzt ist es zu dunkel", sagte Said, „und morgen früh wird das Geld weg sein."

„Ich ... ich kann's dir wiedergeben. Aus meiner Spardose."

„Es geht nicht um das Geld. Es geht um das Prinzip", erwiderte Said. „Dass du trödelst und deinen Kram verlierst. Dass du nicht tust, was man dir sagt. Verstehst du mich?"

„Ja ..."

Am liebsten wollte Idriss einfach rausgehen und zu Liridon nach Hause. Früher war sein Vater netter gewesen, aber seit er aus dem Krankenhaus zurück war, hatte er dauernd Schmerzen und war richtig gemein. Liridons Eltern waren nie so. Liridons Eltern waren immer lieb.

„Ich spüle. Geh ins Bad, nimm den Stuhl mit, ich mach gleich deine Haare."

„Ist gut."


Idriss saß schon im Bad, als Said zu ihm kam. Er öffnete den Spiegelschrank, holte das Gel und den feinen Kamm und die Bürste heraus. Idriss blickte in den Spiegel: Sein Vater stand hinter ihm und sah nachdenklich auf ihn herunter. Sein Gesicht begann bereits, Saids zu gleichen. Bis auf den Bart. Idriss befühlte den Flaum auf seiner Oberlippe.

„Kriegst du schon?", fragte Said. „Dann zeig ich dir bald, wie du dich rasierst."

„Ja."

„Was willst du haben? Eigentlich könnte ich dir die Haare schneiden ..."

„Kann ich das bitte lang lassen? Ich möchte Zöpfe."

„Hm. Wenn es dich freut."

Said teilte sein Haar mit dem Kamm in Büschel, und dann rieb er das Gel hinein, vom Skalp zu den Spitzen. Sofort roch es nach Sheabutter. Idriss schloss die Augen. Das war angenehm. Sein Haar wurde feucht und schwer, Said bürstete und flocht es. Das ziepte nicht, zog bloß ein bisschen.

„Wusstest du?", fragte er. „Auch der Prophet trug Zöpfe."

Es war schön, wenn sein Vater ihm die Haare machte, weil er mit ihm redete und Geduld hatte und nicht schimpfte. Und weil es dauerte. Viel Zeit zusammen.

„Bist du mir noch böse?", fragte Idriss.

„Nein. Aber das da, das machst du nie wieder."

„Ich verspreche."

Idriss hätte gern gefragt, ob Said ihn noch lieb hatte, aber er traute sich nicht.

„Zeit zu reden", sagte sein Vater. „Du siehst, mein Bein wird nicht besser. Und dass das schon lang so geht, und ich hab Schmerzen. Die Ärzte sagen, das ist ein Schaden. Ich kann nicht zurück in die Zeche. Es wird jetzt anders bei uns."

„Was heißt, anders?", fragte Idriss.

„Ich muss einen neuen Beruf lernen. Dafür brauche ich einen Schulabschluss."

„Aber du hast doch einen?"

„Nein", erwiderte Said, „habe ich nicht. Ich war erst zehn. Ich war nicht fertig."

„Aber was hast du gemacht, wenn du nicht in der Schule warst?"

„Arbeit. Weiterlernen, wofür? Damit verdient man kein Geld, dafür muss man bezahlen. Bezahlen hat sich nur bei Ihssane gelohnt."

Idriss runzelte die Stirn. Ihssane hatte studiert und machte irgendetwas mit Computern, aber klüger als sein Vater kam der ihm eigentlich nicht vor.

„Ich muss jetzt viel tun. Papierkram. Versicherung, Anträge, dann Abschluss, Ausbildung. Das wird dauern. Und so lange das dauert, verdiene ich weniger. Viel weniger. Verstehst du?"

Idriss nickte und überlegte eine Weile, dann sagte er: „Ich kann aufhören mit Fußball. Wegen Geld, mein ich."

Er sah in den Spiegel: Sein Vater lächelte flüchtig und wurde sofort wieder ernst.

„Nein, ich will, dass du hingehst. Ich kann aber nicht mehr zu jedem Spiel kommen."

„Okay."

„Aber Urlaub und ein neues Fahrrad und einfach so in den Zoo, das geht nicht mehr. Und du musst erwachsen werden. Richtig erwachsen. Kein Geldverlieren und Rumspielen mehr. Du musst mithelfen jetzt."

„Okay."

„Wir verlieren die Wohnung nicht, wir verhungern nicht. Ich muss nicht sterben. Es wird bloß anders. Verstehst du?"

„Ja, Baba."

„Hab keine Angst, Idriss", sagte Said und fuhr fort, ihm Zöpfe zu flechten. Vorsichtig, geduldig, es ziepte nicht einmal. „Alles wird gut."



Das Kapitel wurde von @Pfaffenhut geschrieben

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