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Melinda öffnete langsam die Augen. Ihre Lider waren bleischwer, in ihrem Kopf schlug jemand von innen im Dauerstakkato gegen die Schädeldecke, während ein anderer hinter ihren Augäpfeln Felsbrocken aufschichtete, welche ins Rutschen zu geraten drohten und alles Innere nach außen drückten. Schmerzen. Höllische Schmerzen. Sie drehte den Kopf. Unmöglich. Vor den Augen verschwommene Bilder, bunte Schlieren. Sie lag auf etwas Weichem. Ihr rechter Arm hing herunter. Wo waren ihre Beine, ihr Unterkörper? Nebel. Ein feuchter Geruch stieg ihr in die Nase. Wolle. Tapete. Farbe. Weit entfernt ein Klappern. Ein kurzes Quietschen. Dann Schritte, die sich entfernten. Melinda kannte das. Sie träumte viel. Konkret und plastisch. Luzide Träume. Träume zum Anfassen, die sie nach Belieben steuern und beeinflussen konnte. Sie wusste, was sie in einem solchen Fall tun musste. Die Augen schließen und dem Traum befehlen, sich aufzulösen, sie erwachen zu lassen. Es funktionierte nicht. Sie versuchte es noch einmal. Nichts. Die Erkenntnis traf sie wie ein Hammerschlag. Dies war kein Traum. Sie lag nicht auf ihrer Küchenbank. Dies war ein Sofa. Ihre herunterhängende Hand berührte einen Teppich. Die Gerüche nach feuchter Wand, Tapete, Farbe und neuen Möbeln existierten nicht bloß in ihrer Vorstellung. Sie waren echt. Mühsam führte sie die Hand zu ihrem Gesicht, wischte sich über Mund und Augen. Der Nebel lichtete sich ein wenig. Sie sah eine holzgetäfelte Decke, hellbraune Auslegwaren auf dem Boden. Weiter hinten schien ein Fenster zu sein. Sehr klein und schmal. Das Licht, welches hindurchfiel, biss Melinda in die Augen. Sie sah an sich herunter. Jemand hatte ihr den Mantel ausgezogen und ihn auf einen Sessel neben dem Sofa gelegt. Ihre Hose war an den Knien verdreckt, ihre Hände schmutzig. Sie roch daran. Gartenerde und ein entferntes Aroma von frisch gefallenem Schnee. Zippo! Wo war er? Ruckartig richtete sie sich auf und stemmte sich aus dem Polstersofa, doch der Schwindel war stärker. Ihre Beine gaben nach, ihr Kopf war ein Trommelkonzert. Sie ließ sich zurück aufs Sofa fallen und klappte den Kopf auf die Lehne. Was war mit ihr geschehen? Wo war sie? Sie entdeckte die Tür. Stumpfes Metall. Glatte Flächen. Keine Klinke. In der Wand weiter hinten eine kleinere Tür. Eine Abstellkammer? Hinter ihr hing eine geschmacklose Stickerei, eingefasst in einen düster-braunen Holzrahmen. Glück im Spiel, Geld in der Liebe. War das nicht verkehrt? Musste es nicht heißen Pech im Spiel, Glück in der Liebe? Gedankenverloren fummelte sie an dem Stoff des Sofas herum. Nestelte hier an einer Naht, zog dort an einem Faden. Ließ die Hand über die Seitenfläche gleiten und in den Ritzen zwischen den Sitzkissen verschwinden. Versuchte zu erfühlen, was die Augen ihr vorenthielten. Sie ertastete Krümel, Chipsreste und etwas, das sich wie eine Socke anfühlte. Sie zog es hervor. Es war tatsächlich ein Strumpf. Weiß, darauf ein kleines rotes Herz. Ein Frauenstrumpf, etwa Größe 38. Er würde ihr passen. Gab es vielleicht noch einen zweiten? Ihr wurde klar, wie absurd es war, was sie hier tat. Sie zog die Hand aus den Polstern. Ihr kleiner Finger schrammte an etwas scharfkantigem entlang. Zuerst dachte sie an einen herausstehenden Draht. Das Sofa konnte kaputt sein. Sie fasste noch einmal vorsichtig nach und zog zu ihrem Erstaunen einen kleinen Schlüssel hervor. Was war das hier? Ein Escape Room? Musste sie Schlüssel finden, Rätsel lösen und geheime Türen öffnen, um hier herauszukommen? Melinda biss sich in den Handrücken. Es schmerzte. Kein Traum. Sie war tatsächlich hier.
Sie angelte nach ihrem Mantel, zog ihn zu sich heran und durchsuchte die Tasche nach ihrem Handy. Natürlich. Nichts. Wäre auch zu schön gewesen. Sie sah zu dem kleinen Fenster hinüber. Es war vergittert. Stahltür. Vergittertes Fenster. Feuchtigkeit. Sie befand sich in einem Keller. Sie war gefangen. Und die Gerüche, welche ihr in die Nase stiegen, kamen ihr immer bekannter vor. Sie hielt sich den Schlüssel vor das Gesicht. Suchte nach Möglichkeiten im Zimmer, ihn zu benutzen. Wenn es ihr gelang, die schmale Tür zu erreichen, würde sie ihn gern daran ausprobieren. Ein anderes Schloss gab es hier nicht. Sie rutschte vom Sofa und bewegte sich behutsam auf allen vieren vorwärts. Erneut wurde ihr schwindelig, doch es war erträglich. Sie atmete tief durch und krabbelte weiter. Wieder hörte sie das Klappern. Es kam aus Richtung der Metalltür. Sie drehte den Kopf und sah, dass sich eine kleine Luke geöffnet hatte und jemand zu ihr hereinschaute. Zeitgleich mit den Augen erkannte Melinda die Stimme.
»Schon wieder auf den Beinen! Bist ein tapferes Mädchen! Nicht mehr lange und wir gehen auf Schatzsuche. Freust du dich schon?«
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