Samstag 11.12.2004
Shouta liebte Vítor. Er liebte sein Lächeln und die kleine Lücke zwischen Eck- und Schneidezahn die auch die Zahnspange nicht schließen konnte. Er liebte seine schlechten Witze und wie viel Ruhe er ausstrahlen konnte. Er liebte Vítors dunkle Haut, und dass er immer ein wenig nach Kokos roch.
Sie lagen auf Vítors Bett, der Schneeregen klatschte gegen das Fenster. Shouta döste, während Vítor ihm über den Rücken streichelte. Wenn es nach Shouta ginge, könnten sie für immer hier bleiben. Von Vítor berührt werden war gut. Er tat ihm niemals weh, er war immer nur lieb. Manchmal überforderte das Shouta.
„Wir müssen los", sagte Vítor, während er ihm durchs Haar strich.
Shouta grummelte und drückte das Gesicht an seine Brust. Er wollte alles, aber nicht aufstehen. Nichts konnte besser sein, als mit Vítor hier zu liegen.
„Die Videothek macht heute früher zu."
Das war ein gutes Argument. Shouta seufzte schwer und drehte sich auf den Rücken.
„Bin gleich soweit."
Vítor küsste ihn auf die Wange, bevor er sich vom Bett rollte und sich eine Loc aus dem Gesicht strich. Shouta musste lächeln. Vítor sah so toll aus, wenn er das machte.
Er streckte die Hand aus, ließ sich von ihm aus dem Bett ziehen und stellte sich auf die Zehenspitzen, um Vítor auf die Lippen küssen zu können. Diesen Sommer war er richtig in die Höhe geschossen und nun beinahe einen Kopf größer als Shouta.
„Kann ich eine Jacke von dir haben, Vítor?"
„Klar."
Draußen war es nasskalt und widerlich. Shouta vergrub eine Hand in der Jackentasche, mit der anderen griff er nach Vítors. Sie verschränkten die Finger ineinander und Shouta warf einen kurzen Blick zurück auf den Plattenbau. Andrejs Balkon war leer und die Fenster dunkel. Hoffentlich blieb er wenigstens dieses eine Wochenende weg.
Zur Videothek mussten sie nur die Straße hinunter und durch die Unterführung, die immer nach Pisse stank. Graffiti an der Wand. Einige von ihnen. Im Sommer hatten sie alle für Sprühdosen zusammengelegt und sich daran versucht, mehr als nur Tags an die Wände zu bringen. Das meiste war echt hässlich geworden, aber sie hatten sich darauf geeinigt, dass Liridon und er es noch am besten gemacht hatten.
Angeblich wurden hier unten dauernd Leute ausgeraubt. Shouta fragte sich, wer so saudumm war, ausgerechnet in der Pisse-Unterführung vor der Platte Leute zu überfallen. Viel konnte dabei nicht herumkommen, in anderen Gegenden würde sich das mehr lohnen. Außerdem sah er - abgesehen von den Obdachlosen, und die waren harmlos - nie jemanden in der Unterführung. Wenn es hier Stress gab, dann nur zwischen Leuten, die sich kannten.
„Wann kommt Bruna zurück?", fragte er Vítor.
„Sie will versuchen, Montag wieder da zu sein, aber kommt drauf an, wie es Bisavó geht." Vítor zuckte die Schultern. „Und Mamãe muss ja alles übersetzen und so."
„Mehr Zeit für uns", sagte Shouta.
„Das stimmt."
Vítor lächelte schwach und drückte Shoutas Hand.
„Das wird schon alles."
„Ja, du hast Recht." Doch vollkommen überzeugt klang Vítor nicht.
Seiner Urgroßmutter ging es schon schlecht, seit sie vor einigen Jahren nach Deutschland gekommen war, und es wurde immer schlimmer. Sie hatte Parkinson oder so.
Shouta beschloss, nicht weiter nachzubohren. Er wusste sowieso nicht, was er noch sagen sollte. Für Vítor war es schwer, darüber zu sprechen, und Shouta wollte ihn auch nicht dazu drängen. Eigentlich vermied er ernste Themen am liebsten. Vielleicht war das feige von ihm, aber Shouta war es leid, tapfer zu sein.
„Kippe?", fragte er und fummelte eine Schachtel Pall Mall aus der Hosentasche.
Vítors Gesicht hellte sich auf und er grinste. „Du fragst noch?"
Shouta reichte ihm eine, gab ihm Feuer und zündete sich danach selbst eine an.
Die Videothek war ein muffiger Laden mit klebrigem Linoleumboden und vergilbten Filmplakaten an den Wänden. Spinnweben und fingerdick Staub im Schaufenster. Shouta hatte die Scheiben nie sauber gesehen. Der Boden am Eingang war glitschig vor Nässe.
Hinter dem Tresen saß Evelyn Schwarz, Felines Schwester, blätterte gelangweilt in einer Illustrierten und hörte über den Discman Musik. Sie sah aus wie Feline, bloß älter, blond und weniger sommersprossig. Evelyn hob den Blick, als sie eintraten, beachtetet sie aber nicht weiter. Solange sie nicht in die Erwachsenenabteilung gingen, mischte Evelyn sich nicht ein.
Shouta ging zielstrebig zum Horror-Regal, neben dem ein grinsender Freddy-Krueger-Pappaufsteller stand. Vítor lachte nervös.
„Welchen willst du dieses Mal?", fragte er.
Shouta las die Titel. Blair Witch Project, Chucky - Die Mörderpuppe, Chucky 2 - Die Mörderpuppe ist wieder da, Chucky 3, Chucky und seine Braut, Der Exorzist, Ich weiß was du letzten Sommer getan hast, A Nightmare on Elm Street, und ...
„Ring soll gut sein, hab ich gehört." Er nahm die DVD in die Hand und betrachtete das Cover. „Das ist sogar das Original aus Japan! Soll noch besser sein."
„Besser heißt gruseliger, oder?" Vítor umarmte Shouta von hinten, küsste ihn auf den Hinterkopf und vergrub danach das Gesicht in seinen Haaren. Shouta konnte heraushören, dass Vítor nicht so begeistert war wie er selbst.
„Keine Sorge. Ich pass schon auf dich auf."
Vítor lachte. „Mein Held!"
„Also ja?"
„Aber den anderen such ich aus."
„Na gut."
Vítor küsste ihn erneut, bevor er ihm einen leichten Schubs gab.
Er entschied sich für Fluch der Karibik, womit Shouta zufrieden war. Den hatten sie letztes Jahr im Kino gesehen. Es war ihr erstes Date gewesen, mit reingeschmuggeltem Popcorn und Cola. Es war ein guter Tag gewesen. 2003 war ein gutes Jahr gewesen. Manchmal wünschte sich Shouta diese Zeit zurück.
Vítor holte die Tiefkühlpizzen aus dem Ofen, während Shouta duschte. Das tat er in letzter Zeit oft hier; Sarnai kam nicht mehr mit den Rechnungen hinterher. Vítor sprach ihn nicht darauf an. Er wusste, dass Shouta sich dafür schämte, und es gab wichtigere Dinge, über die sie reden mussten.
Die Badezimmertür öffnete sich und Shouta kam heraus. Er trug einen von seinen Hoodies. Vítor mochte es, wenn er das tat. Shouta sah niedlich in seinen Hoodies aus - er versank richtig darin und musste ständig die Ärmel hochschieben. Aber immer nur so weit, dass er die Finger gut bewegen konnte.
Shouta wurde oft für jünger gehalten, als er war. Konnte Vítor ein bisschen verstehen, denn er war kleiner als die anderen Jungs und ziemlich schmal.
Vor allem aber war er sehr hübsch. Je älter er wurde, desto mehr traten seine Wangenknochen hervor, was sein Gesicht reifer und ernster wirken ließen. Irgendwie mysteriös, fand Vítor. Sein dunkles Haar, gerade noch feucht, reichte ihm bis fast bis zu den Schultern. Ein bisschen wie bei Kurt Cobain, von dem ein Poster in Felines Zimmer hing. Und immer, wenn Shouta ehrlich lächelte, bildeten sich Lachfalten um seine braunen Augen. Inzwischen kam das selten vor.
„Ich hab noch Cola da, wenn du willst", sagte Vítor und fügte verschwörerisch hinzu: „Und Bier, hab's gestern noch bei Ilya gekauft."
„Geil."
Shouta ging an ihm vorbei zum Kühlschrank, holte Bier und Cola heraus. Er öffnete das Bier noch im Stehen und trank die ersten Schlucke, bevor er ihnen Cola einschenkte. Vítor schnitt die Pizzen, stellte sie auf den Tisch und Shouta zog sich einen Stuhl heran. Er setzte sich rittlings darauf und legte die Arme über die Rückenlehne. Normalerweise machte er das, weil er es bequemer fand. Aber bequem sah es heute nicht aus.
Shoutas Schultern waren angespannt und er spielte mehr mit der Pizza, als dass er aß. Er sah aus, als ob er angestrengt nachdachte, so wie oft in letzter Zeit. Vítor wusste nicht genau, wie lange schon. Wochen? Monate? Shouta war schreckhaft geworden, und entspannt hatte Vítor ihn ewig nicht mehr gesehen.
Es war besser, wenn sie alleine waren. Besser, aber nicht gut.
„Was'n?", fragte Shouta.
„Hm?"
„Du guckst so komisch."
„Dir geht's nicht gut, oder?"
Shouta trank und starrte auf seine Pizza.
„Es ist nichts, mach dir keine Gedanken", sagte er nach einer Weile.
„Shouta."
Shouta trank.
Vítor beobachtete ihn. Shouta spielte mit der leeren Dose herum, zerdrückte sie, und seine Augen waren glasig.
„Ich merke doch, das was nicht stimmt. Irgendwas-", fing er an, aber Shouta schnitt ihm das Wort ab.
„Es ist nichts, okay? Stress halt, Schule und so. Und Sarnai nervt. Mehr ist nicht."
„Okay", sagte Vítor. Er wollte noch etwas sagen. Er hätte ihn gerne mehr gefragt. Warum er so oft aus den höheren Stockwerken kam, auch wenn er dort keinen kannte, und woher die blauen Flecken stammten. Aber als er Shouta ins Gesicht sah, verlor er den Mut. Also schwieg er, aß die Pizza und mischte das Bier mit Cola.
Plötzlich hatte Vítor sehr große Angst.
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