60. Bathtube #Take1
Nach Luft schnappend richte ich mich in der metallischen Badewanne auf. Wasser, gemischt mit einzelnen Eisstücken, schwappt über den silbernen Rand hinweg. Meine offenen Haare fliegen mir in nassen Strähnen um das Gesicht. Meine rechte Hand wandert panisch zu meiner Kehle. Ich schnappe hektisch nach Luft und habe das Gefühl, meinen eigenen Körper vom Ersticken zu retten.
Mein Herzschlag beruhigt sich.
Tief durchatmend schaue ich mich in der unbekannten Umgebung um, während ich meine eigene Hand langsam von meiner Kehle sinken lasse. Sie liegt jetzt auf dem Rand der Badewanne. Langsam stemme ich mich daran nach oben und steige aus dem eiskalten Wasser. Dabei kleben meine schwarzen Klamotten wie eine zweite Haut eng an mir.
Mein Blick schweift durch den unbekannten Raum, der sich als unerwartet riesig entpuppt. Die ganze Tierklinik ist mit jeglichem Detail verschwunden. Stattdessen scheint der Raum ziemlich lang. Weiße Wände, weißer Fließboden, weiße Decke. Grelle Lampen, die den Raum in ein helles Licht tauchen. Die Badewanne ist noch immer dieselbe. Wenn ich den Blick geradeaus nach vorne richte, erblicke ich den flachen Stumpf eines mächtigen Baumes.
Der Nemeton.
Mit ehrfürchtigem Schritt lasse ich die Badewanne hinter mir und steuere langsam die Überreste des Baumes an, der früher einmal unglaublich prächtig gewesen sein muss. Obwohl ich barfüßig bin, sind meine Schritte schallend hörbar. Ich bin alleine und habe keine Ahnung, was das zu bedeutet hat. Niemand hat mir etwas derartiges vorhergesagt.
Der Baumstumpf vor mir ist riesig und auf der ebenen Oberfläche kann ich scheinbar unendlich viele Altersringe erkennen. Die dicken Wurzeln beginnen hier und scheinen fest in den weiß gefliesten Boden zu laufen. Mein Blick ist auf dem mächtigen Stumpf gerichtet. Meine Hand hebt sich - scheinbar automatisch - und senkt sich ehrfürchtig auf das dunkle Holz herab, während ich meinen Blick für keine Sekunde von dem Stumpf abwenden kann.
Meine Finger schweben wenige Millimeter zögernd über dem Stumpf, bis ich meine eigene Dummheit erkenne. Deshalb schüttele ich vertreibend den Kopf, bevor ich die Kontrolle über meinen Körper zurück erlange und ohne weiteres Zögern meine Hand auf das, überraschend warme, Holz lege. Ich brauche keine Furcht davor zu haben - es ist nur der Rest eines gefällten Baumes.
„Raven?!"
Eine unglaublich weiche und altvertraute Stimme hallt durch den Raum und obwohl ich die Stimme schon seit Jahren nicht mehr gehört - und schon vergessen glaubte - erkenne ich sie sofort wieder. Mit wild pochendem Herzen und ungläubig weit geöffneten Mund fahre ich blitzschnell herum. Meine Hand rutscht von dem warmen Holz.
Wenige Meter von mir entfernt steht eine junge Frau. Ende zwanzig. Ein fast schon erschöpft wirkendes Lächeln auf ihren Lippen. Ihre nussbraunen Haare fallen sanft über ihre Schultern. Ihre schlank, sportliche Figur mit den dunklen Klamotten. Das leicht kantige Gesicht mit den altbekannten grünbraunen Augen. Ich ziehe scharf die Luft ein und starre die Frau vor mir unverwandt an.
„Mom?" bringe ich anschließend ungläubig hervor und während die Frau vor mir, unverkennbar Laura Hale, langsam und mit tränenden Schimmer in den Augen mit dem Kopf nickt, setzt sich mein Körper automatisch in Bewegung. Erst langsame Schritte, die dann immer schneller werden bis ich meiner Mutter rennend in die Arme stürme.
Sie scheint kein Tag älter geworden zu sein.
„Raven," wiederholt sich meine Mutter, ebenfalls im ungläubigen Ton, während sie unsere Umarmung beendet, indem sie mich wieder wenige Zentimeter sanft von sich wegschiebt. Sie legt ihren mütterlichen Blick auf mich mustert mich sekundenlang schweigend. Noch immer liegt ein nasser Schimmer über ihren Augen. Aber sie lächelt breit.
„Du bist so groß geworden," eine kurze Pause, ein weiteres Mal lässt sie ihren Blick über mich wandern, „Und so hübsch!" Sie lächelt mich weiter an, während ich unfähig bin etwas zu sagen. Sie sieht genau aus wie meine Mutter, sie klingt auch so. Ich möchte glauben, dass sie es ist...auch wenn eine winzige Stimme in meinem Inneren das Gegenteil behauptet. Ich blende diese Stimme aus und schenke meiner Mutter ein breites Lächeln.
So viele Jahre ohne sie...und sie scheint noch nicht einmal überrascht über meine neue Haarfarbe oder die Tatsache, dass ich nur in durchnässter Jeans und Sport-BH vor ihr stehe.
„Raven," ihre Stimme scheint zu versagen und ihr Lächeln wird kleiner, bis es schlussendlich vollständig erlöscht. "Nein. Du kannst nicht hier sein," ein langsames Kopfschütteln, das immer schneller wird, „Nicht...nicht hier!" Ich verbeiße mir ein sarkastisches Kommentar, obwohl jede Faser in meinem Körper schreit, ihr etwas wie 'Das sagt die Richtige' zu entgegnen. Doch ich unterdrücke diesen Drang.
Ich weiß nicht was hier vor sich geht. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, wo ich bin. Ich sollte aufpassen was und vor allem wie ich etwas sage.
„Du kannst nicht hier sein," wiederholt meine Mutter ihre eigenen Worte und schüttelt weiterhin stur mit dem Kopf. Sie wirkt verbissen und sie scheint sich diesen Fakt tief einreden zu wollen. Dabei stehe ich doch direkt vor ihr und bin von ihrer plötzlichen Stimmungsschwankung zunehmend verwirrt. „Aber ich bin es Mom. Ich bin wirklich hier," sage ich langsam und bestimmend und umgreife ihre Hand wie ein kleiner Beweis für meine Existenz.
„Nein!" widerspricht sie mir sofort und entzieht mir blitzschnell die überraschend warmen Hände, was mich schwer schlucken lässt. Es ist wie ein Schlag ins Gesicht. „Du kannst nicht hier sein. Denn dass würde bedeuten, dass du entweder Tod bist oder kurz davor bist zu sterben!" Sie fährt sich frustriert durch die brustlangen Haare.
„Du bist doch nicht...?"
Ihr Blick legt sich mit einer hoffnungsvollen Verzweiflung auf mich, während ich wenige Sekunden brauche, bevor mein Gehirn ihre, in der Luft schwebende, Frage vervollständigen kann. Ich schüttele bestimmt mit dem Kopf, als ich den Grund für ihre panische Verleumdung erkenne.
„Keine Angst ich bin nicht Tod," fange ich jetzt an bereitwillig die Situation zu erklären, um meiner Mutter etwas Ruhe einhauchen zu können, „Das alles hier gehört nur zu einem gut ausgetüftelten Plan. In wenigen Sekunden bin ich wieder auf der," ein kurzes Zögern meinerseits, „auf der anderen Seite!" „Also geht es dir gut," sagt meine Mutter mit einem langsamen Nicken und obwohl ihre fragende Worte eher wie eine Feststellung klingt, umgreife ich fest ihre warmen Hände und sage bestätigend: „Ja mir geht es gut Mom!"
Das Lächeln auf dem Gesicht meiner Mutter taucht wieder auf und verwandelt ihre Gesichtszüge in die Altbekannten meiner Mutter. Auch auf meinem Gesicht bildet sich ein kleines Lächeln, als ich feststelle, dass ich ihr Lächeln - ihr ganzes Gesicht - schon vergessen glaubte. Sie atmet hörbar erleichtert aus.
„Wie geht es Lewis? Matty?" fragt meine Mutter jetzt überschwänglich nach, ohne meine Hände los zulassen. Ihre eigenen sind dabei weiterhin angenehm warm. Wärmer als von einer Toten erwartet. „Ihnen geht es gut," antworte ich jetzt, bevor ich mit einem breiten Lächeln weiterspreche: „Lewis hat jetzt sogar eine Freundin!" „Das ist toll," meine Muter strahlt ebenfalls, „Wie geht es Ryan?"
Mein Lächeln erstirbt und ich entziehe meiner Mutter ruckartig die Hände.
„Gut. Wir sind nur nicht mehr zusammen," antworte ich anschließend nach einem tiefen Atemzug. Auch das Lächeln meiner Mutter weicht und ich fühle mich sofort schuldig. „Was ist passiert? Ist er...?" fragt sie jetzt sanft nach. Jedoch erstirbt ihre Stimme vor Beendung des Satzes. Ich atme tief durch und antworte ausweichend: „Wir haben uns auseinander gelebt. Nichts weiter," ich schüttele dabei leicht mit dem Kopf, „Aber ich habe meinen Vater getroffen!"
Überraschung in dem Gesicht meiner Mutter. Der Themenwechsel hat noch besser funktioniert, als von mir erwartet.
„Crowley?" fragt meine Mutter voller Ungläubigkeit nach. Langsam nicke ich. Daraufhin wandert ihr Blick wissend über meinen Körper und obwohl sie es sich scheinbar nicht anmerken lassen möchte, bleibt ihr Blick wenige Sekunden zu lange auf meinem nackten Arm hängen. Automatisch wandert meine rechte Hand zu meinem Unterarm und verdeckt das Hautmal.
„Deshalb bist du also hier," sagt meine Mutter jetzt verstehend und nickt langsam, fast schon gedankenverloren, vor sich hin. Ich ziehe die Augenbrauen leicht zusammen und frage kritisch nach: „Du kennst es?" Zustimmendes Nicken ihrerseits. Dann ein tiefes Durchatmen. Ohne eine diskrete Aufforderung meinerseits, fängt sie an zu erzählen.
„Weißt du Crowley war nicht so, als ich ihn kennenlernte," ich unterbreche sie, „Das dachte ich mir schon!" Sie nickt leicht, bevor ich ihr mit einem Blick die Aufforderung gebe, weiterzusprechen. „Er war nett. Zuvorkommend. Ein richter Gentlemen und er liebte mich. Er wusste eigentlich schon von Anfang an, dass ich ein Werwolf bin," tiefes Durchatmen, „aber ich und deine Großmutter," wieder eine kurze Pause, „Talia - wir hielten es für besser ihn aus der ganzen Sache rauszuhalten!"
Verstehend nicke ich. Denselben Gedanken hatte ich bei Ryan auch. Nur dass er nichts von meinen Fähigkeiten wussten und dementsprechend verängstigt war, als er davon, nicht gerade sachte, erfuhr. Meine Mutter spricht unaufgefordert weiter.
„Erinnerst du dich noch an die Geschichte die ich dir das eine Mal erzählt habe? Von meinem Bruder und Paige?"
Langsam nicke ich, auch wenn ich mir die Geschichte nicht mehr ganz detailgetreu in Erinnerung rufen kann. Meine Mutter hatte sie mir nur ein einziges Mal erzählt und auch nur deshalb, um mir eine wertvolle Lehre zu erteilen. Damit ich erst gar nicht auf die Idee komme, Ryan ebenfalls in einen Werwolf zu verwandeln. Es war das erste Mal, dass meine Mutter - in meiner Anwesenheit - den Nemeton erwähnte.
„Als Derek Paige zu den Wurzeln des Nemeton brachte und sie dort opferte, um ihr die Schmerzen zu nehmen, veränderte sich nicht nur die Farbe seiner Augen. Der Baum übernahm eine unglaubliche Kraft aus diesem unfreiwlligen Opfer. Eine Kraft, mit der niemand spielen sollte," kurz scheint meine Mutter in schmerzvollen Erinnerung zu schwelgen, bevor sie mit fester Stimme weiterspricht: „Crowley war besessen von dem Gedanken, dass er ohne mich Altern würde. Dass er ohne mich Erwachsen werden würde und dass er mich im Falle eines Angriffs nicht beschützen könne!"
Wieder verfällt meine Mutter in ein kurzes Schweigen, in dem sie sich gedankenverloren über die Lippen leckt. Gleichzeitig nehme ich einen leichten Schimmer in ihren Augen wahr. Was sie erzählt scheint für sie emotional so viel tiefer zu gehen, als in ihren Worten dargestellt.
„Nach dem ich ihm den Wunsch ausgeschlagen hatte ihn zu verwandeln, suchte er auf eigene Faust nach einem mächtigen Alpha. Weißt du, ich kenne nicht die ganze Geschichte," ein kurzes Schulterzucken ihrerseits, „Ich weiß nur, dass er irgendwie den Nemeton fand und mit seiner Hilfe und falschen Versprechungen das Mal erschuf...und ab diesem Punkt änderte er sich!"
Sie atmet tief durch und ich kann sehen, wie ihre Finger anfangen mit dem Saum ihres dunklen Pullovers zu spielen. Eine untypische Geste von ihr, an die ich mich nicht mehr zurück erinnern vermag.
„Er wurde von Tag zu Tag aggressiver und konnte sich bei Diskussionen nicht länger beherrschen," setze ich die Geschichte anstelle ihr selbst wissend fort, da sie für wenige Sekunden emotional nicht mehr zum Sprechen fähig scheint. Die Erinnerungen müssen überwältigend sein. Doch jetzt nickt sie zustimmend und setzt die Erklärung nach einem kurzen Räuspern selbstständig fort: „Es wurde immer schlimmer. Er wurde immer schlimmer und irgendwann zog ich einen Schlussstrich und trennte mich von ihm!"
Ich rieche für wenige Sekunden an meiner eigenen Mutter Abscheu, als sie die letzten Worte ausspricht. Doch bevor ich genauer nachfragen kann, spricht sie bereits von selbst weiter: „Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits mit dir schwanger. Aber ich verheimlichte es ihm. Zu deinem und zu meinem eigenen Schutz floh ich für ein Jahr aus Beacon Hills!"
„Das Jahr in Frankreich," setze ich das Puzzel mit den letzten Stücken meines eigenen Wissens komplett zusammen und nicke leicht. Alles macht plötzlich Sinn. Jede einzelne Sekunde meines Lebens macht Sinn. Jedes Wort, jede Erklärung.
„Ja. Nur meine Mutter wusste von der ungewollten Schwangerschaft und wir beide hielten es für besser dich zu Matty zu bringen und dich dort auch, unabhängig von der Familie und deinem Vater, groß zuziehen!" sagt meine Mutter zustimmend und wieder nicke ich verstehend. Aber hier glaube ich den Rest der Geschichte zu kennen.
Ich weiß aus meiner Kindheit, dass meine Mutter anfangs nur einmal wöchentlich - wenn überhaupt - kam. Um den bösen Menschen nicht aufzufallen, wie es Matty mir immer zu erklären versuchte. Ich erinnere mich noch an die Wochenenden, wo sie zurück kam und mich lehrte die Kontrolle zu bewahren oder an die Geschichtsstunden über die glorreiche Hale Familie. Aber ich erinnere mich auch an die Nacht, in der sie schweißgetränkt, tränenverschmiert und mit Ruß verklebt in unser Haus stürmte. Ihre ganze Familie: Tod.
Ab diesem Punkt lebte sie ununterbrochen mit uns und für mich begann das typische Familienleben. Zu diesem Zeitpunkt war alles perfekt. Bis Lewis kam. Bis ich Rose tötete und aus Lewis ein wahres Familienmitglied wurde. Bis zu dem Punkt, in dem meine Mutter von einem alten Freund erfuhr, dass ein mächtiger Alpha in Beacon Hills aufgetaucht ist und sie dahinter als erstes einen Hale vermutete. Bis zu dem Punkt, als sie nach Beacon Hills zurückkehrte und daraufhin auch nie wieder nach Hause kam.
Bis zu dieser einen, verhängnisvollen Entscheidung.
„Ich wusste, dass Crowley dich irgendwann finden würde. Aber ich dachte, du hättest bis zu diesem Zeitpunkt genug Erfahrung gesammelt, um ihm gegenüber zu treten," sagt meine Mutter jetzt leise und in ihrer Stimme, in ihrer ganzen Körpersprache, kann ich lesen, dass sie sich schuldig fühlt. Sie fühlt sich schuldig, mich nie aufgeklärt und für diesen Punkt in meinem Leben vorbereitet zu haben.
Auch ich fühle mich schuldig.
„Ich bin ihm gegenüber getreten," fange ich deshalb leise an, „Und ich habe ihn besiegt. Das Mal ist das letzte Geschenk von ihm!" Meine Hand rutscht langsam von meinem Unterarm und gibt die Stelle frei. Ich jedoch wage es nicht, an mir selbst herunter zu schauen, stattdessen richte ich meine Augen blinzelnd auf meine Mutter und versuche mir ihre Gesichtszüge tief einzuprägen.
„Du hast ihn - ?"
Ein lautes Rumpeln erschüttert den ganzen Raum und unterbricht meine Mutter mitten im Satz. Sowohl ich, als auch meine Mutter, kämpfen kurz mit dem Gleichgewicht, während sich in meinem Rücken eine Person bemerkbar macht, in dem sie sich überheblich räuspert.
„Schön euch beide Mal zusammen zu sehen, Schatz!"
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