76. Raven Cooper
Ich steige von dem schwarzen Motorrad ab und stülpe mir den engen Helm vom Kopf. Sofort werden meine plattgedrückten Haaren von dem, inzwischen ziemlich wilden, Wind erfasst und unvorhersehbar um mein Gesicht geweht. Ich bleibe bewegungslos stehen und genieße für wenige Sekunden den kalten Wind. Er bringt mich leicht zum Erzittern, was mir beweist, dass meine Werwolfkräfte aller Hand damit zu tun haben, meine Körpertemperatur hoch zu halten und gleichzeitig die Schusswunde an meiner Hüfte zu heilen.
Ich fühle mich alles andere als bereit zum Kämpfen.
Trotzdem atme ich tief durch und setze mich selbstbewusst in Bewegung. Meine Hände gleiten überprüfend erst zu der Pistole in meinem hinteren Hosenbund - Check - und dann zu dem Waffenholster an meinem Oberschenkel - Check. Somit habe ich die Sicherheit, dass ich zu mindestens waffentechnisch bereit bin. Zur selben Zeit höre ich erneut, wie mein Handy leise vor sich hin klingelt, ignoriere es jedoch.
Denn in dieser Sekunde kann es nur Matty sein, der - zum inzwischen hundertsten Mal - versucht mich erneut an den Hörer zu bekommen um darüber zu reden. Doch dafür ist es jetzt leider schon zu spät. Ich habe mich bereits entschieden. Auch wenn ich mir noch nicht wirklich sicher bin für was. Aber eins ist sicher: so oder so werde ich heute meine Seele verkaufen.
Meine Schritte scheinen langsamer zu werden. Mein Gehörsinn verschärft mich automatisch, wodurch ich ohrenbetäubend laut hören kann, wie meine Füße abwechselnd auf dem Boden auftreten und sich elegant abrollen, bevor sie sich wieder heben. Ich höre ein leise Klirren, dessen Ursprung ich nicht sofort ausmachen kann, und mein laut pochendes Herz, dass sich nach wenigen Sekunden mit meinen tiefen Atemzügen vermischt. Der Wind weht mir um die Ohren und für wenige Sekunden bin ich mir sicher, das alles in Zeitlupe abläuft.
Meine Schritte. Meine Atmung. Mein Herzschlag. Meine, ins Gesicht wehenden, Haare. Meine Gedanken.
Ich versuche mir ins Gedächtnis zu rufen, was mich ausmacht. Warum ich normalerweise ohne Angst, ohne ernsthafte Bedenken, in ein Gefecht laufe und was in dieser Sekunde falsch läuft. Jedoch können sich meine Gedankengänge nicht fokussieren und mein Blick richtet sich verbissen auf das verfallene Gebäude vor mir.
Es hat sich äußerlich in keiner Weise verändert, seitdem ich das letzte Mal hier war. Ebenfalls auf Befehl meines Vaters hin. Die Glastüren sind noch immer mit einem braunen Papier ausgeklebt, das schon so alt zu sein scheint, dass es überall von Einrissen und Dreckflecken geziert ist. Somit kann man auch problemlos das goldene Logo und den darunter stehenden Namen der Bank lesen, der wie eine kleine Erinnerung auf das Glas gedruckt ist. Die Steinbalken neben der Türe stehen noch immer stabil und tragen das kleine Vordach. Zum ersten Mal fallen mir die, in die Balken eingemeißelten, Symbole und Figuren auf. Sie scheinen älter zu sein als die Bank selbst und trotzdem kann ich an keiner Stelle einen Schaden erkennen.
Die kleine Treppe zur Eingangstüre herauf ist mir Staub und Dreck versehen. Verwelkte, triefend nasse Blätter säumen die einzelnen Stufen und langsam werfe ich einen kurzen Blick durch meine trostlose Umgebung. Sie bestätigt meine Vermutung, dass hier der bevorstehende Winter deutlicher spürbar ist, als in der zentralen Innenstadt von Beacon Hills.
Ich atme tief durch und steige mir zögerlichen Schritten die Treppenstufen hinauf.
Mein Handy hat in der Zwischenzeit schon für eine längere Zeit aufgehört zu klingeln und ich vermute, das Matty es aufgegeben hat. Er wird nicht länger seine Zeit damit verschwenden eine Nummer zu wählen, mit dem Wissen, dass niemand Antworten wird. Stattdessen ist er wahrscheinlich bereits auf den Weg hier her. Jedoch wird er nicht schnell genug sein. Darauf vertraue ich.
Ich atme tief durch und schließe für wenige Sekunden meine Augen. Ich spüre ein unangenehmes Zögern in meiner Magengrube, die nicht von den dumpfen Schmerzen der Schusswunde zeugt. Es ist eine, mir zutiefst unbekannte, Unsicherheit, eine Angst, die meine Glieder fast schon zu lähmen scheint. Ich versuche meine Gedanken auf den bevorstehenden Kampf zu legen, ein spielerisches Lächeln aufzusetzen und mit viel Kawom die doppelseitige Eingangstür aufzustoßen. Jedoch kehrt meine Aufmerksamkeit automatisch immer zu derselben Person zurück und zu unserem letzten Gespräch.
„Das hier ist mein Krieg, Matty, also mache es nicht zu deinem!"
Ich atme tief durch und hoffe, dass die Worte in meinem Kopf sich nicht annähernd so schlimm laut ausgesprochen angehört haben. Auch wenn ich weiß, das dies der traurige Fall ist. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und richte meinen Blick für wenige Sekunden in den Himmel, bevor ich meine Augen schließe und entnervt seufze. Ich habe keine Ahnung was ich tun soll und zum ersten Mal, seit dem ich von McCalls Haus aufgebrochen bin, frage ich mich, ob es nicht doch besser wäre Crowley nicht als Feindin gegenüber zu treten.
In dieser Sekunde fühle ich mich wie gefangen und zwar in einem dieser kitschig clichehaften Dramen, indem eine Person auf dramatische Weise stirbt und die letzten Worte zu ihr von der Hauptperson "Ich hasse dich" waren. Nur mit dem Unterschied, dass Matty noch am Leben ist. Genau wie ich und vielleicht sollte das auch so bleiben. Doch würde ich es überleben können?
Ich hätte keine Chance, wenn ich jetzt da rein gehen und einen Kampf starten würde und das nicht nur wegen der, noch heilenden, Wunde an meiner Hüfte. Gegen Crowley, seine Leute und seine neuen Phantome, Ryan und Rose, hätte ich noch nicht mal in bester Form eine Chance. Eine Tatsache, die mich noch vor wenigen Tagen in keiner Weise besorgt hätte. Noch letzte Woche hätte ich breit lächelnd die Bank betreten und hätte mich Hals über Kopf in das Gefecht gestürzt, ohne auch nur ans Scheitern zu denken.
Wenn ich sterbe, dann nur filmreich in einem Hurrikan voller Pistolenschüsse - das war mein Motto und um ehrlich zu sein, war es mir damals auch recht egal, wann ich darauf gehe. Hauptsache möglichst filmreich. Doch was hat sich seit dem geändert?
Ich erinnere mich daran zurück, wie Mason mir vor unserem ersten gemeinsamen Kampf - ebenfalls gegen meinen Vater, die Frage gestellt hat, ob und warum ich keine Angst vor dem Kampf habe. Denn schon damals stand der Tod mehr oder weniger direkt vor meiner Tür. Ich erinnere mich daran, mich selbst zu ihm umzudrehen und mit einer spöttischen Stimme zu sagen, dass ich einen Scheiß auf meinen bevorstehenden Tod gebe und eben genau deshalb die ganze Macht habe. Ich erinnere mich daran, ihm zu erklären, das Angst lähmend ist und dass du sie, sobald sie dich einmal ergriffen hat, nur schwer wieder los wirst.
Ohne Angst ist alles so viel leichter.
Und trotzdem stehe ich jetzt hier. Mit einem drückenden Gefühl in meiner Brust, das mir das Atmen schwer macht. Mit einem wild pochenden Herzen, das genug Adrenalin durch meinen Körper pumpt, dass ich nicht ruhig stehen kann - und trotzdem kann ich mich nicht von der Stelle bewegen. Ich bin wie paralysiert und ich werde mir bewusst, dass der einzige Weg aus dieser Paralyse die Entscheidung ist.
Die Entscheidung, mich für oder gehen Crowley zu entscheiden. Für oder gegen meinen Tod.
Ich atme tief durch und richte meinen Blick zurück auf die dreckigen Glastüren, die mir keinen Einblick in die Bank gewähren. Meine Hände ballen sich zu Fäusten, während ich den aufsteigenden Klos in meinem Hals herunterschlucke. Mein Handy hat nicht mehr geklingelt. Matty hat also wirklich aufgehört es versuchen. Ich bin mir sicher, dass er - und in der Zwischenzeit bestimmt auch Lewis - auf dem Weg nach Beacon Hill ist. Mehr als 23 Stunden Fahrzeit und selbst wenn die beiden den erstbesten Flieger bekommen würden, wären sie nicht vor der großen Show hier.
Doch was wäre, wenn ich gegen meinen Vater verliere. Wenn ich hier und jetzt draufgehe. Was würde aus Matty werden. Würde er damit leben können, dass unser letztes Gespräch ein Streit war?
Könnte ich damit sterben?
Doch was wäre, wenn ich mich Crowley anschließen würde? Wenn ich wie gewünscht seine treue Anhängerin werde und auf Lebenszeit bei ihm sein müsste. Würde ich das überleben?
Würde ich das überleben wollen?
Ich atme ein letztes Mal tief durch und setze mich in Bewegung. Ich verdränge alle aufsteigende Zweifel und stoße stattdessen selbstbewusst die Eingangstüre auf. Ich betrete die Bank und treffe meine Entscheidung.
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Noch sechs weitere Kapitel bis zum Ende meines Buches 🙊 schreibt doch mal in die Kommentare wie eurer Traumende aussehen soll und wer in den finalen Kapiteln auf keinen Fall fehlen sollte ❤
Lg CoolerBenutzername
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