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Für einen Tag unterhalb der Woche war das Restaurant gut besucht. Nur wenige Tische waren noch unbesetzt. In diesem Lokal sprach man nicht im Flüsterton, klimperte nicht verschämt mit Besteck und Gläsern. Lebhafte Unterhaltungen füllten den aus grobem Stein gemauerten Saal. Es wurde kernig gelacht.
Melinda ignorierte Arndts verstimmten Blick. Sie hatte keine Lust ihm zu erklären weshalb sie schon vorgefahren war. Vor ihr stand ein Ungetüm von Glas, gefüllt mit einer grünen Flüssigkeit, die wie pürierter Grasschnitt aussah. Melinda schien es zu schmecken. Genüsslich nuckelte sie an dem rotweiß gestreiften Strohhalm. Bullerjahn trank Bier aus einem Weizenglas. Als er es vor sich abstellte war sein Bart voller Schaum. Er schob Arndt einen Stuhl hin. Dann bemerkte er das Buch in dessen Hand. Arndt sah an sich herunter und erstarrte. Er wusste nicht wie es in seine Hand gekommen war, er verstand nicht weshalb er es mitgenommen und nicht in der Wohnung liegen gelassen hatte. Was wollte er hier damit? Bullerjahn lachte und versuchte ihn aufzuziehen.
„Na, kein Interesse an Gesellschaft? Lieber ein gutes Buch lesen?"
Arndt war nicht in der Stimmung auf Bullerjahns Scherz einzugehen. Seine Laune war heute Abend denkbar mies. Er steckte das Buch in die Innentasche seiner Jacke und brachte sie zur Garderobe. Dann ging er ins Herrenklo, wusch sich die Hände und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Was war los mit ihm? Schon beim Hereinkommen hatte er diese Schmerzen in den Knien gespürt. Sein Magen tat weh und in den Schläfen pochte sein Blut. Nein, bitte nicht jetzt. Bitte keinen Ausraster! Nicht hier! Seit seinem Aufenthalt in der Ostseeklinik war es ihm weitestgehend gelungen, größeren Menschenansammlungen aus dem Weg zu gehen. Er hatte die Blicke gespürt, vorhin als er hereingekommen war. Wie viele von den Leuten im Lokal hatten ihn erkannt? Ihn, den gerade noch einmal davongekommenen Kriminalkommissar, den Loser, der sich von einem Kriminellen in einem feuchten Erdloch hatte einsperren lassen? Bis heute verfluchte er diese Pressekonferenz, die sie ihnen damals aufgeschwatzt hatten. Die Übertragung war von Millionen im ganzen Land gesehen worden, in einer Sondersendung gleich nach der Tagesschau. Danach kamen die Mails, die ganzen Briefe und Postkarten, Anfragen von Journalisten und Fernsehmachern.
Fünf, sechs lange Atemzüge lang betrachtete er sich im Spiegel. Die dunklen Augenringe waren unverkennbar. Blass war er, die Haut teigig, die Augäpfel rot geädert. Tief einatmen, tief ausatmen. An schöne Dinge denken. Den Moment ihrer Befreiung. Die Spaziergänge am Meer. Er spürte wie es ihm wieder etwas besser ging.
Nur nicht zu lange wegbleiben. Das fiel auf. Niemand sollte sich unnötige Sorgen machen.
Als er zurück kam hatte Bullerjahn bereits das zweite Glas Bier vor sich. Melinda blickte von der Speisekarte auf.
„Alles in Ordnung, Kollege? Siehst nicht fit aus!"
Arndt war bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.
„Hatte wenig Schlaf letzte Nacht. Vielleicht kriege ich auch eine Erkältung. Keine Ahnung."
Die Kellnerin kam. Arndt bestellte ein Malzbier. Melinda und Bullerjahn waren schon weiter. Sie bestellten Omelette mit frischen Pfifferlingen und Rahmschnitzel mit Steinpilzen.
„Und sie, wissen sie auch schon ...?" Die Kellnerin wartete auf Arndts Bestellung. „Danke. Erst mal nur das Bier!"
Verschwörerisch beugte sich Bullerjahn zu ihnen über den Tisch.
„Stellen sie sich vor, eine der Köchinnen holt die Pilze täglich frisch aus dem Wald!"
Melinda sah Bullerjahn irritiert an.
„Ich kenne mich ja mit Pilzen nicht so aus. Aber ist es nicht zu kalt dafür? Wir hatten schon Schnee!"
„Nicht unbedingt. Habe gehört die Köchin kennt spezielle Stellen im Wald!"
Da schien der Kenner zu sprechen. Arndt befürchtete schon, dass sich die restlichen Gespräche des Abends um ähnlich belanglose Dinge drehen würden. Nach einem weiteren Schluck Bier wechselte Bullerjahn jedoch überraschend schnell das Thema. Bis zum Essen unterhielten sie sich über die vergangenen Dienstjahre. Arndt und Melinda plauderten von ihrer Zeit in Goslar, Bullerjahn von seinem Wechsel von Braunschweig nach Osterode.
„Wie kommt man auf die Idee von der Großstadt in ein solches Provinznest zu ziehen?"
Bullerjahn sah Melinda an. Er zögerte lange mit einer Antwort und schien plötzlich entdeckt zu haben wie interessant sein Bierglas von außen bedruckt war. Er drehte es nach links, nach rechts, dann wieder zurück. Die Antwort kam so leise, dass sie in dem Stimmengewirr nur mit Mühe zu verstehen war.
„Ein Fall lief anders als ich erhofft hatte."
Melinda griff sich ins Haar und löste eine hellgrüne Haarspange, mit der sie einen Augenblick lang herumspielte, um sie im nächsten Moment an einer anderen Stelle des Haares wieder festzustecken.
„Habe eine Situation falsch eingeschätzt, bestimmte Gefahren nicht gesehen ..."
Bullerjahn eierte herum. Seine Augen hatten einen feuchten Glanz angenommen. Es fiel ihm sichtlich schwer konkreter zu werden.
„Am Ende hat ein kleiner Junge seine Eltern verloren. Ende, aus."
Bullerjahn winkte ab. Als wolle er sagen: schaut mir nicht in die feuchten Augen. Arndt schluckte. Ein Bild erschien in seinem Kopf. Eine Tischszene. Er saß mit seinen Eltern beim Essen. Schon als kleiner Kerl hatte er Malzbier gemocht, hatte es beim Restaurantbesuch mit den Eltern auch immer bekommen, dann aber meist in einem unaufmerksamen Moment mit dem Ellenbogen vom Tisch gefegt. Und das mehr als nur einmal. Braunes, klebriges Zuckerwasser auf Tischdecke, Hose und Dielenboden.
„Sie sind doch nicht ... Sind die Eltern tot?"
„Nicht tot. Oder, vielleicht nicht tot. Sie, sie verschwanden einfach ..."
Arndt sah sich um. Der dicke Kerl da hinten mit den Locken und der Schweinshaxe, starrte der ihn an? Bestimmt kam er gleich rüber und quatschte ihn voll: Sind Sie nicht der entführte Bulle, hier mein nackter Arsch, bitte ein Autogramm. Ich wasche ihn garantiert nie wieder!
„Und jetzt glauben sie, dass sie die Schuld an all dem tragen, dass es ohne sie nicht so gekommen wäre."
Bullerjahn nickte. Sein Gesicht wirkte zerknitterter als zuvor.
„Die Sache ist noch etwas komplexer ..."
Oder pure Einbildung, dachte Arndt. Komplexität, klingt nach Komplex! Er schüttelte sich. Melinda straffte sich. Arndt wusste was hier lief. Melinda machte wieder einen auf Psychologin. Er spürte wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Seine Wangen kribbelten. Er konnte dieses Gejammer nicht ertragen. War er eifersüchtig? Quatsch!
„Der Junge zog zu seiner Tante und ich gab mir selbst die Quittung. Ich ließ mich versetzen. Wenn dir so was passiert trägst du für immer diesen Makel mit dir herum. Der klebt an dir wie ausgespucktes Kaugummi."
Dieses Gefühl kannte Melinda offenbar. Ihr mitfühlender Blick. Fehlte nur noch, dass sie dem alten Zausel die grauen Barthaare streichelte. Arndt erinnerte sich an sein gutes Benehmen, das er sich an der Ostsee mühsam antrainiert hatte, und auf das er so stolz war. Er hielt die Klappe und bemühte sich, Bullerjahn nichts von seiner Missbilligung spüren zu lassen. Dieser hatte jedoch beschlossen, es für heute gut sein zu lassen. Kein Herumstochern in der Vergangenheit, keine alten Geschichten, an denen man sowieso nichts mehr ändern konnte. Stattdessen bestellte er ein weiteres Bier. Arndt wusste worauf das hinauslief. Wahrscheinlich würde er Bullerjahn nachher in dessen Wagen nach Hause fahren müssen.
Als die Kellnerin das Essen brachte bemerkte Arndt, dass er noch immer nicht bestellt hatte. Er sah die junge Frau an. Sie wirkte verschwommen. Arndt brauchte einen Augenblick bis er wieder richtig sah. Er spürte den kalten Schweiß auf seiner Stirn. Die Schürze der Kellnerin war schmutzig, die Fingernägel ungepflegt. Arndt verging der Appetit. Essen und Besteck waren verteilt, die Kollegen beugten sich neugierig über ihre Teller. Die Kellnerin starrte Arndt mit ihren katzengrünen Augen an, wartete auf seinen Wunsch. Dabei spielte sie mit der Zunge in ihrem Mund herum, als würde sie sich den Belag von den Zähnen lecken.
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