Kapitel 1

Wir träumen von besseren Welten. Von Orten, an denen wir frei sein können und niemand uns wehtut. Doch irgendwann lernen wir alle, dass es diesen Ort nur in unserer Fantasie gibt. In Wahrheit sind wir alle allein. Allein und verwundbar.

„Komm raus Aurelia", rief mein Bruder, als er in die Küche trat. Seine kalte Stimme jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Zitternd drückte ich mich noch enger an die Wand und versuchte so leise wie möglich zu atmen. Ich hatte mich unter der Küchentheke verkrochen und betete innerlich, dass Adrien mich nicht finden würde. Ich wusste, was er tun würde. Er tat es immer, wenn unsere Eltern nicht zuhause waren.

„Warum versteckst du dich Schwesterherz?", spottete er und lachte rau. Ein Lachen, was mir durchs Mark ging. Wie sehr ich dieses Lachen doch hasste. Manche Leute verachteten bestimme Wörter oder andere Dinge, die sie an traumatische Ereignisse erinnerten. Für mich war es das Lachen meines großen Bruders Adrien.

Plötzlich war er direkt vor mir. Ich zuckte zusammen und mein Kopf stieß gegen die steinerne Platte der Küchentheke, was einen stechenden Schmerz in meinem Kopf auslöste. Doch ehe ich darauf reagieren konnte, packte er meinen Fuß und zog mich aus meinem Versteck. Ich quiekte, doch Adrien grinste mich bloß kalt an. Ich wusste, was jetzt kam.

Unsere Blicke trafen sich. Seine eisblauen Augen zeigten genau, was in seinem innersten los war. Er hatte Lust auf Gewalt und würde diese Lust an mir auslassen.

„Ich mag es nicht, wenn du dich vor mir versteckst. Ich hatte einen sehr schlechten Tag und du machst es nicht besser Ri" knurrte er. Angst schnürte mir die Kehle zu und mir drehte sich der Magen um, beim Gedanken an das, was folgen würde. Früher hatte ich nach den Göttern gerufen. Ich hatte gebetet, dass jemand kommen würde und mich rettete. Wie dumm ich doch gewesen war. Niemand beschützte mich vor meinem Bruder. Meine Eltern nicht. Die Götter nicht. Nicht einmal seine Menschlichkeit.

Kaum hatte ich darüber nachgedacht, spürte ich bereits einen Tritt im Magen. Ein scharfer Schmerz jagte durch meinen Körper und ich begann zu husten. Reflexartig kauerte ich mich zusammen und hielt mir den Bauch, doch das stachelte ihn nur noch mehr an. Adrien griff meine Haare und zog mich auf die Beine, nur um mir dann ins Gesicht zu schlagen. Meine Beine zitterten und ich spürte, wie mir die Tränen kamen. Es gab eine Zeit, in der hatte ich mir für diese Schläge die Schuld gegeben. Ich war der Meinung gewesen, dass ich seinen Zorn irgendwie auf mich gezogen haben musste, doch das stimmte nicht. Adrien war in Wahrheit einfach ein Monster. Ein kaltherziges Monster.

„Was denn Aurelia? So schnell weinst du? Wie erbärmlich", spottete mein Bruder weiter und grinste mich auf eine sadistische Art und Weise an. Ich bekam eine Gänsehaut. Natürlich war er noch nicht fertig mit mir. Wann genau das ganze angefangen hat, wusste ich gar nicht mehr so genau. Anfangs waren es nur Beleidigungen und hin und wieder packte er zu fest zu. Doch je älter und stärker er wurde, desto mehr gefallen fand er an Gewalt und daran mich zu verprügeln.

Wie lang das noch so ging, bekam ich nicht mit. Über die Jahre hatte ich gelernt das alles einfach auszuhalten. Ich ließ es über mich ergehen und meine Gedanken wanderten weit weg. Ich dachte an unsere Eltern, die gerade weit weg waren. Sie nannten es eine Geschäftsreise, doch bereits mit 7 hatte ich gelernt, dass sie in Wahrheit bloß Urlaub ohne uns machten. Warum sollten sie uns auch mitnehmen? Wir waren nur eine Belastung.

Einige Stunden später lag ich immer noch zusammengerollt auf meinem Bett. Mir tat alles weh, doch die Tränen waren längst getrocknet. Adrien war ein Monster, doch ich hatte mich vor Jahren damit abgefunden. Ich hatte aufgehört darauf zu hoffen, dass er sich änderte. Früher hatte ich an das Gute geglaubt. Ich war der Meinung gewesen, dass jeder Mensch etwas Gutes in sich hatte, was manchmal bloß von Schatten überdeckt wurde. Aiden war anders. Er hatte das Gute längst verloren oder auch nie besessen. So oder so, ich hasste ihn.

Seufzend erhob ich mich. Meine Gelenke und Verletzungen ächzten und ich war versucht mich einfach wieder fallen zu lassen, doch das ging nicht. Ich musste baden und die Wunden versorgen, sonst würden sie sich entzünden, etwas, was ich definitiv vermeiden wollte.

Langsam und so leise, wie irgendwie möglich schlich ich über den Flur und huschte ins Bad. Das letzte, was ich jetzt brauchte, war Adrien erneut über den Weg zu laufen. Kaum war ich also im Bad angekommen atmete erleichtert aus. Im Bad war ich normalerweise sicher, erst recht, nachdem er seine Wut rausgelassen hatte.

Kurz warf ich einen Blick in den Spiegel. Ich sah furchtbar aus. Meine roten Haare waren an einigen Stellen Blut getränkt, was wohl von meiner Nase und meiner Lippe herrührte. Ich war noch blasser als sonst und durch die Blutergüsse wirkte ich ausgedörrt. Dabei war ich gut genährt. Meine Eltern gehörten der elitären Oberschicht an.

Ich griff ein Tuch und tunkte es in einen Eimer mit Wasser. Vorsichtig strich ich über meine Nase, die, wie ich vermutete, gebrochen war, weshalb bei der kleinsten Berührung ein stechender Schmerz durch meinen Kopf fuhr. Ich hatte schon viele Verletzungen gehabt, doch die im Gesicht taten am meisten weh.

Es war Mittwoch, das bedeutete, dass ich mich, wie jede Woche, mit Liliane treffen würde. Sie war ein wundervolles Mädchen und wir hatten schon lange eine sehr enge Freundschaft. Von den Taten meines Bruders wusste sie trotzdem nichts. Auch sie kannte Adrien lange und ich wollte ihr Bild von ihm nicht zerstören. Bei anderen verhielt er sich vollkommen normal. Sicher, er war vielleicht nicht immer ein Gentleman, doch, dass er zu so etwas fähig war, würde sie mir niemals glauben und wenn doch... nun, sie würde zweifelsohne versuchen mir zu helfen und das würde alles noch viel schlimmer machen. Liliane gehörte zur Blutlinie der Barclays, was ihr den Status einer künftigen Viscountess einbrachte, und dennoch konnte sie nichts tun. Adrien würde einmal der Baron der Familie Dragos sein. Wir waren mächtiger und Adrien nun mal ein Mann. Wer würde schon zwei Frauen glauben, dass ein Gentleman der Oberschicht so etwas grässliches tat?

Nachdem ich meine Wunden versorgt hatte, ließ ich die Badewanne mit heißem Wasser befüllen. Meine Zofe ließ ihren Blick über meine Wunden schweifen und sah, wie sich ihre Augen mit Besorgnis und Wut füllten. So gut wie jeder Bedienstete hier wusste davon, doch es traute sich niemand etwas dagegen zu sagen. Wieso auch? Adrien würde diese Person genauso verprügeln und ich war mir ziemlich sicher, dass die meisten hier sowieso froh waren, dass er seine Wut an mir ausließ und nicht an den Diener, etwas, was unter Adligen nicht selten war.

Ich zog mein schlichtes Kleid aus und ließ mich ins heiße Wasser gleiten. Einen kurzen Moment brannten meine Wunden, doch kurze Zeit später begannen meine Muskeln sich zu entspannen und erst jetzt realisierte ich, wie angespannt ich die ganze Zeit gewesen.

Nachdenklich ließ ich meinen Blick schweifen, als Marie, meine Zofe begann meine Haare zu waschen. Ich sah aus dem Fenster und entdeckte in nicht allzu weiter Ferne den Hafen. Der Ort hatte mich nie sonderlich angezogen, doch heute erregte tatsächlich etwas meine Aufmerksamkeit. Ein Schiff, welches unter einer mir unbekannte Flagge segelte. Die Flaggen der königlichen Flotte waren blau und zeigten eine aufgehende Sonne und einen Drachen. Es symbolisierte unsere Verbundenheit mit unseren Erschaffern. Angeblich soll Atrena, die Göttin des Lebens und der Sonne, Isouya vor über 500 Jahren erschaffen haben. Allerdings waren die umliegenden Königreiche, die andere Göttinnen und Götter verehrten, so stark gewesen, dass Atrena den Gott des Krieges und der Stärke um Hilfe bitten musste. Sie hatte ihn angefleht, dass er unserem Königreich die Stärke geben würde, zum mächtigsten der südlichen Königreiche aufzusteigen, doch Sorus erhörte sie nicht. Eine der feindlichen Armeen fiel in unser Königreich ein und alles schien verloren, als plötzlich ein Drache durch die Morgenröte flog. Er verlieh, so hieß es in den alten Geschichten, den Soldaten die Kraft von 10 Rittern und sie konnten von nun an jeden Feind in die Flucht schlagen. Ob das wirklich stimmte, wusste man nicht, doch es war eine schöne Geschichte.

„Suchst du mir bitte ein Kleid für einen Besuch bei Liliane heraus?", bat ich meine Zofe und stieg aus der Wanne. Ich hatte lange genug gebadet und musste mich beeilen, wenn ich heute Mittag noch bei Liliane ankommen wollte.

„Natürlich My Lady" sagte Marie mit einem sanften Lächeln. Kaum war sie die Tür raus, schnappte ich mir ein Handtuch und begann mich abzutrocknen. Währenddessen fiel mein Blick wieder auf den Hafen und die mir unbekannte Flagge. Sie war rot und in der Mitte thronte eine große, schwarze Flamme. Gehörte diese Flagge vielleicht zu einem Händler? Es wäre ziemlich ungewöhnlich, vor allem in Bezug auf die Größe des Schiffs, doch hier in Isouya passierten immer wieder ungewöhnlich Dinge. Wieso also nicht am Hafen?

Eine halbe Stunde später saß ich in einer unserer Kutschen und war auf dem Weg zu Lilians Haus. Meine Zofe hatte mich in ein blaues Prinzessinnenkleid gehüllt, welches über und über verziert war mit kleinen Stickereien und Rüschen. Manche würden wohl behaupten, dass dieses Kleid zu übertrieben war, doch meine Mutter bläute mir immer ein, dass eine Lady, wie ich es war, niemals zu schick angezogen war.

„Wir sind in 10 Minuten bei Miss Barclay" hörte ich den Kutscher sagen. Selbst um die Mittagszeit brauchten wir nie lange für den Weg zu Lilianes Anwesen. Wahrscheinlich war das der Grund, warum wir uns schon so lange so nah standen.

Kurze Zeit später erreichten wir das Barclay Anwesen. Ich war hier schon unzählige Male gewesen, doch die Schönheit des Anwesens übermannte mich jedes Mal wieder aufs Neue. Es war ein großes Gebäude, das aus fremdländischen Steinen erbaut worden war. Es gab große Fenster, die jedoch so weit oben waren, dass niemand hindurchsehen konnte. Durch eine große, schwere Holztür kam man ins Innere, was noch beeindruckender war als das Haus selbst. Umgeben war das Anwesen von großen Gärten, die der ganzen Familie am Herzen lagen. Es gab Gärten mit tausenden Sorten von Blumen, andere hatte exotische Bäume und wieder andere waren übersäht mit kleinen Flüssen und Teichen. Diese Vielfalt ließ das Grundstück magisch wirken.

„Aurelia!", rief Liliane und kaum hatte ich mich in ihre Richtung gedreht, fiel sie mir schon um den Hals. „Endlich bist du hier! Ich habe große Neuigkeiten für dich!", erklärte sie aufgeregt, was bewirkte, dass ich gleichzeitig erfreut und nervös wurde. Liliane war eine wunderschöne Frau. Blonde Locken, blaue Augen und ein engelsgleiches Gesicht. Leider erfüllte sie allerdings auch den Rest des Klischees: Sie war ziemlich naiv. Große Neuigkeiten konnten also etwas wundervolles sein oder etwas, was sie bloß noch nicht durchschaut hatte.

„Komm, lass uns reingehen", meinte sie sanft und lächelte mich an, wobei mein Herz ein wenig aufging. Liliane war der Einzige Mensch, der mich wirklich gut behandelte und das sorgte dafür, dass ich mich hier immer wohl fühlte.

Kaum waren wir in ihrem großen Zimmer und die Tür war zu, begann Liliane zu quietschen. „Ich werde heiraten!", rief sie und ihre Stimme schien sich zu überschlagen. Schock fuhr durch meine Adern. Sie würde heiraten? Liliane war, genau wie ich, gerade mal 18. Sie sollte einfach so verschachert werden? Ich wusste, dass sie mit niemandem heimlich zusammen war, was bedeutete, dass das eine politische Hochzeit werden.

„Das ist ja wundervoll" erwiderte ich gezwungen und versuchte so ehrlich wie möglich zu lächeln. Ich freute mich für sie, aber irgendwie hatte ich dabei ein ungutes Gefühl.

„Und wir werden Schwestern!! Ich werde Adrien heiraten!!" platzte es aus ihr heraus. Mein Herz hörte auf zu schlagen. Ich war mir ganz sicher, dass in diesem Moment alles stillstand. Nein. Ich durfte Liliane nicht so verlieren. Sie durfte meinen Bruder nicht heiraten. Er würde ihr all das antun, was er mit mir machte. Für sie mochte Adrien ein hübscher Draufgänger sein, doch in Wahrheit war er ein Monster.

„Du kannst Adrien nicht heiraten" murmelte ich entsetzt. Wie konnte sie sich so freuen zu heiraten? Und dann noch ihn. Nein. Wenn Liliane meinen Bruder heiratete, dann würde ich sie verlieren, dass wusste ich.

„Wieso nicht? Ich weiß, er ist manchmal etwas verwegen, aber Adrien ist doch ein wundervoller Mann. Ich hatte befürchtet es würde jemand werden, der viel älter ist als ich oder ein gemeiner Mann, doch ich kenne Adrien seit meiner Kindheit! Einen besseren Ehemann gibt es nicht" erklärte sie mir und die Hoffnung in ihren Augen zerbrach mich. Sie glaubte wirklich, dass das eine gute Idee war.

„So ist er nicht wirklich Liliane. Er ist gewalttätig und bei dir ist er vielleicht ein Gentleman doch bei seiner Familie? Weißt du von wem diese gebrochene Nase ist? Weißt du, wer mir schon mehr als einmal Rippen gebrochen hat? Wer mir seit Jahren Alpträume bereitet?" hauchte ich. Meine Stimme begann zu zittern und ich musste mich zusammenreißen jetzt nicht zusammenzubrechen. Noch nie hatte ich jemandem davon erzählt und dies jetzt aus einem solchen Grund zu tun war schrecklich.

„Du lügst!" stieß sie entsetzt aus. „Er war doch gestern hier! Adrien ist ein Gentleman. Außerdem erzählst du mir doch immer, dass du so tollpatschig bist. Wieso sollte er dir weh tun?" fragte Liliane. Das war die eine Frage, auf die ich nie wirklich eine Antwort gefunden hatte. Wieso tat Adrien mir immer weh?

„Er ist ein Monster Liliane. Bitte, du musst mir glauben! Ich würde dich doch niemals anlügen" versuchte ich sie zu überzeugen. Ich wusste, dass es ein großer Schritt so etwas wieder abzusagen, doch ich konnte sie nicht so einen Fehler machen lassen.

„Wieso versuchst du mir das kaputt zu machen? Nicht alle von uns können einfach so zur Baroness werden! Das ist meine Chance Aurelia. Warum gönnst du mir das nicht?" erwiderte sie und nun war es ihre Stimme, die kurz davor war zu brechen. Liliane glaubte mir nicht. Sie glaubte mir nicht und würde direkt in Adriens Arme laufen. Es schien, als würde mein Herz an diesem Gedanken zerbrechen. Lilian war ein wundervolles Mädchen. Sie war lieb und freundlich, aber auch zerbrechlich. Adrien würde sie gnadenlos kaputt machen und das würde auch mich zerbrechen.

„Liliane..." versuchte ich es erneut, doch sie sah mich so wütend an, wie nie zuvor. Sie glaubte wirklich, dass ich ihr das kaputt machen wollte. Dass ich was? Eifersüchtig war? Dass ich ihr dieses Glück nicht gönnen würde? Wie konnte sie das nur glauben?

„Raus hier!" fuhr sie mich plötzlich an und ich zuckte zusammen. „Ich will dich nicht sehen, wenn du mir das nicht gönnst. Adrien ist ein wundervoller Mann und ich werde ihn heiraten" erklärte sie mir so entschlossen, dass es mir einen Stich versetzte. Sie schmiss mich raus. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich wirklich verletzt. Liliane war das Einzige, was ich hatte, und nun glaubte sie mir das alles nicht einmal.

Einen letzten Moment sah ich sie an, in der Hoffnung, dass sie ihre Meinung doch noch ändern würde, doch das tat sie nicht. Sie würde mir nicht glauben, egal was ich sagte.

Verletzt und enttäuscht verließ ich ihr Zimmer. Mein Herz war grade zerbrochen. Wie konnte das nur passieren? Wie konnte ich meine beste Freundin auf diese Weise verlieren?

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