Kapitel 2

Mein Streit mit Liliane war nun schon eine Stunde her. Ich hatte beschlossen allein nach Hause zu laufen, weil ich einen freien Kopf kriegen wollte. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie ich am Hafen angekommen war. Mir wehte eine frische Prise Meeresluft entgegen und ich atmete tief durch. Es war bereits spät geworden, weshalb hier bloß reges Treiben herrschte. Einige Händler verluden Ware, andere feilschten und einige der Fischverkäufer begannen bereits ihre Stände abzubauen. Wäre ich bei klarem Verstand gewesen, dann hätte ich wohl realisiert, dass es eine denkbar schlechte war, allein um diese Zeit durch den Hafen zu laufen. Schon früh war mir einbläut worden, dass eine Dame niemals allein durch die Gegend laufen durfte, erst recht nicht nachts. Tja, so schnell konnten die eigenen Gefühle einen beeinflussen.

Ich ließ den Blick schweifen und entdeckte erneut diese unbekannte Flagge. Das Schiff stand nur einige Meter weg von mir, doch ich konnte niemanden entdecken. Wieso nicht? Das große Schiff schien wie leergefegt. Ich kannte mich nicht mit Schifffahrt aus, aber das war wirklich ungewöhnlich. Waren das wirklich Händler? Vielleicht waren sie ja bloß die Stadt erkunden oder unter Deck. Es ging mich ja eigentlich auch nichts an.

Ich warf einen letzten Blick auf die See und seufzte, bevor ich mich in Richtung meines eigenen Zuhauses sah. Mein eigenes Anwesen lag nur etwa 10 Minuten entfernt von hier und trotzdem konnte ich mich nicht überwinden loszugehen. Allein der Gedanke daran Adrien in die Augen zu sehen, löste in mir Übelkeit aus. Wie konnte das alles nur passieren?

Auf einmal hörte ich ein lautes Krachen. Eschrocken zuckte ich zusammen und suchte panisch die Umgebung ab. Es war dunkel, doch ich konnte einige vermummte Gestalten erkennen. Mehrere Männer, die einige Säcke trugen. Mein Herz begann zu rasen, während das Gemurmel immer lauter wurde. Offensichtlich hatten auch andere Leute diese Bande bemerkt, doch niemand schien sich dafür zu interessieren.

Plötzlich traf mein Blick einen der Männer. Er hatte mich gesehen und er wusste, dass ich das hier nicht einfach ignorierte. Wahrscheinlich war es mein Instinkt, der schrie, dass ich rennen sollte, denn innerhalb von Sekunden war ich in Bewegung. Mein Kleid erschwerte mir das Laufen, doch ich blieb nicht stehen, spätestens als ich hörte, wie der Mann losrannte. Noch nie war ich in solch einer Situation gewesen und es machte mir Angst. Ich war eine Edeldame, was bedeutete, dass ich für solche Leute ein beliebtes Ziel war. Vielleicht wollten sie mich auch nur mundtot machen, weil ich sie gesehen hatte. So oder so musste ich hier weg.

„Bleib stehen kleine!", rief mir ein Mann hinterher. Seine Stimme war kratzig, als würde er regelmäßig rauchen. Verdammt. Meine Beine trugen mich durch den ganzen Hafen, doch ich merkte schnell, dass ich keine gute Kondition hatte. Ich war völlig außer Atem und meine Beine brannten, als ich mich weiter durch die dunklen Gassen drängte. Er durfte mich nicht kriegen. Wer wusste, was er mit mir anstellen würde? Meine Mutter hatte mir viele schreckliche Geschichten erzählt, die jetzt dafür sorgten, dass sich die Panik in meinem ganzen Körper ausbreitete. Ich durfte nicht gefangen werden.

Gerade zwängte ich mich durch eine enge Gasse, als mein Kleid an einer kaputten Kiste hängen blieb. Meine Beine gaben nach und ich spürte einen stechenden Schmerz in meinen Knien, als ich hinfiel. Scheiße. Ausgerechnet jetzt.

Panisch versuchte ich wieder auf die Beine zu kommen, doch ich konnte mich vor Schmerz kaum halten. Einige Sekunden versuchte ich durchzuatmen und sah mich um. Wo war mein Verfolger? Verwirrt versuchte ich in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Hatte ich ihn abgeschüttelt? Aber er war doch gerade noch hinter mir gewesen.

Kaum hatte ich mich wieder umgedreht, spürte ich eine kalte Klinge an meinem Hals. Sofort zuckte ich zusammen und mein Blick traf auf ein verhülltes Gesicht. Der Mann trug eine dunkle Kapuze, doch ich erkannte trotzdem den schlampig rasierten Bart, die vielen Narben und kalte Augen.

„Na na na, einfach wegzulaufen gehört sich aber nicht", knurrte er und mir schlug der stechende Geruch von Alkohol in die Nase. Gott, dass war wirklich widerlich. Dieser Mann war offensichtlich vollkommen ungepflegt, doch das war wohl kaum der Grund, weshalb mir so schlecht war.

„Sag mir... wieso sollte ich dich nicht hier und jetzt töten hm? Es wäre doch lustig", raunte der Fremde und mir blieb das Herz stehen. Er wollte mich wirklich töten. Ich würde sterben durch die Hand eines... stinkenden, sadistischen Räubers.

„I-Ich...", begann ich, doch meine Stimme zitterte so stark, dass ich kein weiteres Wort rausbrachte. Was sollte ich ihm auch sagen? Wieso sollte er mich nicht töten? Es gab keinen logischen Grund. Ich spürte, wie mir die Tränen kamen und die Angst meinen ganzen Körper lähmte.

„Was denn Kleine? Fangen wir jetzt schon an zu weinen? Wie süß", höhnte er und die Klinge grub sich noch ein Stück weiter in meinen Hals. Er würde mich töten. Hier und jetzt. Ich würde in dieser dunklen Gasse sterben, getötet von so jemandem.

Immer mehr Tränen begannen meine Wangen herunterzulaufen und ich schluchzte leise. Ich wollte nicht sterben. Ich wollte meine Eltern wiedersehen. Ich wollte noch so viele Dinge tun. Ja, ich wollte sogar Liliane wiedersehen. Egal, wie sehr wir uns gestritten hatten. Vielleicht waren wir beide manchmal zwei verzogene Gören aber... Moment. Plötzlich kam mir eine Idee.

„I-Ich bin viel wert! Meine Eltern sind r-reich. Wenn du mich tötest werden sie euch jagen, aber wenn ihr sie erpresst, dann kriegt ihr viel Geld", stotterte ich leise. Sofort änderte sich der Ausdruck in seinen Augen. Erst war es Misstrauen, doch dann lockte ihn das Geld. Ich wusste genau, wie Menschen aussahen, denen Geld wichtiger war als alles andere und er war zweifelsohne so ein Mensch.

„So so", erwiderte er und grinste mich böse an. Dann packte er mich unsanft und zog mich mit sich. Würde er mich nicht töten? Hatte ich es geschafft? Noch immer durchströmte Angst meinen Körper und ich zitterte stark, als der Mann mich hinter sich schleifte. Innerhalb von wenigen Augenblicken waren wir am Hafen und steuerten direkt auf das große Schiff mit der seltsamen Flagge zu. Ausgerechnet dieses Schiff.

„Captain!", rief der Mann, als wir auf das Schiff zuliefen und kurz vor der Laderampe zum Stehen kamen. Auf sein rufen hin, erschienen mehrere Männer an Deck. Sie alle sahen ähnlich ungepflegt aus, fast wie... Piraten? Die Angst drehte mir erneut den Magen um.

„Wen hast du denn da?", fragte ein älterer Mann, der sich an die Reling beugte. Sein dunkles Haar ergraute bereits und er schien einige Falten zu haben. Ansonsten wirkte er viel eleganter und klüger als die anderen. Kein Wunder, dass er der Captain dieser Mannschaft war.

„Eine kleine Adlige, die behauptet, dass wir viel Geld für sie kassieren können", rief er zu ihm hoch und ich sah, wie ein Grinsen die Lippen des älteren Mannes umspielte. Es war derselbe Ausdruck, wie auch zuvor bei meinem Verfolger. Diese Männer waren bloß auf Gold aus.

Langsam erhob der Mann sich wieder und schlenderte zu uns herunter. Er trug ein weißes Hemd, welches überraschend sauber war. Dazu ein paar dunkle Hosen und hochwertige Schuhe. Wer war dieser Mann bloß?

„Wie ist dein Name?", fragte der Mann mich, als er vor mir zum Stehen kam. Er trug unzählige Narben im Gesicht, die klar machten, dass er schon viele Schlachten gesehen hatte. Ein echter Kämpfer. Verunsichert versuchte ich den Knoten in meinem Hals zu schlucken.

„Aurelia Dragos. Tochter des Barons von Dragos und zukünftige Baroness" sagte ich mit erhobenem Kinn. Meine Stimme zitterte und meine Knie waren weich, wie Wackelpudding, aber ich versuchte dennoch stark zu wirken. Ich musste mit ihnen verhandeln. Irgendwie Zeit schinden. Hauptsache sie töteten mich nicht hier und jetzt.

Ein raues Lachen entkam der Kehle des Mannes und er musterte mich noch ein wenig mehr. Ich konnte genau sehen, wie er innerlich die Vor- und Nachteile abwägte. All die Jahre mit Adrien hatten mich gelehrt andere aufmerksam zu beobachten und dennoch hatte ich keine Ahnung, wie er sich entscheiden würde. Mein Herz schlug immer schneller und Panik übermannte mich. Ich wollte nicht sterben.

„Ich kann zwar reiche Plagen nicht ausstehen aber gegen ein hübsches Lösungsgeld hätte ich nichts einzuwenden. Bringt sie an Bord und unten in eine der Kajüten" verkündete der Mann und Erleichterung und Angst spülten mit einem Mal durch meinen ganzen Körper. Ich war zwar noch nicht tot aber gefangen auf einem Schiff mit dutzenden Männern, die mich alle viel zu lüstern ansahen. Gänsehaut überzog meinen Körper, als ich, grober als nötig, auf das Schiff gebracht wurde.

Kaum war ich an Deck, wurde ich auch schon nach unten gezogen. Der Mann, der meinen Arm festhielt, war noch immer derselbe und sein Griff wurde immer grober. Wir passierten Gang um Gang und er sagte kein einziges Wort. Wieso auch? Offenbar war ich jetzt die Gefangene einer Crew von... was? Ja, was waren diese Männer eigentlich?

Gerade wägte ich innerlich ab, ob ich ihm diese Frage stellen sollte, als er plötzlich eine hölzerne Tür öffnete und mich in einen kleinen Raum schubste. Sofort schlug mir ein modriger Geruch entgegen und durch die staubige Luft begann ich zu husten. Einige Blicke genügten, um zu sehen, dass ich in einer Abstellkammer eingesperrt war.

„Wehe du versuchst hier auszubrechen prinzesschen" raunte der Mann und warf mir einen finsteren Blick zu. Als wäre ich in der Lage eine verdammte Holztür aufzustemmen und dann von einem voll bewachten Schiff zu fliehen.

Mein Schweigen schien er als Antwort zu nehmen, denn er begann die Tür zu schließen. Nein. Ich hatte noch eine Frage.

„Was seid ihr?" hauchte ich atemlos. Der Mann an der Tür begann schelmisch zu grinsen und zeigte dabei einen Haufen verfaulter und dreckiger Zähne, die seinen Mundgeruch erklärten.

„Wir sind Piraten".

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