Mittwoch 21.07.1999
Der Himmel war wolkenlos und es war heiß. Nasima riss sich die Kappe vom Kopf, Idriss zog sie ihr wieder an.
„Ne-ein!", quengelte sie.
„Do-och", erwiderte er. Sie patschte ihm ins Gesicht und ließ sich in den Sand fallen. Ihssane, der auf der Bank neben dem Sandkasten saß, lachte.
„Sima, wollen wir 'ne Sandburg bauen, ja?" Idriss gab ihr das Schäufelchen. Sofort fing sie an zu buddeln und schmiss den Sand überall hin. „Liri, willst du mitmachen?"
„Hä?"
Liridon, der im Schatten unter dem Klettergerüst saß, sah auf. Diesen Sommer war er gar nicht braun geworden wie sonst immer. Allerdings war seine Familie dieses Jahr auch nicht in Urlaub gefahren.
„Willst du mitmachen, 'ne Sandburg bauen?"
„Nee", sagte er, aber kam herüber und hockte sich neben Idriss. Die Pistole steckte in seinem Hosenbund. Liridon bohrte mit den Schuhspitzen im Sand herum. Schweißperlen auf seiner blassen Stirn. Er pustete sich die langen Haare aus dem Gesicht.
„Kann ich mal deine Pistole?"
„Mmh."
Schwere, warme Spielzeugwaffe in seiner Hand. Idriss zielte auf die Tauben, die auf dem Spielhäuschen saßen, aber schoss nicht.
„Idriss!", rief sein Onkel warnend.
„Ich mach gar nix! Ich tu nur so!"
„Was sagt wohl dein Vater zu so was, hm?"
„Tschuldigung", sagte er und legte die Pistole weg.
„Is' eh nicht geladen", sagte Liridon.
„Wollen wir Krieg spielen?"
„Nee."
Sie saßen nebeneinander und schwiegen sich an. Die Sonne knallte auf sie herunter. Nasima füllte ungeschickt ein Förmchen und stülpte es um, aber der Sand war zu trocken, um damit Kuchen zu backen. Sie quengelte.
„Jungs, wollt ihr Eis?", fragte Ihssane, stand auf und streckte sich.
„Ja!"
Liridon nickte stumm.
„Ich geh zum Kiosk, bin gleich wieder da. Idriss, pass auf deine Cousine auf."
„Ist gut, Onkel."
Idriss nahm Nasima unter den Armen und hob sie hoch.
„Sima, willst du klettern, ja? Wir gehen aufs Klettergerüst. Liri, kommst du mit?"
„Ist doch voll scheiße", antwortete Liridon. „Klettergerüst, du bist so behindert, ey."
„Willst eins aufs Maul?", erwiderte Idriss, aber fühlte sich sofort schlecht. Sein Vater hatte gesagt, er müsse jetzt ganz besonders nett zu Liridon sein, weil seine Familie eine schwere Zeit durchmache.
„Hab ich nicht so gemeint."
„Blöd bist du doch", meinte Liridon. Die Pistole, die jetzt ihm gehörte, lag neben ihm im Sand.
Idriss ging mit Nasima zum Klettergerüst, hob sie hoch und setzte sie auf die Leiter zum Häuschen. Sie zog sich langsam die Sprossen hoch, aber sie war noch nicht weit gekommen, als Liridon nach ihm rief: „Driss!"
Er wandte sich um.
Ein hellblonder Junge kam angeradelt, sprang über den Gepäckträger ab und ließ sein Rad achtlos auf den verdorrten Rasen fallen. Sogar auf die Distanz erkannte Idriss Zacharias. Der und seine ekelhafte Schwester waren in seiner Klasse. Beides Heulsusen und Petzen. Idriss hatte noch keinen Jungen außer ihm getroffen, der weinte, wenn man ihn haute. Das tat nicht einmal Feline, dabei war die ein Mädchen.
„Ey, Kurti!", rief Zacharias. Idriss pflückte Nasima vom Gerüst, setzte sie ab und kam zu Liridon.
„Lass zu Ihssane an den Kiosk, ok?", sagte er. „Der will bestimmt Ärger."
„Nein, wart mal", erwiderte Liridon und stand auf. Zacharias stolzierte auf sie zu, breitbeinig wie ein Filmcowboy.
„Ey, Kurti!"
„Was willst du?", fragte Liridon leise.
„Wie war die Beerdigung? Konntet ihr 'nen Sarg kaufen oder habt ihr ihn so eingegraben?"
Idriss nahm Liridons Hand und sagte: „Lass zu Ihssane."
„War dir das nicht peinlich in der Schule?", fuhr Zacharias fort. „Hab gehört, du durftest jeden Tag früher heim, weil du ständig geheult hast."
„Halt's Maul, Zach", sagte Idriss. Vor Wut kamen die Wörter wieder falsch raus. „Halt deine Schnauze!"
„Sonst was? Halt du die Schnauze", erwiderte Zach. Und dann sagte er dieses Schimpfwort. Das, von dem Idriss wusste, das meinte keinen anderen, nur ihn. Liridon quetschte seine Hand, das Gesicht krebsrot.
„Weißt du was, Kurti? Alle sagen, ihnen tut's leid um deinen blöden Bruder, aber die tun nur so. Meine Mama sagt, je weniger von euch hier rumlaufen, desto besser. Denken eigentlich alle."
„Von uns", wiederholte Liridon.
„Ja, von euch."
Und dann sagte Zach ein Wort, das Idriss nicht kannte. Aber er musste es nicht kennen, um zu wissen, dass es eines von den bösen Worten war, eines gegen Liridon und seine Familie. Und Liridon kannte es offenbar.
„Nimm das zurück!", brüllte er, ließ seine Hand los und ging auf Zach zu, aus dessen Gesicht das Grinsen verschwand. Er hob die Arme.
„War ein Witz, ok? War nur ein Witz!"
Liridon holte himmelweit aus und schmetterte ihm die Faust ins Gesicht. Zach schrie, stolperte und fiel. Nasima erschreckte sich und fing an zu plärren.
„Nimm das zurück!"
Zach krabbelte davon, aber Liridon setzte ihm nach, trat ihm in den Rücken und drückte seinen Kopf in den Sand.
„Nimmst du's zurück? Nimmst du's zurück, du Hurensohn?!"
„Liri, hör auf", sagte Idriss. Ihm wurde flau im Magen. „Hör auf, es reicht!"
Er versuchte, Liridon von Zach wegzuziehen, aber da war nichts zu machen, der bewegte sich nicht.
„Lass den, hör auf jetzt! Liridon! Ey!"
Oh scheiße, dachte Idriss. Oh scheiße, der bringt Zach um.
Und er lief davon, Richtung Kiosk, rief: „Ihssane! Ihssane!", aber sein Onkel kam ihm schon entgegengerannt, an ihm vorbei, packte Liridon bei den Schultern und zerrte ihn von Zach herunter, der hustend und spuckend und würgend den Kopf aus dem Sand hob.
„Du bist dran! Mama ruft die Polizei, und dann ist deine scheiß Familie dran!", brachte er heraus, von Schluchzern geschüttelt, kam mühsam auf die Beine und stolperte davon. Ihssane hielt immer noch Liridon fest, der kratzte und biss und trat und schrie: „Nimm das zurück! Nimm's zurück! Ich bring dich um!"
„Junge, warte, geht's dir gut? Warte!", sagte Ihssane. Zach fiel über die Einfassung des Sandkastens und stand hektisch wieder auf. Seine hellen Jeans hatten am Gesäß dunkle Flecken.
„Du hast dir in die Hosen geschissen, du Drecksau!", rief Idriss ihm hinterher. Wütendes Heulen seitens Zach, der sein Fahrrad liegen ließ.
„Du hast dir-!"
„Genug!", fuhr ihm Ihssane über den Mund. „Heb' das Zeug auf, wir gehen."
„Aber er hat-"
„Idriss, wir gehen!"
Das Sandspielzeug in der einen Hand, Nasima an der anderen. Die Pistole steckte in Idriss' Hosenbund. Ihssane zerrte Liridon hinter sich her, der jetzt gar nichts mehr sagte. In seiner linken Hand drei Cornetto Erdbeer.
Zuhause bei Ihssane setzten sie sich im Wohnzimmer aufs Sofa und aßen Eis. Auf der Fensterbank verdorrte Pflanzen, dahinter die staubigen Fenster und der Balkon mit den Klappstühlen und der strahlend blaue Himmel. Liridon heulte und heulte und heulte. Das halb geschmolzene Cornetto tropfte ihm auf die Hose und auf das Polster.
„Tante?" rief Idriss. Keine Antwort.
„Sei du bloß froh, dass Bouchra nicht da ist", meinte Ihssane. „Ich lege Nasima schlafen, kümmer dich mal um deinen Freund."
„Äh."
Idriss wusste nicht, was er tun sollte. Er reichte Liridon ein Päckchen Taschentücher, aber der schlug es ihm aus der Hand. Also rutschte er an ihn heran, tätschelte unbeholfen seine Schulter und überlegte.
„Willst du Fanta?"
„Ja", antwortete Liridon mit wütender, wässriger, schnoddriger Stimme und zog die Nase hoch. Idriss ging in die Küche, holte die Fanta aus dem Kühlschrank und wollte Liridon eigentlich ein Glas geben – aber der trank direkt aus der Flasche, schluchzte, rülpste und bekam Schluckauf.
Ihssane trat wieder ein und schloss leise die Tür hinter sich.
„So. Ruhe jetzt", sagte er und wischte Liridon mit einem Taschentuch das verheulte Gesicht ab. „Da. Schnäuz mal."
Liridon tat es.
„Schuhe aus, aber sofort."
Er trat sich die Turnschuhe von den Füßen. Sand rieselte auf den Wohnzimmerteppich.
Liridon trank die Fanta aus, bekam noch ein paar Kekse und beruhigte sich wieder. Ihssane legte eine Videokassette Löwenzahn ein und setzte sich zwischen sie auf die Couch. Liridon kroch ihm ständig in den Arm, während sie Fernsehen guckten, und das ärgerte Idriss.
„Lass das", sagte er, „das ist mein Onkel, geh doch nach Hause."
„Halt den Mund, Idriss", erwiderte Ihssane streng.
„Das ist aber nicht fair! Liri hat seinen Baba immer zuhause und seine Nënë und Agneta und jetzt hat er noch die Pistole!"
Ihssane schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf.
„Aua!"
„Ich will die Scheißpistole nich'", sagte Liridon undeutlich, das Gesicht in Ihssanes Halsbeuge, und schniefte. „Ich will Ilir wiederhaben."
„Ja, und Eis und Fanta und Kekse willst du auch haben", meinte Idriss giftig.
„Junge, noch ein Wort und ich leg' dich über's Knie", sagte Ihssane. „Man muss sich ja für dich schämen."
Sie sahen die Episode zuende. Idriss hockte mit angezogenen Knien auf der Couch, die Arme verschränkt, und starrte finster auf den Bildschirm. Peter Lustig verabschiedete sich, fertig, aus. Scheißlöwenzahn und Scheißalles, fand Idriss. Aber er heulte nicht, weil er kein solches Baby war wie Liridon.
„Ich will jetzt nach Hause", sagte der, beugte sich vor und angelte nach seinen Schuhen.
„Idriss, wie wäre es, wenn du deinen Freund begleitest?", fragte Ihssane, schaltete den Fernseher aus und stand auf. „Und wenn du wiederkommst, unterhalten wir uns mal."
Idriss nickte stumm und ging in den Flur, seine Schuhe anziehen. Liridon und Ihssane folgten ihm bald.
„Vergiss die nicht", sagte Ihssane und reichte Liridon die Pistole. Der guckte zu ihm hoch, als ob er schon wieder anfangen würde zu weinen.
„Na, was denn? Komm mal her." Ihssane nahm ihn in den Arm. Nur kurz, aber Idriss wurde trotzdem ganz schlecht vor Eifersucht. „Lass dich nicht ärgern. Schlag dich nicht mit solchen. Okay?"
„Zach hat gesagt, seine Mama ruft die Bullen", sagte Liridon kleinlaut. „Wenn die echt kommen?"
„Die interessiert das doch nicht, was so'n paar Kinder machen. Aber wenn du älter bist, wird's die interessieren. Also lass den Mist. Ja?"
„Ja."
„Gut. Grüß deine Eltern von mir. Bis gleich, Idriss."
Sie gingen schweigend am Spielplatz vorbei. Die Pistole glänzte metallisch dunkel in Liridons Hand. Dort hinten auf dem Rasen lag Zachs Fahrrad noch so, wie er es hingeworfen hatte. Idriss versuchte, seine Gedanken zu sortieren.
Ilirs Krebs war wiedergekommen und hatte ihn umgebracht, und dann war er begraben worden. Das wusste er, denn er und sein Baba waren ja dabei gewesen, und es war noch nicht lange her. Liridons Baba hatte furchtbar geweint. Idriss hatte noch nie zuvor einen Erwachsenen weinen sehen.
„Ich wollte nicht gemein zu dir sein", sagte er. „Tut mir echt leid."
„Is' schon okay", antwortete Liridon.
„Aber das ist mein Onkel. Du hast ... Ilir ist ja weg, aber du hast deine Nënë und deinen Baba und Agneta zuhause. Das sind drei Leute. Du kannst nicht noch meinen Onkel haben, weil das ist meiner!"
„Ich will deinen blöden Onkel gar nicht haben."
„Okay. Dann ... dann ist ja gut."
Sarnais Kiosk war noch auf. Sie stand an der Theke, eine Flasche in der Hand, und unterhielt sich leise mit Kevins Mama. Liridon zielte im Vorübergehen mit der Pistole auf die beiden Frauen. Idriss legte den Kopf in den Nacken und dachte an Ilir, der blond gewesen war wie Liridon, aber viel netter. Vielleicht hatte er ja Glück und musste nicht so lange warten, bis er auferstehen konnte.
„Du wolltest Zach aber nicht echt was tun, oder?", fragte er. Liridon schwieg eine Weile und überlegte.
„Doch", antwortete er. „Ich will, dass der stirbt. Ich will den umbringen."
„Aber das kannst du gar nicht. Dafür bist du viel zu klein."
Idriss guckte auf Liridon runter, der ihm gerade bis zur Schulter reichte. Der hielt ihm die Pistole unter das Kinn und sagte: „Doch, kann ich. Und ich mach das noch. Ich werd's Zach geben."
Und dann waren sie da und Liridon klingelte. Auf dem Balkon im zweiten Stock öffnete sich die Tür und seine Mutter Emina beugte sich über das Geländer. Sie sah schlimm aus, blass und traurig und todmüde.
„Ach, du bist das", sagte sie. „Ich mach auf."
Der Summer ertönte. Liridon drückte die Haustür auf und blieb auf der Schwelle stehen.
„Driss, kommst du mit hoch?", fragte er seltsam eindringlich. „Du kannst auch mein Messer angucken und, und ich lass dich mit meinem Zeug spielen. Kommst du?"
„Ich kann nicht, ich muss doch zurück, Ihssane hat gesagt - "
„Du kannst sogar mit meinem Panzer fahren. Mein ferngesteuerter Panzer. Ich schenk dir 'nen Bleisoldaten. Wenn du hochkommst."
„Nein, ich kann nicht."
Liridon nickte.
„Tschüss, Driss", sagte er und ging rein, ohne ihm vors Schienbein zu treten. Die Tür schlug hinter ihm zu.
„Tschüss, Liri", erwiderte Idriss.
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Das Kapitel ist von Pfaffenhut
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