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Zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden erwachte Melinda aus einem Blackout. Und wieder: bleischwere Glieder, lahme Synapsen. Getrübter Sehsinn. Zeitlupenwelt. Sie lag auf dem Bauch, mit dem Kopf nach unten auf der Rückbank eines Wagens. Es roch nach saurer Milch, wildem Tier und Baumharz. Ihre Hände waren auf den Rücken gefesselt. Schmale Kunststoffriemen schnitten ihr in die Handgelenke. Der Sitzbezug, auf dem sie lag, war durchnässt von ihrem eigenen Speichel. Sie musste dringend aufs Klo. Melinda versuchte, den Kopf zu drehen. Es gelang ihr, wenn auch nur wenige Zentimeter und unendlich mühevoll. An den Fenstern zog eine Landschaft ins reinstem Weiß an ihr vorbei. Sie erkannte nicht viel. Äste, dunkle Stämme, Baumkronen. Wie mit Wasser verwischt. Jedes Bodenloch, jede Wurzel ließen ihren Schädel wie einen Ball hüpfen und bereiteten ihr Höllenschmerzen am ganzen Körper. Sie schielte zum Fahrersitz und erkannte verstrubbeltes braunes Haar, gerötete Ohren, einen zerschrammten Hals. Sie sah einen Mantel, auf dessen Rücken sich in Schulterblatthöhe ein großer dunkler Fleck abzeichnete. Melinda roch Blut. Staubig, metallisch. Offenbar hatte sie gut getroffen. Wenn sie richtig lag, steckte die handgroße Glasscherbe noch immer dort, wo sie sie hineingerammt hatte. Jan hatte es nicht anders verdient. Sie schloss erneut die Augen. Er musste nicht wissen, dass sie wach war. Gern hätte sie ihm das handbestickte Stück Stoff um den Hals gelegt und kräftig zugezogen oder es ihm zusammengeknüllt in den Rachen gestopft. Geld im Spiel, Glück in der Liebe. Zu schön, um wahr zu sein. Melinda hatte in ihrem Kellergefängnis Zeit gehabt, über den abgewandelten Sinnspruch nachzudenken. Wie war ein Mensch beschaffen, wenn er eigenmächtig Sprichwörter fälschte? Sollte man ihn als hoch kreativ oder eher als lebensfeindlichen Ignoranten bezeichnen, der sich die Welt nach eigenem Gutdünken zusammenschusterte? Jan hatte Schmerzen. Er stöhnte. Immer wieder griff er sich an die Schulter, ließ die Hand am Schulterblatt herunterwandern, bekam die Scherbe aber nicht zu fassen. Melinda fragte sich, wie lange jemand in einem solchen Zustand bei Bewusstsein blieb. Sie hoffte, dass er wenigstens bis zum Halten des Wagens durchhielt. Sie hörte den Motor aufheulen. Jan fuhr eine steile Anhöhe hinauf. Der Geländewagen schaukelte wild. Immer wieder drehten die Reifen durch. Im Kofferraum rutschten Gegenstände klappernd gegen die Innenverkleidung. Die befestigte Straße hatten sie längst verlassen. Herunterhängende Zweige peitschten gegen die Scheiben, flockiger Schnee stob durch die Luft. Jan fluchte. Er verschaltete sich. Das Zahngetriebe schrie herzzerreißend. Jetzt riss er das Lenkrad nach links. Sie waren wieder auf einem Forstweg. Jan drosselte das Tempo und die Fahrt wurde ruhiger. Melinda schielte nach dem Türgriff. Konnte sie ihn vielleicht mit dem Schuh betätigen, die Tür aufstoßen und aus dem Wagen springen? Wie kräftig waren ihre Beine? Wie weit würden sie sie durch den kniehohen Schnee tragen? Zur Probe streckte sie ihr Bein und schob die Stiefelspitze unter den Griff. Konnte klappen. Wieder stöhnte Jan auf. Sein Kopf ruckte herum. Schnell begab Melinda sich wieder in ihre alte Position. Er griff nach dem Rückspiegel. Drehte daran herum. Sah hektisch in die Seitenspiegel. Links. Rechts. Wieder links. Er wirkte panisch. Plötzlich peitschte ein Schuss durch den winterlichen Wald. Kurz darauf ein weiterer. Der Wagen brach nach rechts aus. Jan begann zu fluchen. Schlug mit dem Handballen wieder und wieder aufs Lenkrad ein. Jetzt hörte Melinda das Knattern von Motorrädern. Sie wurden verfolgt. Jan beschleunigte. Unerwartet riss er den Wagen nach links einen Hang hinunter. Die Baumstämme rauschten jetzt haarscharf an ihnen vorbei, Zweige und Äste knallten mit ohrenbetäubendem Lärm auf die Karosserie. Die Kofferraumscheibe knackte, als etwas Schweres dagegen schlug. Dann ein Rucken, ein Knall, wie bei einem Blitzeinschlag. Der Wagen legte sich quer und kippte. Melinda hob es von der Rückbank. Mehrmals schlug sie heftig mit Kopf und Oberkörper auf Glas, Polster, Sitzlehne. Jan verwandelte sich in einen rotierenden Schatten, den es hin und her warf wie einen Sack Kartoffeln. Tod, dachte sie. Tod. Wir werden sterben. Der Geländewagen rutschte auf der Seite liegend den Abhang hinunter, schlug mit dem Heck gegen eine dicke Kiefer, drehte sich um sich selbst, stürzte in eine flache Senke und blieb auf dem Dach liegen.
Melinda war sich sicher: so ein Unglück konnte man nicht überleben. Alles was sie noch sah, fühlte, roch waren nichts als Trugbilder, nichts als lockende Vorboten des Jenseits. Da ertönte eine Melodie. Leise zuerst, dann lauter. Heranrauschend, einlullend, polyphon und vertraut. Woher kannte sie sie? Bilder aus längst vergangenen Zeiten drängten sich auf. Abende mit der Familie vor dem Fernseher. Chips in einer Porzellanschale. Fettige Finger. Der dauerquatschende Vater. Die Mutter, welche ihn zur Ruhe ermahnt. Sonntag, 20:15 Uhr. Diese Krimiserie, wie hieß sie noch? Das war sie. Die Erkennungsmelodie. Plötzlich war ihr klar, dass sie nicht tot, sondern quicklebendig war, und dass die Melodie keiner Engelsschar, sondern ihrem Handy entströmte. Jan musste es ihr weggenommen und irgendwo vorn im Wagen abgelegt haben. Sie drehte den Kopf und sah, dass beide Seitenscheiben zersprungen waren. Schnee drängte in den Innenraum. Wenn sie es schaffte, sich dorthin zu wälzen und die gefesselten Hände auf den Glasrändern zu platzieren, dann konnte sie eine Chance haben, ihre Fesseln zu lösen. Sie zog die Beine an den Körper, verkantete sie hinter dem Fahrersitz und stieß sich ab. Gut. Dreißig Zentimeter waren schon einmal geschafft. Jetzt eine Brücke bauen, wie damals im Sportunterricht. Nur andersherum. Nicht ins Hohlkreuz gehen. Nach vorne beugen und dann krabbeln. Jans Stöhnen ließ sie innehalten. Er lebte! Wie eine Marionettenfigur hing er in seinem Gurt, der ihm gefährlich eng um den Hals lag. Später, Melinda, eins nach dem anderen, sprach sie sich Mut zu. Das zersprungene Autoglas hinterließ kleine abgerundete Nuggets, nicht zu vergleichen mit einem zerschlagenen Bilderrahmen. Melinda brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie die Fessel durchgescheuert hatte. Mehr als einmal schnitt sie sich in die Haut. Das Handy hatte unterdessen aufgehört zu klingeln. An der Wand zwischen Vorder- und Hintertür fand sie ein Notwerkzeug, mit dem man Fenster einschlagen und Gurte durchtrennen konnte. Schnitt für Schnitt befreite sie Jan aus seiner Verschnürung. Mit einem ungesund klingenden Poltern schlug er auf dem Boden auf und blieb dort zusammengekrümmt liegen. Er sah nicht so aus, als könnte er allein aus dem Wagen kriechen und den Weg zu Fuß weitergehen. Melinda musste einen Krankenwagen rufen, wobei sie sich fragte wie dieser sich durch den meterhohen Schnee pflügen sollte. Plötzlich hörte sie wieder das Knattern der Motorräder. Sie streckte den Kopf aus dem Wagen und sah drei dunkle Gestalten weit oben am Hang stehen und zu ihr herabblicken. Mit den Maschinen würden sie es nicht bis zu ihr schaffen. Der Schnee war zu tief. Wenn sie zu Fuß gingen, waren sie in frühestens zehn Minuten bei ihr. Melinda kroch in den Fahrerraum, dessen Einrichtung verkehrtherum über ihr hing. Der Inhalt des Handschuhfaches hatte sich über den ganzen Boden entleert. Taschentücher, eine aufgeplatzte Packung Hustenbonbons, Scheibentücher, ein Eiskratzer, Kugelschreiber, ein Fahrtenbuch, ein zerfledderter Autoatlas von 1999, Tankstellenbons, ein Paar Handschuhe. Ihr Handy fand sie schließlich in Jans Manteltasche, nachdem sie seinen Körper so gedreht hatte, dass er Luft bekam und sich nicht an Erbrochenem verschlucken konnte. Arndt hatte ihr mehrere Nachrichten geschrieben und versucht, sie anzurufen. Auch Sophie hatte etwas geschrieben. All das musste warten. Melinda wählte 112, teilte der Frau am anderen Ende mit was geschehen war und wo sie sich nach ihrem Ermessen befanden. Sie konnte bloß hoffen, dass ihre Gesprächspartnerin auf Zack war und die Hilfe schnell eintraf. In einer Seitentasche fand sie eine zusammengelegte Thermofolie, die sie sich um den Körper wickelte. Bevor sie aus dem Autowrack kroch, griff sie in den zerdellten Kofferraum und zog das Jagdgewehr heraus. Die verstreuten Patronen sammelte sie hastig zusammen und steckte so viele von ihnen wie möglich in ihre Hosentaschen.
»Alles gute, Jan!« Geduckt entfernte sie sich vom Unfallort. Ein Blick den Hang hinauf sagte ihr, dass die drei Typen die Verfolgung aufgenommen hatten. Verdammt! Ein zerschossener Reifen und der spektakuläre Absturz in die Tiefe genügte ihnen scheinbar nicht. Sie wollten sicher gehen, dass ihr Opfer, welches ihren Chef um mehrere hunderttausend Euro betrogen hatte, auch wirklich tot war. Melinda lud das Gewehr und beeilte sich wegzukommen. Gegen drei bewaffnete Männer konnte sie nichts ausrichten.
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