Halloween 2003
Feline war die Erste. Sie betrat durch das Loch im Zaun das Gelände der verlassenen JVA.
„Worauf wartet ihr?", fragte sie und lachte in der Dunkelheit. „Habt ihr Schiss?"
Shouta schlüpfte ebenfalls hindurch.
„Es war meine Idee, dass wir herkommen."
Er schaltete die Taschenlampe an und ließ den Lichtkegel über den gepflasterten Hof wandern. Leer, bis auf Müll, Container, kaputte Sitzbänke und Unkraut. Ein Weg führte am verfallenen Hauptgebäude vorbei. Da ging es zum Sportplatz. Shouta hatte sich den Lageplan eingeprägt.
„Und meine, dass wir es heute machen", warf Liridon ein, der neben ihn trat und ebenfalls die Taschenlampe einschaltete.
Das war eine von Liridons besseren Ideen gewesen, wenn nicht sogar die beste. An Halloween war es spannender als an jedem anderen Datum. Außerdem viel cooler, als Süßes oder Saures zu spielen oder auf Zacharias' und Marias lahme Feier zu gehen. Nicht, dass die Zwillinge sie je einladen würden.
„Riesengelände", murmelte Vítor, der sich nun zu ihnen gesellte. Er hatte die Hände in der Hoodietasche vergraben. Shouta konnte sein Gesicht nicht sehen, aber er kannte Vítor gut genug, um zu wissen, dass er nervös war.
„Das ist doch das Beste!" Shouta stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. „Viel zum Erkunden."
„Wird's heut noch?", fragte Liridon laut und leuchtete Kevin und Idriss an. Sie wanden sich durch das Loch im Zaun, aber ihre Gesichter waren ernst.
„Kommen ja schon", sagte Idriss. Er nuschelte, wie immer, wenn er aufgeregt war.
„Feiglinge", kommentierte Feline und lief los, ohne zu warten. Sie folgten ihr.
„Wisst ihr eigentlich, warum sie den Knast hier geschlossen haben?", fragte Shouta in die Runde.
„Platzmangel?" Feline klang sarkastisch.
„Das wollen sie allen weismachen, ja. Aber das ist nicht der wahre Grund." Er legte eine bedeutungsschwangere Pause ein.
„Wieso denn dann?", wollte Kevin wissen.
„Weil es hier spukt ... "
Idriss stöhnte leise und Feline zischte: „Bullshit!"
„Nein, ich sag dir, das stimmt! Dieses Gefängnis wurde irgendwann im neunzehnten Jahrhundert gebaut und damals war alles noch viel brutaler. Weißt du, keiner hat sich gewaschen, Mord und Totschlag und so. Hier sind echt dauernd Insassen gestorben."
„Oh, du redest echt nur Scheiße, Shouta!"
„Ist die reine Wahrheit. Vor hundertfünfzig Jahren hat doch keiner nachgefragt, wieso da irgendein Verbrecher tot im Hof liegt. Wurde einfach untern Teppich gekehrt."
„Lass mich raten: Ihre Geister spuken jetzt hier und sinnen auf Rache?"
„Nicht alle und nicht immer", antwortete Shouta betont geheimnisvoll. Er wartete darauf, dass jemand nachfragte, was er meinte, aber alle schwiegen. Also sprach er weiter: „Vor fünfzig Jahren wurde die Heimsuchung besonders schlimm. Manche sagen, es waren die Geister der Gefangenen, manche sagen, es war etwas viel Schlimmeres: Die Bösartigkeit dieses Ortes selbst."
„Jetzt mach es nicht so spannend. Was ist passiert?" Vítor hatte nun auch seine Taschenlampe gezogen und leuchtete damit das Hauptgebäude ab. Das Dach war eingestürzt, alle Scheiben eingeschlagen.
„Also, da gab es diesen Wärter. Und er war echt furchtbar. Er soll die Insassen gefoltert haben, hat sie in fensterlose Zellen gesperrt und so. Und eines Nachts, auf den Tag genau vor fünfzig Jahren, beschlossen die Gefangenen, sich zu rächen."
„Und wie?", fragte Kevin atemlos.
„Sie lockten ihn auf den Hof, genau da vorne hin. Sie überwältigten ihn, fesselten ihn und schlugen ihn tot, und dann hängten sie die Leiche an einem Baum auf."
„Hier ist kein Baum", kommentierte Feline.
„Damals stand da aber einer! Es ist fünfzig Jahre her, kannst du nicht zuhören?"
Feline antwortete nicht, aber Shouta war sicher, dass sie die Augen verdrehte.
Er wandte sich zu den anderen um und lief rückwärts, während er fortfuhr: „Die Gefangenen schlossen einen Pakt, niemals darüber zu sprechen. Sie hielten dicht, und niemand hat je erfahren, wer den Wärter umgebracht hat. Dass seine Mörder straflos davonkamen, machte den Geist des Wärters wütend."
Er leuchtete die anderen an. Idriss interessierte sich plötzlich sehr für den Reißverschluss seiner Jacke und Vítor für das alte Gebäude. Feline presste die Lippen aufeinander und Kevin starrte ihn an, als wäre er selbst der Geist. Gut, fand Shouta. Fehlte nicht mehr viel, und sie würden sich vor Angst einscheißen.
„Dreizehn Gefangene hatten den Pakt geschlossen. Und der Geist des Wärters holte sie, einen nach dem anderen. Zwölf starben grausame Tode: Einer fiel die Treppe herunter und brach sich das Genick, einer erhängte sich in seiner Zelle, einer verdurstete in Einzelhaft, und so weiter."
„Und der Dreizehnte?", fragte Idriss atemlos.
„Der wurde entlassen und führte ein langes, glückliches Leben. Ihn fand der Geist nicht. Und das hat diesen Ort vollständig verflucht."
„Wieso? Ey, wartet auf mich!", rief Kevin. Sie gingen langsamer, damit er Schritt halten konnte.
„Nun, er konnte sich nicht an jedem seiner Mörder rächen, nicht wahr? Deswegen ist der Geist ruhelos. Seit der Dreizehnte entlassen wurde, wurden immer wieder Insassen tot aufgefunden, irgendwann auch Wärter und dann sogar Besucher! Alle, die dem Geist verdächtig vorkamen, sagt man."
„Und wann kommt man ihm verdächtig vor?", fragte Idriss leise und undeutlich.
„Wenn man verbotene Dinge tut. Besonders heute, an seinem Todestag, denn an Halloween sind die Geister noch stärker als sonst."
Shouta wollte weiter erzählen, doch Vítor unterbrach ihn: „Äh, wo ist eigentlich Liridon?"
Sie standen zu fünft auf dem stillen, dunklen Hof. Der Sechste fehlte.
„Er war gerade noch direkt neben mir", sagte Feline.
„Vielleicht hat der Geist ihn schon geholt", meinte Shouta.
„Boah, sag sowas nicht, Mann!" Vítor wollte vermutlich wütend klingen, aber er klang besorgt. Kevin leuchtete über den Gefängnishof.
„Komm raus!", rief Feline. „Das ist voll bescheuert von dir!"
Ihre Stimme hallte im Hof und verklang. Nichts regte sich. Die Gruppe blieb neben einer Reihe alter Müllcontainer bei der Hauswand stehen.
„Und jetzt? Was machen wir jetzt?", fragte Kevin. Er trat von einem Bein auf das andere, wobei seine Schuhe blinkten. Hell und irgendwie hypnotisch. Shouta zuckte die Schultern.
„Wir gehen weiter, würde ich sagen. Der kommt schon nach."
„Und wenn nicht?", fragte Idriss aufgeregt.
„Dann hat ihn der Geist erwischt und wir können ihm auch nicht mehr helfen", antwortete Shouta. Es gefiel ihm, wie ängstlich die anderen wegen seiner Geschichte waren. Dabei hatte er sich all das gerade eben ausgedacht.
„Shouta hat recht, der versteckt sich be-"
Weiter kam Vítor nicht.
Ein Schatten schoss hinter den Müllcontainern hervor und brüllte. Jemand kreischte, das Geräusch eines Schlags, irgendwer stolperte und fiel, Kevins Schuhe blinkten aufgeregt in der Dunkelheit und Vítor griff nach Shoutas Hand.
„Du dummes Arschloch! Wichser!", rief Feline. „Du bist so scheiße!"
Liridon lachte. Glaubte Shouta zumindest. Denn Vítors Hand war warm und er hielt sie noch immer. Shoutas Herz pochte, aber nicht wegen des Schrecks. Es lag an Vítor und seiner Hand. Blitze jagten durch seinen Körper.
„Du hättest dich schreien hören müssen!", rief Liridon.
„Ich habe nicht geschrien", zischte Feline. „Willst du noch eins aufs Maul?"
Liridon lachte noch mehr, während er sich aufrappelte. Jetzt lachte auch Kevin.
„Und wer hat dann geschrien? Hm?"
Idriss gab einen seltsamen Laut von sich.
„Das warst du?"
Er sagte etwas Unverständliches. Liridon und Kevin machten sich über ihn lustig.
Shouta hörte sie kaum, denn Vítor ließ seine Hand wieder los und plötzlich fühlte sie sich leer und kalt an. Sein Gesicht glühte.
„Alles okay?", fragte Vítor leise.
„Ich äh, schon gut."
„Hast du dich erschrocken?"
„Es ist ... äh ... nichts. Alles okay. Echt." Er zwang sich zu einem Grinsen, auch wenn Vítor das nicht sehen konnte.
„Okay", sagte Vítor. „Okay, also ... gut. Ich ... also, ich wollte nur sichergehen."
„Und du?", fragte Shouta. „Ich meine, hast du dich erschrocken?"
„Vielleicht ein bisschen."
„Ich sag's keinem." Shouta gab ihm einen leichten Schubser. Vítor lachte auf.
„Wie nett von dir."
„Boah, hört auf, euch anzuschwuchteln! Kommt endlich mal ran!", rief Liridon. Shouta zuckte zusammen. Die anderen waren bereits ein Stück vorgegangen.
„Halt's Maul!", rief Vítor zurück, bevor Shouta seine Stimme wiederfand.
Es dauerte nicht lange, bis sie einen Eingang fanden. Die Tür, die zur Küche führte, war aus den Angeln gehoben worden und lag quer im Rahmen.
Vítor kroch durch den Spalt darunter hinein und schob die Tür gemeinsam mit Shouta beiseite, sodass die anderen eintreten konnten.
„Fast als wollte der Geist, dass wir reinkommen", scherzte Shouta. „Vielleicht hat er nach fünfzig Jahren ohne Opfer wieder Lust auf einen Mord."
Damit wandte er sich ab und schlenderte in die Küche. Kahle metallene Arbeitsfläche, leere Spülen, hier und da alte Töpfe. Feline war mutig genug, in einen hineinzublicken.
„Leer", kommentierte sie.
Liridon riss die Schubladen auf, es schepperte und krachte, während er suchte. „Scheiße Mann, keine Messer!"
„Was dachtest du denn?", fragte Feline. „Kann man ja schlecht einfach so rumliegen lassen im Knast. Die stechen sich sonst ab."
„Hm", machte Liridon, weil sie recht hatte und er das nicht mochte. „Aber irgendwo müssen doch welche sein, oder?"
„Keine Ahnung, sind bestimmt mitgenommen worden."
„Dann lass mal danach suchen! Driss, komm mit!"
Idriss stöhnte, aber da er nun auch in der Küche stand, hatte er keine Ausrede, sich nicht weiter umzusehen.
Shouta hörte nur mit einem Ohr zu, wie Liridon und Idriss weiter die Schubladen durchwühlten, während er zielstrebig auf eine hohe Schwingtür zuging. Er stieß sie auf und trat hindurch in einen großen, leeren Saal.
„Warte!" Vítor folgte ihm, bevor die Türen sich schließen konnten. „Wir sollten uns nicht aus den Augen verlieren. So fangen Horrorfilme an."
„Mir passiert schon nichts", sagte Shouta.
„Sind ja auch nicht die Asiaten, die als erstes sterben." Vítor zuckte zusammen, als die Türen hinter ihm knarzend zuschwangen.
„In asiatischen Filmen schon."
„Worüber redet ihr?" Feline und Kevin hatten zu ihnen aufgeschlossen.
„Nichts", brummte Vítor. „Wo bleiben Liridon und Idriss?"
Nachdem sich auch die beiden – ohne Messer – zu ihnen gesellt hatten, konnten sie endlich zum spannenderen Teil des Abends übergehen.
„Kommt, ich will die Zellen sehen", sagte Shouta. „Vielleicht finden wir ja die, in denen der Geist seine Mörder gerichtet hat."
„Vielleicht ist ja noch irgendwo Blut!", warf Liridon ein.
„Sag das nicht." Idriss blickte sich unsicher um und ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe durch den Saal wandern. Vermutlich die Kantine. Sie war leer, bis auf einen einsamen Stuhl an den eingeschlagenen Fenstern.
Ihre Schritte hallten, während sie den Saal durchquerten. Kaum hatten sie den Ausgang erreicht, blieb Liridon wie versteinert stehen.
„Habt ihr das gehört?", flüsterte er.
„Was?", fragte Kevin.
„Klang, als ob jemand heult."
Shouta hatte nichts gehört und war sich sicher, dass auch Liridon nichts gehört hatte. Deswegen ging er darauf ein: „Angeblich hört man hier drin die Toten. Manche sagen, es sei der Wärter, manche sagen, es seien seine Opfer. Und andere ... "
„Was, andere?" Idriss' Taschenlampe blendete Shouta, er hielt sich die Hand vor die Augen.
„Andere sagen, es sei das Böse, das an diesem Ort haust."
Feline schnaubte. „Lasst euch was Besseres einfallen, wenn ihr mir Angst machen wollt!"
Sie kickte die Tür auf und ging blindlings hindurch.
„I-ich hab auch keine Angst!", sagte Kevin, aber rührte sich nicht.
„Dann geh vor", erwiderte Liridon.
Kevin, der jetzt keine andere Wahl mehr hatte, trat auf der Stelle. Seine Schuhe blinkten. Dann stolperte er Feline hinterher.
Der Gang war ebenfalls so gut wie leer. Hier und da abgefallener Putz, alte Stühle und ansonsten nichts. Nicht mal Schlafsäcke oder Müll, die auf Obdachlose hinwiesen. Alles ziemlich langweilig – bis auf den Wind, der ums Gebäude heulte. Das war wie das Hotel in Shining. Ein Schauer jagte über Shoutas Rücken und noch mehr als zuvor wollte er alles erkunden.
Sie bogen um eine Ecke und standen in einem Treppenhaus, das seine besten Tage schon lange hinter sich hatte. Ein Teil der Treppe war eingebrochen, das Geländer verrostet und zerfallen.
„Wir müssen da rauf", sagte Shouta, „der einzige andere Weg ist von außen über die Feuerleiter."
„Nicht dein scheiß Ernst", sagte Vítor.
„Doch."
„Großartig. Dann halt mal die Taschenlampe, ich helfe euch hoch." Er griff die unterste Stufe und zog sich mit einem mühelosen Schwung hoch. Es knirschte, Staub rieselte, aber die Treppe hielt.
„Ich brauch' keine Hilfe", sagte Feline, nahm Anlauf und saß schon neben ihm.
Shouta gab Vítor die Taschenlampe zurück. Er war ein gutes Stück kleiner als die beiden und Idriss. Vítor half ihm hoch, auch wenn er es sicher alleine geschafft hätte. Shouta wurde plötzlich sehr warm. Sie saßen nebeneinander, ihre Schultern berührten sich. Wieder war er dankbar, dass es hier drin so dunkel war.
„Platz da!"
Liridon kämpfte sich nach oben und riss Shouta aus seinen Gedanken.
„Sollen wir wieder auf euch warten?", fragte er großspurig Idriss und Kevin, die noch unten standen. Idriss, dessen gequälten Gesichtsausdruck Shouta nun im Licht der Taschenlampe sehen konnte, sparte sich die Antwort und kletterte ebenfalls nach oben.
Kevin war der letzte und als Idriss und Vítor ihn hochzogen, begann er zu zappeln.
„Behindert, oder was? Ich kann das alleine!" Aber er war schon oben und warf den beiden finstere Blicke zu. „Ihr Spastis!"
„Sorry, Mann", sagte Vítor. Idriss hob die Hände.
„Los, weiter, wir sind gleich da", beendete Shouta den Streit, bevor er beginnen konnte.
Im Gefangenentrakt gab es mehr zu sehen. Einige Türen standen weit auf, einige fehlten und andere waren abgeschlossen. Alte Stühle, alte Tische, alte Bettgestelle. Das brachte Shouta auf eine Idee ...
„Die JVA wurde in Panik und quasi über Nacht verlassen. Vielleicht findet sich hier noch cooles Zeug von den Insassen. Cool oder verflucht, meine ich."
Liridon trat in die erstbeste Zelle. „Dann suchen wir ein paar Trophäen."
„Sicher, dass das ok ist?", fragte Idriss und folgte ihm zögerlich.
„Stell dich nicht so an, wenn's denen wichtig gewesen wäre, hätten sie das Zeug doch mitgenommen!"
Die leeren Zellen waren eng, die möblierten noch enger. Kein Wunder, dass sein Vater jedes Mal wütender zurückkam, dachte Shouta. Es musste furchtbar sein, immer nur in so einem winzigen Raum zu leben. Anderseits, wenn es so furchtbar war, wieso prügelte man sich weiter? Es war doch ganz einfach, nicht im Knast zu landen, wenn man ...
Shouta schob die Gedanken beiseite. Er war nicht hier, um über seinen Vater nachzudenken.
In einer Zelle trafen sie auf Ratten. Vítor hasste Ratten, und schon wieder kam er Shouta vor Schreck ganz nahe. Dieses Mal hielt er nicht seine Hand, was enttäuschend war.
Liridon schlich sich einige Male an Idriss heran und erschreckte ihn. Easy, denn das Hallen in den Gängen machte es ihm selbst mit den Geräten schwer, irgendetwas zu hören. Idriss schrie jedes Mal.
Er tat Shouta beinahe leid, aber nur beinahe und nicht genug, um etwas dagegen zu unternehmen. Es war spannender – und lustiger – sich gemeinsam mit Vítor alte Zeitschriften anzusehen. Sie zerfielen beim Öffnen zu Staub und Schnipseln und waren an sich uninteressant, aber es war cool, zu sehen, was Verbrecher lasen. Einer war anscheinend leidenschaftlicher Koch gewesen, denn in einer Zelle fanden sie fast ausschließlich Gourmet-Magazine und Kochbücher.
Irgendwann fanden sie sich wieder auf dem Gang ein.
Feline hatte einen Arm um sich geschlungen, in der anderen Hand hielt sie ihre Taschenlampe. Als Shouta sie anleuchtete, fand er, dass sie blasser aussah als sonst, aber das konnte auch am Licht liegen. Kevins Schuhe blinkten, während er sich um sich selbst drehte und in den leeren Gang starrte. Auch er wirkte nervös, die Schuhe verrieten ihn. Vítor stand dicht neben Shouta. Eigentlich hatte er sich die ganze Zeit nicht weit von ihm entfernt, wenn Shouta darüber nachdachte.
Ebenso war Idriss immer bei Liridon geblieben, Erschrecken hin oder her. Ohne Liridon unterwegs zu sein, war für ihn offenbar die schlimmere Option.
„Was gefunden?", fragte Shouta in die Runde.
Feline hob etwas hoch, was Shouta zunächst in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Es klickte und eine Flamme erschien.
„Das ist so ein Zippo-Teil", sagte sie.
„Darf man so was im Knast überhaupt haben?", fragte Vítor. Shouta sah sich das Feuerzeug genauer an. Es war schwarz angelaufen und ein Totenkopf war darin eingraviert.
„Nee, zumindest nicht solche", antwortete er. Einwegfeuerzeuge waren erlaubt, solange sie nicht von BIC waren, aber Shouta war nicht sicher, ob sie in die Zellen mitgenommen werden durften. Schließlich konnte man damit den Knast anzünden. Nun, man würde dabei wahrscheinlich in der eigenen Zelle verbrennen, aber das wollten sicher auch einige.
„Scheiße, habt ihr das auch gehört?" Das war Liridon.
„Was?", fragte Idriss. Seine Stimme brach.
„Scheiße Mann, keine Ahnung, was das war. So 'ne Art Stöhnen?"
Shouta wusste, dass Liridon log, denn er hatte die Geschichte über den Geist erfunden. Es war einfach, keine Angst zu haben, wenn man den Horror selbst kreierte.
Die anderen wussten es aber nicht und Shouta spürte, wie sich die Stimmung änderte.
Feline atmete tief durch, beinahe ein Ächzen. Vítor richtete sich auf und straffte die Schultern, und Kevin leuchtete mit zitternder Hand den Gang in beide Richtungen ab.
„Seid still", befahl Shouta, der es sich nicht verkneifen konnte.
Sie gehorchten tatsächlich. Nichts, bis auf dem Wind.
„Das war nur der Wind", sagte Vítor.
„Scheißdreck, ich weiß doch, wie sich das anhört", erwiderte Liridon.
„Oder doch die Toten, hab' ich ja schon gesagt", warf Shouta ein. Vítor gab ihn dafür einen Stoß mit dem Ellenbogen.
„Da, da war es schon wieder!"
Dieses Mal war tatsächlich was zu hören. Der Wind, dachte Shouta. Aber es klang ein bisschen gruselig, das musste er zugeben.
„Ich hab' nichts gehört", sagte Idriss. „Du lügst doch."
„Liegt bestimmt an deinen Hörgeräten", sagte Liridon.
„Das ist nicht lustig."
„Ist es auch nicht. Wäre schon besser, wenn du den Geist kommen hörst. Sonst kriegt er dich noch."
„Sag das nicht."
Liridon lachte.
„Was? Ich mache mir nur Sorgen um dich, Mann. So viele dunkle Ecken hier, da sieht man den Geist ja auch nicht."
„Falls man ihn überhaupt sehen kann!", ergänzte Shouta.
„Das ist nicht lustig." Idriss' Stimme klang verzerrt, wie so oft, wenn er sich aufregte.
„Vielleicht hat er dich ja schon ausgesucht."
„Halt's Maul, Shouta!"
Idriss klang, als würde er sich gleich vor Angst übergeben, und Vítor gab Shouta noch einen Stoß. Er verstand und hielt den Mund.
„Driss, wenn du so 'ne Pussy bist, kannst du auch meine Hand halten, ok? Aber mach nix Schwules."
Und bevor Idriss reagieren konnte, schnappte sich Liridon seine Hand.
„Wir wollten uns doch noch mehr angucken, oder? Jetzt kommt schon." Damit marschierte er an ihnen vorbei und zog Idriss hinter sich her.
Die anderen vier blieben schweigend zurück.
„Homos", sagte Vítor.
Nach der Küche, der Kantine und dem Gefangenentrakt versuchten sie es mit dem Dachboden, aber die Luke war abgeschlossen und ließ sich nicht öffnen. Danach durchforsteten sie, was vielleicht einmal ein Büro gewesen war, aber der Raum war leer bis auf die Möbel. Keine Papiere, keine Handschellen, nichts. Blieb nur noch -
„Der Keller", sagte Shouta.
Sie stiegen vorsichtig die brüchigen, unebenen Stufen herunter. Hier unten war es feucht, und noch dunkler als im Gefangenentrakt. Die Luft schmeckte schimmlig und abgestanden.
Der Raum, in dem sie gelandet waren, hatte fünf Türen, aber nur zwei davon ließen sich öffnen.
„Da lang", sagte Shouta und öffnete die eine. Vítor trat hindurch, Feline und Kevin folgten ihm.
„Nee, lass mal. Wir gehen da lang", erwiderte Liridon und deutete auf die andere.
„Ihr wollt euch von der Gruppe trennen?", fragte Feline.
„Hab ich gefragt, ob du mitkommst?", gab Liridon zurück. „Ich geh, wohin ich will."
„Schön, dann lass dich mal umbringen, du Idiot", sagte Feline und wandte sich ab. Shouta wartete noch einen Moment, ob Liridon ihm folgte, aber der machte keine Anstalten.
„Gut, wie ihr meint. Wir treffen uns in einer Viertelstunde hier", sagte er achselzuckend und schloss die Tür hinter sich.
Liridon ließ Idriss' Hand los und öffnete die zweite Tür.
„Komm", sagte er. Idriss blieb da stehen, wo er war, und leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht.
„Nein. Du erschreckst mich bloß wieder."
„Was, bist du beleidigt?"
„Du bist ein Arschloch. Ich geh mit den anderen."
„Driss, es war ein Scherz, ok? Verstehst du keinen Spaß?"
Liridon zog an seiner Hand, aber er bewegte sich nicht von der Stelle.
„Versprich", sagte er gedehnt, wobei er das Ende des Wortes verschluckte. Wenn er wieder vergaß, wie man redete, war er richtig pissig, wusste Liridon. „Dass du's nicht wieder machst."
„Ja, ja. Kommst du jetzt?"
„Versprich."
Liridon trat ihm vors Schienbein und erwiderte: „Ja-a, ich verspreche! Komm jetzt!"
Sie traten durch die Tür in den niedrigen Gang dahinter. Idriss nahm wieder seine Hand und leuchtete den Weg aus. Nackter unebener Erdboden, nackte wasserfleckige Ziegelwände. Liridon leuchtete an die Decke und bereute es sofort.
„Bah, hier gibt's Spinnen!", rief er. „Junge, guck dir das an, wie viele! Und was für fette Dinger!"
Er machte ein würgendes Geräusch. Idriss reagierte nicht. Er leuchtete weiter geradeaus in den Flur, sein Blick starr.
„Quetsch nicht so meine Hand, was-"
„Da ist was", flüsterte Idriss. „Da hat sich was bewegt."
„Ha-ha, echt lustig!", ätzte Liridon. „Ich scheiß mich aber nicht so leicht ein wie du."
„Nein, ehrlich. Ich schwöre bei Gott. Da ist was."
Er flüsterte immer noch. Und er schwor sonst nie. Liridon wurde doch ein bisschen komisch.
„Wo?"
„Da hinten."
„Ok, ich guck nach!"
Er versuchte, sich loszumachen, aber Idriss hielt ihn fest.
„Was willst du? Bist du dumm?"
„Ich gucke, sag ich doch."
„Mann, es ist der scheiß Geist, wir gehen!"
„Du kannst doch hier warten, ich komm gleich wieder."
„Nein, wir gehen, wir-"
Da polterte weiter den Gang hinab etwas zu Boden. Sie schrien auf, diesmal beide, und rannten davon. Der Lichtkegel hüpfte über die Wände. Idriss' Hand in seiner. Als Liridon sich vom ersten Schreck erholt hatte, lachte er.
Sie erreichten wieder den Raum, von dem aus die Treppe nach oben führte, und schlugen die Tür hinter sich zu. Idriss stemmte sich dagegen.
„Wo sind die anderen?", fragte er. Liridon konnte ihn kaum verstehen.
„Naja, im anderen Flur, die kommen schon. Entspann dich, das war 'ne Ratte oder so."
„War's nicht", erwiderte Idriss, „ich hab's doch gesehen, es war der scheiß Wärtergeist und er, er kommt mich holen, und -!"
Liridon hielt ihm den Mund zu.
„Hör auf mit dem Scheiß jetzt. Das war kein Geist, klar? Geister gibt's nicht, und Shouta hat diese dumme Geschichte eh erfunden!"
Idriss nickte langsam. Liridon spürte die Bewegung, und dass sein Gesicht heiß war.
„Ok? Nur ausgedachte Kinderkacke."
„Mmh."
Er nahm die Hand wieder von seinem Mund und sie standen einige unangenehme schweigende Minuten herum, bis die anderen zurückkamen. Keine neuen Schätze, nur das olle Zippo. Zeit, zu gehen.
Während sie die Treppe hochgingen, blickte Liridon zurück und leuchtete. Jene Türe hatte sich geräuschlos hinter ihnen geöffnet und stand sperrangelweit auf. Er wandte das Gesicht ab und nahm Idriss wieder bei der Hand.
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Vielen Dank an @Pfaffenhut für den Liridon und Idriss-Abschnitt. Und natürlich auch für's Beta lesen! :)
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