Mittwoch 09.03.2005
Es war ein scheiß langweiliger Tag gewesen, fand Kevin, und Schule noch viel beschissener als sonst.
Als er nach Hause kam, war Marlene nicht da. Es gab auch nichts zu essen, also zockte er Playsi. War okay, aber wurde schnell langweilig, weil er seine Spiele alle schon kannte. Er hatte keines richtig durchgespielt, aber spannend waren sie nicht mehr. Wenn man in Rennspielen schon der Beste war, gaben die nicht mehr viel her.
Also ging er raus, um irgendwen zu suchen. Aber er fand keinen. Liridon hing in letzter Zeit ständig mit Idriss ab und dann wollten sie alleine sein. Shouta war auch nirgends zu sehen, weder draußen noch bei Ilya noch in der Videothek. Am Spielplatz waren nur irgendwelche dummen kleinen Babys. Es nieselte.
Doch wieder nachhause. Kevin öffnete die Wohnungstür, trat ein und wäre beinahe mit Marlene zusammengestoßen.
„Da bist du ja endlich!", brauste sie auf, bevor Kevin überhaupt Hallo sagen konnte. „Kannst du mir vielleicht sagen, was das da ist?"
Sie machte eine barsche Geste in Richtung seines Zeugs, das im Flur auf dem Boden lag. Eastpak-Rucksack, Mütze und Jacke.
„Meine Sachen", antwortete er also.
„Was bist du so frech?!"
„Aber das sind halt meine Sachen."
„Jetzt komm mir nicht dumm!"
„Du hast doch gefragt!"
Marlene fuhr sich durchs Haar und sagte etwas zu sich selbst, das Kevin nicht verstand. Er verschränkte die Arme vor der Brust.
„Warum liegt das da?", fragte sie dann.
„Weil ich es da hingelegt hab."
„Mitten in den Flur?"
„Siehste doch."
„Wofür haben wir dann eine Garderobe?"
Kevin zuckte nur mit den Schultern. Marlene fluchte.
„Ich hab dir schon tausend Mal gesagt, schmeiß deinen Scheiß nicht so durch die Gegend! Was soll das? Räum das weg, jetzt! Zieh dir die Schuhe aus!"
Sie machte auf den Absatz kehrt und ging in die Küche. Geschirr klapperte und schepperte, als sie anfing zu spülen. Kevin folgte ihr.
„Hast du gekocht?", fragte er. Sie schlug mit den Händen auf die Arbeitsfläche.
„Hör auf zu nerven!"
„Hör auf zu nerven", äffte er sie nach.
Marlene wirbelte herum und klatschte ihm den Spüllappen ins Gesicht. Er bekam Schaum in den Mund und spuckte aus.
„Hey!", protestierte er. Marlene ging nicht darauf ein.
„Hast du gekocht? Mach deinen Scheiß doch allein! Zu faul für die Schule? Dann werd erwachsen und tu mal was Nützliches! Koch, los jetzt!"
„Schmeckt eh wie Arsch, was du kochst."
„Dann koch selbst!" Marlenes langes Gesicht war vor Wut verzerrt, das dünne blonde Haar fiel ihr wirr über die Schultern. „Na, keine Antwort drauf, was?"
„Du bist so scheiße!" Er wollte weglaufen, doch sie war schneller, packte ihn am Oberarm und riss ihn zurück.
„Hiergeblieben!"
Kevin stemmte sich gegen ihren Griff.
„Ich hab die Schnauze voll! Ständig machst du Ärger und ich muss ihn ausbaden! Christian und Mattheo machen nie Ärger! Und sie gehen zur Schule!"
„Mir egal!", schrie Kevin. Er warf sich nach hinten, aber Marlenes Griff war zu fest. Es tat weh und ihre Fingernägel bohrten sich in seinen Arm. „Schule ist scheiße! Da geh ich nicht hin!"
„Wenn du weiter so strohdumm bleiben willst, bitte! Aber glaub ja nicht, ich füttere dich durch!"
„Ich will dein Futter gar nicht!" Er versuchte, Marlene zu schlagen, direkt in ihr dummes, bekacktes Gesicht, aber ihre Arme waren länger. Sie hielt seine Hand fest.
„Wenn man dich lassen würde, würdest du den ganzen Tag nur mit deinen nutzlosen Freunden abhängen und rauchen und saufen. Glaub ja nicht, ich weiß nicht, was ihr treibt!"
„Du machst das doch auch!" Jetzt heulte Kevin. Marlene war so beschissen unfair.
„Ich bin erwachsen, Freundchen."
„Ich bin nicht dein Freund!"
Kevin trat ihr vors Schienbein. So richtig fest. Und er kratze und zwickte und versuchte, sie zu beißen. Er spuckte ihr ins Gesicht. Sie ließ ihn los, er stolperte gegen den Küchentisch und riss mit Getöse das Geschirr vom Vortag herunter. Scherben auf dem Boden.
„Wage es ja nicht, noch einmal betrunken hier aufzutauchen!" Angewidert wischte sie sich das Gesicht ab.
„DU HAST MIR GAR NICHTS ZU SAGEN!", brüllte Kevin zurück, so laut er konnte.
„Ich bin deine Mutter!"
„Ich hasse dich!" Er rannte los.
„Denkst du, ich mach das aus Spaß?! Ach, nein, du denkst dir mal wieder gar nichts!"
„Fick dich!" Er riss die Wohnungstür auf, sie donnerte gegen die Wand.
„Dann hau doch ab!", schrie Marlene ihm hinterher.
„Fick dich!", schrie Kevin zurück und knallte die Tür hinter sich zu.
Scheiß Marlene. Scheiß Schule. Scheiß Aufräumen. Irgendwann würde er echt gehen und dann würden sich alle noch wundern! Kevin stampfte durchs Treppenhaus, wischte sich heftig die Tränen weg und schnäuzte sich in seinen Ärmel. Du bist so ein Baby, würde Liridon sagen, aber der war gerade nicht da. Keiner war da, die Flure waren leer, weil es Mittwoch und schon nach zehn war. Da hing selten noch wer hier rum. Was auch voll scheiße war.
Vor Wut trat er gegen eine Coladose, die er am Mittag hier vergessen hatte. Sie war noch zur Hälfte voll, die Cola spritzte über seinen Schuh, das Hosenbein und den Flur.
„Verfickte Scheiße!"
„Kevin?" Shoutas Kopf tauchte über dem Treppengeländer ein Stockwerk höher auf. „Was ist los?"
„Nix."
„Habt ihr schon wieder gestritten?", fragte Shouta. Er lehnte sich weiter über das Geländer, er hatte eine Glasflasche in der Hand.
„Die's so scheiße! Immer nur am Meckern und so'n Scheiß!" Kevins Stimme hallte im Treppenhaus. Im schummerigen Licht konnte er Shoutas Gesichtsausdruck nicht erkennen. Shouta brauchte lange, bis er antwortete.
„Willste trinken?", fragte er und hob die Flasche. Wahrscheinlich war es Wodka, den trank er oft.
„Ja! Hast du was zum Mischen?" Wodka ohne Süßes schmeckte scheiße, auch wenn Shouta und Liridon etwas anderes behaupteten. Voll bekloppt von denen, fand Kevin.
„Komm hoch. Wir gucken."
Er nickte und rannte die Treppe hinauf.
Kevin war selten in Shoutas Wohnung, eigentlich durfte er nämlich nicht hierher kommen.
„Bist du alleine?", fragte er.
„Nee, Sarnai pennt oder so, keine Ahnung, was die da drinnen macht." Shouta nickte in Richtung Schlafzimmer. „Musst aber nicht leise sein, die kommt auch nicht raus, wenn sie was hört."
„Okay", antwortete Kevin, der gar nicht daran gedacht hatte, leise sein zu müssen.
Shouta schaltete in der Küche das Licht an und Kevin konnte ihm zum ersten Mal richtig erkennen. Seine Augen und Nase waren gerötet, seine Haare feucht.
„Haste geheult?", fragte er.
Shouta antwortete nicht, sondern öffnete den Kühlschrank. Er nahm eine Colaflasche heraus und schwenkte sie. Irgendeine Eigenmarke vom Discounter, aus der schon wer getrunken hatte. „Reicht dir das?"
Kevin nickte, ließ sich aber nicht abbringen: „Was'n los?"
„Nichts ist los", antwortete Shouta ungeduldig. Er öffnete die Cola, stellte sie in die Spüle und kippte Wodka rein. Ziemlich viel, aber er verschüttete auch viel, weil er wie verrückt zitterte.
„Aber haste jetzt geheult?"
„Nein, hab ich nicht, und jetzt halt die Schnauze!" Shouta schraubte den Deckel wieder auf und knallte die leere Wodka-Flasche auf die Küchenzeile. Er wischte sich die Hände an der Hose trocken.
„Na gut", sagte Kevin.
„Komm, los." Shouta reichte ihm im Vorbeigehen die Flasche. Kevin trank daraus und schüttelte sich. Es schmeckte eigentlich nur nach Wodka.
Die Nacht war kalt und still und sie waren alleine. Shouta warf einen Blick über die Schulter.
„Beeil dich, lass uns weg von diesem Scheiß." Er nahm Kevin die Flasche aus der Hand, trank und lief los. Kevin drehte sich um, hob beide Mittelfinger Richtung Platte und musste dann Shouta hinterherrennen, weil er schon auf halben Weg zur Unterführung war.
„Ey, warte! Warte!"
Shouta sah sich nicht nach ihm um, ging aber langsamer, bis Kevin ihn eingeholt hatte. Dann ging er wieder schneller und Kevin versuchte, mitzuhalten.
„Mann, hetz doch nicht so", beschwerte er sich.
„Lauf halt schneller."
Heute war einer der Tage, an denen Shouta besonders scheiße drauf war, fand Kevin. Am besten war es an solchen Tagen, ihn gar nicht mehr drauf anzusprechen. Deshalb sagte er nichts mehr.
Shouta reichte ihm schweigend die Flasche und er trank so viel auf einmal, wie der eklige Geschmack zuließ.
Sie ließen die Unterführung und die Platte hinter sich, unterhielten sich nicht, tranken nur. Es begann zu nieseln, Kevin zog sich die Hoodie-Kapuze tiefer ins Gesicht. Es war scheiße kalt, aber seine Jacke lag zuhause und er wollte nicht zurück.
„Ich hasse es hier", sagte Shouta plötzlich. „Das ist alles so beschissen."
„Find ich auch!", rief Kevin. Shouta trank, schwankte schon. Er musste einen Ausfallschritt machen, um nicht umzufallen, und reichte ihm die Mische. Kevin trank auch.
„Marlene ist nur am Meckern wegen der beschissenen Schule." Er kickte einen Stein auf die Straße.
„Ja, Schule ist scheiße", murmelte Shouta.
„Soll jetzt schon wieder wiederholen, sagen die Spastis." Kevin fuchtelte mit der Flasche, Shouta riss sie ihm aus der Hand. Er nahm einen tiefen Zug, ohne auf den Geschmack zu reagieren.
„Und dann ruft letztens die Meier an", fuhr Kevin fort, „weißte, lässt so lange klingen, bis Marlene doch ma ran geht. Bla bla, ich hab Mathe nicht mitgeschrieben, petzt die Fotze."
„Mhm", machte Shouta.
„Und jetzt soll ich den Abfuck nachschreiben! Und Marlene so, boah Kevin, warum haste nicht mitgeschrieben? Ich fahr dich hin, wenn's sein muss, und schreibst nach!"
Er gestikulierte wild, stolperte und musste sich an einer Laterne festhalten, um nicht hinzuknallen.
„Aber hat die vielleicht schon vergessen, glaub ich."
Er blickte zu Shouta, der jetzt mitten auf der Straße ging.
„Jedenfalls, weißte, Marlene dann so, ey wenn du nicht zur Schule gehst, musste arbeiten und ausziehen. Und weißte was? Mach ich auch! Dann hab ich Geld!"
„Mhm."
„Wozu braucht man den Kack überhaupt? Was soll ich mit scheiß Mathe?"
Darauf antwortete Shouta nicht.
„Die sollen sich alle ins Knie ficken!"
Auch darauf reagierte er nicht. Kevin verstummte.
„Irgendwann bin ich einfach weg", sagte Shouta in die aufgekommene Stille. So leise, dass Kevin ihn kaum verstand.
„Ja, ich auch!"
Nur weg hier. Wer würde ihn schon vermissen? Marlene bestimmt nicht. Nicht Frau Meier und kein anderer Lehrer. Und auch sonst niemand.
Manchmal stellte Kevin sich vor, wie es wäre, wenn er tot wäre. Er malte sich seine Beerdigung aus. Es würde regnen, wie in den Filmen, und alle würden kommen: Marlene und Liridon und Shouta. Und Idriss und Feline und Vítor. Die Nachbarn. Die Lehrer. Alle. Und sie wären alle so traurig, dass er nicht mehr da war. Es würde ihnen leidtun, dass sie ihn so behandelt hatten!
Sein Sarg wäre schwarz und teuer, mit einem goldenen Kreuz drauf und Futter aus Samt drinnen. Es würde ein trauriges Lied gespielt, der Sarg würde ins Grab hinabgelassen, und ein Pfarrer würde darüber reden, wie sehr alle Kevin im Stich gelassen hatten. Und –
Auf einmal passierte alles unglaublich schnell auf einmal. Reifen quietschten, es gab einen Knall und da, wo Shouta noch vor einem Moment gestanden hatte, stand ein Auto. Ein dumpfer Schlag. Shouta lag knapp außerhalb des Scheinwerferlichts und rührte sich nicht. Jemand schrie.
Kevin schrie. Shouta war tot. Er war totgefahren worden. Oh Gott. Oh Gott! Kevin schrie und schrie und schrie. Menschen sammelten sich um sie herum. Er wusste nicht, wo sie hergekommen waren, sie erschienen. Jemand kniete sich zu Shouta.
„Holt einen Notarzt!", rief eine Frau. „Er atmet noch!"
Kevin hatte aufgehört zu schreien. Jetzt starrte er nur. Da war Blut auf der Straße. Viel Blut. Das war Shoutas Blut. Nein, nein-!
„Gehörst zu ihm?" Eine Frau stand vor ihm. Sie war sehr groß und ihre Stimme war schrill. Er wollte sich die Ohren zuhalten, aber konnte sich nicht rühren.
„Er ist tot."
„Nein, ist er nicht. Gehörst zu ihm?"
„Er ist tot!"
„Nein, er lebt. Wir müssen aber wissen, wie er heißt. Wo wohnt er?"
„Er ist tot!"
Sie sagte noch mehr, doch irgendwann gab sie auf.
Sirenen. Blau flackerndes Licht. Kevin bewegte sich wie von selbst. Schritt für Schritt. Direkt auf Shouta zu. All das Blut.
„Beweg dich nicht."
Er blieb stehen, aber niemand war bei ihm. Stattdessen saßen jetzt zwei Männer bei Shouta. Sie trugen grelle Jacken, die das Licht reflektieren. Eine Frau rannte an ihm vorbei. Jetzt war sie auch bei Shouta. Sie sprach mit den Männern. Hastig. Mit Worten, die Kevin nicht kannte.
Jemand stöhnte.
„Alles ist gut. Wir sind da, wir helfen dir."
Sie sprachen nicht mit Kevin. Das verstand er jetzt. Er blieb stehen und sah auf die Straße. Shouta war tot. Die Leute sprachen mit ihm.
„Du musst das nicht sehen, komm mit", sagte ein Mann, griff ihn am Arm und zog ihn weg. Kevin ließ sich wegziehen.
„Er ist tot", sagte er leise, weil er keine Kraft mehr hatte. „Shouta ist tot."
„Nein, er lebt. Er wird jetzt ins Krankenhaus gebracht."
„Tot", sagte Kevin.
Er blickte zurück und sah, wie Shouta auf einer Liege in den Krankenwagen geschoben wurde. Sein Gesicht war nur rot, nur Blut. Jetzt schrie Kevin wieder.
Kevin stieg aus dem Polizeiauto. Es regnete jetzt richtig.
„Komm, wir bringen dich nach Hause", sagte der eine Polizist.
Kevin nickte stumm. Er dachte an das Blut. Dunkel und glänzend auf dem nassen Asphalt. Der Regen spülte es weg. Und das war alles Shoutas Blut gewesen. Tot. Tot. Tot.
„Die flicken deinen Freund schon wieder zusammen", sagte der andere Polizist.
Sie nahmen den Aufzug. Der eine Polizist drückte den Daumen auf die Klingel, bis Marlene endlich die Tür öffnete.
„Mama!", rief Kevin und taumelte in die Wohnung. Marlene wich zurück und sah ihn angewidert an. Er wollte schreien, aber er musste weinen. „Mama, Shouta ist tot!"
„Hä?", fragte sie.
„Er ist nicht tot", sagte ein Polizist. „Es gab einen Unfall, Shuurganbaatar ist angefahren worden und wurde ins Krankenhaus gebracht. Ihr Sohn war mit ihm unterwegs."
„Was soll das jetzt schon wieder?", fuhr Marlene Kevin an. „Hast du schon wieder getrunken?"
„Nein", antwortete er. Tränen liefen ihm über das Gesicht.
„Hauch mich an."
Er gehorchte.
„Hab ich's gewusst!"
Marlene sprach mit den Polizisten, aber Kevin hörte nicht zu. Er ging ins Wohnzimmer und ließ sich aufs Sofa fallen. Auf dem Couchtisch standen leere Bierflaschen. Wortfetzen aus dem Flur, die er nicht verstehen konnte.
Kevin heulte. Jetzt richtig. Und er konnte nicht aufhören. Die quietschenden Reifen, der Knall, als das Auto Shouta erwischt hatte. Und all das Blut. Wie konnte in einem Menschen so viel Blut drin sein?
Marlene kam ins Wohnzimmer.
„Ich hab immer nur Ärger mit dir!", fauchte sie.
„Shouta ist tot", sagte Kevin tonlos.
„Mein Gott, kannst du nicht einmal zuhören? Er ist im Krankenhaus! Das haben die dir doch gesagt!"
„Das Auto", sagte Kevin. „Ich hab's nicht gesehen."
Marlene atmete tief durch.
„Ich weiß, ich weiß. Das war bestimmt schlimm, aber das kommt davon, wenn ihr immer nur Mist baut. Was wolltet ihr überhaupt auf der Straße? Warum habt ihr gesoffen?"
Kevin sah zu Boden und erwiderte: „Du hast doch gesagt, ich soll abhauen."
„Jetzt ist es meine Schuld, oder was?!"
Darauf hatte er keine Antwort. Er heulte. Marlene sagte lange nichts, dann seufzte sie.
„Komm, jetzt geh ins Bett", sagte sie ein bisschen freundlicher.
„Aber Shouta-"
„Ist im Krankenhaus."
Als Bruna die Polizisten durch den Türspion sah, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Und sie wurde bestätigt, als sie an die Tür der Batbayars klopften. Einmal diskret, dann immer dringlicher.
„Frau Batbayar!", sagte einer von ihnen laut. Eine tiefe, dröhnende Stimme. „Polizei, machen Sie die Tür auf! Es geht um Ihren Sohn!"Das reichte Bruna. Sie atmete tief durch, öffnete die Tür und trat hinaus. Bruna fand schon immer, dass sich alle Bullen ähnlich sahen. Bei diesen traf das besonders zu: Beides große, weiße Männer mit blondem Kurzhaarschnitt. Einer etwas jünger als Bruna, der andere vielleicht in den Fünfzigern. Sonst unterschied sie nichts.
„Was ist mit Shouta?", fragte sie, ohne verhindern zu können, dass ihre Stimme zitterte.
„Wer?"
„Shuurganbaatar. Der Sohn der Batbayars."
„Kennen Sie ihn?", fragte der Jüngere.
„Ja, natürlich, mein Sohn ist-", sie unterbrach sich, „ist mit ihm befreundet. Und ich kenne Frau Batbayar."
„Ist sie zuhause?"
„Müsste sie sein. Was ist passiert? Geht es Shouta gut?"
„Er hatte einen Unfall und wird gerade ins Krankenhaus gebracht."
Brunas Herz blieb für einen Moment stehen.
„Ins Krankenhaus? Was ist passiert?"
„Wir wissen auch nichts Genaueres, Frau ... wie war Ihr Name?"
„Ferraz Pedroso", sagte Bruna und wusste, dass die sich ihren Namen nicht merken würden.
„Er war mit einem Freund unterwegs und wurde angefahren. Nicht weit von hier." Als er ihr entsetztes Gesicht sah, fügte er hinzu: „Ihm ist nichts passiert."
„Wie schlimm ist es?" Angefahren konnte viel heißen. Auf dem Weg ins Krankenhaus konnte viel heißen. Es konnte alles heißen.
„Wie gesagt, das wissen wir nicht. Er war am Unfallort jedenfalls ansprechbar."
Der Kollege unterbrach ihn: „Was ist nun mit Frau Batbayar?"
„Sie muss da sein", sagte Bruna, „ich wüsste nicht wo sie sonst sein sollte. Soll ich mal versuchen?"
Der Bulle machte einen Schritt beiseite. Bruna trat an die Tür und klopfte. Energischer als er. Und sie klingelte.
„Sarnai, dein Sohn ist im Krankenhaus, mach die verdammte Tür auf!"
Keine Reaktion.
„Sarnai!"
Nichts.
„Sarnai! Die Polizei steht hier! Jetzt! Mach! Auf!"
Eine peinliche Stille trat ein. Und dann regte sich etwas in der Wohnung.
„Na endlich", murmelte der Ältere. „Passiert so was öfter?"
Bruna nickte grimmig. „Leider. Seitdem ihr Mann wieder im Knast ist. Nicht, dass es sonst irgendwen interessiert ... "
Bevor einer der Bullen etwas erwidern konnte, öffnete Sarnai die Tür. Sie hatte fettige, ungekämmte Haare und trug ein altes T-Shirt, das wahrscheinlich Garzorig gehörte. Es war sauber.
„Dass du dich nicht schämst", murmelte Bruna. Sie trat einen Schritt zurück.
„Sind Sie Frau Batbayar?", fragte der Ältere.
Sarnai nickte.
„Ihr Sohn hatte einen Unfall ... "
Er erzählte Sarnai dasselbe nochmal. Bruna hörte ihm nicht zu. Stattdessen starrte sie Sarnai an, die keine Miene verzog. Keine Reaktion. Gar nichts.
„Verstanden", sagte Sarnai nur und wollte die Tür schließen. Der Polizist hielt sie auf.
„Ihr Sohn ist im Krankenhaus", wiederholte er extra laut und langsam. Als würde er mit einem sehr dummen Kleinkind sprechen. Bruna widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen.
„Die versteht Sie ausgezeichnet."
„Ich kann nichts dran ändern, dass er da ist."
„Gottverdammte Scheiße, Sarnai!", zischte Bruna.
Die Polizisten waren ratlos. Der Jüngere ergriff das Wort: „Frau Batbayar, ich glaube, Sie haben nicht verstanden. Ihr Sohn wurde angefahren, er ist schwer verletzt. Wenn Sie keine Möglichkeit haben, selbst ins Krankenhaus zu kommen, können wir eine Ausnahme machen und Sie hinfahren."
„Was soll ich da?", fragte Sarnai.
„Ich verstehe, dass das ein Schock für Sie ist. Vielleicht kann Frau ... Ihre Nachbarin Sie begleiten? Dann sind Sie nicht alleine."
Es ging hin und her, aber Sarnai änderte ihre Meinung nicht. Sie wollte hierbleiben und nicht nach Shouta sehen. Und hätte Bruna nicht gefragt, hätten sie nicht einmal erfahren, in welches Krankenhaus Shouta gebracht worden war.
Dann gingen die Bullen, Sarnai und sie blieben zurück. Bruna musterte sie. Sarnai war winzig, schmal und leichenblass und sah verloren aus in ihrem viel zu großen Shirt. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
„Was willst du denn noch? Es ist alles geklärt."
Bruna rang nach Worten.
„Du bist so erbärmlich", sagte sie endlich. Sarnai antwortete nicht, sondern knallte die Tür zu. Es hallte im leeren Flur.
„Puta!"*
Bruna stand noch eine Weile vor der Tür der Batbayars. So lange, bis die Stimme ihres Sohns erklang. Leise und unsicher, wie er als kleines Kind geklungen hatte, wenn er einen Albtraum gehabt hatte und bei ihr schlafen wollte. Aber in dieser Nacht war es kein Albtraum.
„Mamãe?", fragte Vítor. „Was ist mit Shouta?"
*Portugiesisch für Schlampe/Bitch/Hure
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