72

Nur mit Mühe konnte Melinda Sophie daran hindern, den Kerlen hinterherzulaufen und ihnen mit der Axt den Wagen zu demolieren. Sie hörte wie Autotüren ins Schloss fielen. Ein Motor wurde gestartet. Kurz darauf fuhr ein Wagen mit schleudernden Reifen davon.
Sophie schäumte vor Wut. Sie befreite sich aus Melindas Griff und ließ sich auf den Boden fallen. Wie angestochen krabbelte sie über die verschneite Terrasse und sammelte zusammen, was von ihrer Fotoausrüstung übrig war.
»Das darf doch nicht wahr sein! Dieser Arsch! Dieser verdammte Arsch!«
Melinda steckte den Revolver zurück in den Hosenbund und half ihr. Es schneite noch immer heftig. Unter anderen Umständen hätte Jans Garten ein vorweihnachtliches Winterparadies abgegeben. Fehlten bloß noch der Tannenbaum und die Lichterketten.
»Sophie, was geht hier vor? Weshalb schleicht ihr hier herum?«
Schulterzucken.
»Ich habe euch gesehen! Zu zweit! Mit wem bist du hier?«
Sophie blickte in den Garten hinein, als stünde dort die Antwort geschrieben. Dann fuhr sie fort, Glassplitter und Metallteile in ihre Fototasche zu werfen.
»Was meinen Sie? Ich bin allein.«
Melinda stand auf, stemmte die Hände in die Seite und sah auf Sophie herunter.
»Erzähl das deiner Großmutter!«
»Die ist tot.«
»Wolltet ihr Dressler ausspionieren? Warum?«
An der Rückseite der Garage wurde von innen eine Tür geöffnet und Jannik trat heraus. Melinda starrte ihm ungläubig entgegen.
»Jannik, du? Was zum Teufel ...?«
Zippo war bei ihm, der sogleich zu Melinda lief und an ihr hochsprang. Sie freute sich und tätschelte ihm den Kopf. Jannik kam mit hängenden Schultern zu ihnen und musterte den mit Blut besprenkelten Schnee.
»Oh mein Gott, ist das ...?«
Melinda versuchte ihn zu beruhigen.
»Er hat's überlebt und ist bereits auf dem Weg zu Mutti.«
Jannik kratzte sich nervös am Hals.
»Es war meine Idee. Ich habe Sophie hierher gelockt.«
Sophie hob den Kopf. Ihr Blick signalisierte Unverständnis.
»Locken ist hier wohl das falsche Wort! Du hast mich gebeten, dir bei deinem Vorhaben zu helfen, weil ich mich mit einer Kamera auskenne! Es war meine Entscheidung mitzukommen. Kann ja keiner ahnen, dass diese Typen hier auftauchen! Was waren das eigentlich für welche?«
Jannik zuckte mit den Schultern und sah sie unbeteiligt an, woraufhin Sophie ihm einen Vogel zeigte.
»Der Typ hätte mir fast den Schädel eingeschlagen!«

Melinda dachte nach. Ihr Blick fuhr über die Hauswand und blieb an der notdürftig reparierten Wohnzimmerscheibe hängen. Jan hatte ihr erzählt, dass sich die Klinge seiner Axt gelöst und durch die Scheibe geflogen sei, doch die Axt lag wohlbehalten neben Sophie im Schnee. Entweder verfügte Jan über mehrere Äxte oder er hatte sie angelogen.
Sie sah sich das von innen verklebte Loch an. Hier konnte alles mögliche hindurchgeflogen sein. Das Glas war dünn und das Fenster nur einmalverglast.
»Neulich in der Bibliothek hast du mir wirklich sehr geholfen, Sophie! Das heißt aber nicht, dass du dich ohne Absprachen in laufende Ermittlungen ...«
Melinda unterbrach sich. Sie mussten nicht erfahren, was sie über Jan Dressler wusste und was sie über ihn dachte. Die Aktion mit den zwei Schlägern hatte gezeigt, wie schnell Dinge sich verselbständigen konnten.
»Weshalb Dressler?«
Sophie und Jannik drehten die Köpfe weg und schwiegen.
»Hey, ihr zwei! Weshalb Jan Dressler?«
Etwas in ihr schien die Antwort bereits zu kennen. Jannik brach das Schweigen. Seine Wangen hatten die Farbe von Rotwein angenommen.
»Das sind doch alles Schweine! Die haben ihr doch alle an den Hintern gefasst!«
Melinda wusste nicht, wovon er sprach. Sophie starrte ihn irritiert an.
»Die ganze Skatrunde. Alles perverse Grabscher!«
Tränen traten ihm in die Augen. Er ließ sie laufen.
»Du meinst die Skatrunde im Gasthaus? Warum hast du mir nicht schon früher davon erzählt?«
»Erschien mir nicht so wichtig.«
»Und jetzt ist es wichtig?«
»Weiß nicht ...«
Melinda rieb sich die Hände und sprang ein paar Mal auf und ab. Ihr war kalt.
»Hat Dressler Stella auch betatscht?«
Jannik nickte.
»Ständig diese Chauviesprüche, wenn sie an ihren Tisch kam und sie bediente!«
Sophie verzog das Gesicht. Melinda wurde unerwartet warm im Gesicht, was wohl an ihrer anschwellenden Halsader lag.
»Zum Beispiel?«
Jannik dachte nach. Melinda sah ihm an, dass er sich fremdschämte.
»So viele Kurven und ich ohne Bremse. Womit verhüten Emanzen? Mit dem Gesicht.«
Sophie tat, als würde sie sich den Finger in den Hals stecken. Melinda überkam die Lust, Dressler etwas sehr Böses anzutun. Jannik war ein weiterer Spruch eingefallen, doch Melinda hob abwehrend die Hand.
»Danke! Reicht!«
Sie sah Sophie einen großen Stein aufheben und in der Hand wiegen. Ehe Melinda sie daran hindern konnte, schmiss sie ihn durch die Panoramascheibe in Jans Wohnzimmer, wo er mit einem dumpfen Geräusch aufschlug. Sie rieb sich die Hände an der Hose sauber und lächelte zufrieden.
»Jetzt geht es mir schon besser!«

Jan Dressler wurde Melinda zunehmend unsympathischer. Was in Herrgotts Namen hatte er ausgefressen, dass jemand ihm zwei Geldeintreiber auf den Hals schickte? Sie trat näher an Jannik heran.
»Und da hast du gedacht, schmeiße ich dem Drecksack doch seine Scheibe ein und schau mal, ob er nervös wird ...«
Sophie verpasste Jannik einen Schlag vor die Brust.
»Du hast ihm die Scheibe eingeschmissen? Spinnst du?«
Sie schien vergessen zu haben, dass sie vor wenigen Sekunden dasselbe getan hatte. Jannik wurde noch röter im Gesicht. Er verlor die Beherrschung.
»Aber es passiert doch nichts! Irgendwo da draußen rennt Stellas Mörder rum, krault sich die Eier und keiner tut was!«
Jetzt wandte er sich direkt an Melinda. Seine Gesichtszüge waren verhärtet, die Augen loderten.
»Und du? Ich dachte du bist hier die Superpolizistin! Tust immer so überlegen, kriegst aber auch nichts auf die Reihe ...!«
Melinda hielt seinem Blick stand und hatte Mühe, ihren Zorn zu bändigen. Gern hätte sie Jannik die Beretta an den Hals gedrückt und ihm gezeigt, wer hier das Sagen hatte, doch sie entschied sich für die Gegentaktik.
»Ich bin nicht mehr bei der Polizei. Habe den Dienst quittiert.«
Sophie und Jannik starrten sie mit großen Augen an.
»Ich ermittle privat im Fall Stella Blume. Zufrieden?«
Sophie war aufgesprungen. Ihre zerstörte Fotoausrüstung schien sie vergessen zu haben.
»Aber das ist doch super! Privatermittlerinnen brauchen Helfer!«
Sie zog den verdatterten Jannik zu sich heran, gab ihm einen Kuss auf die Wange und grinste Melinda zufrieden an.
»Na wenn ihr meint! Wir müssen Dressler finden. Ich glaube, er weiß mehr über Stellas Tod, als er bisher zugegeben hat.«
Mit einem Winken forderte sie die beiden auf, ihr zum Auto zu folgen.

Es wurde Abend. Der Schneefall ließ nach und öffnete den Blick auf eine weiße Wunderwelt. Weiße Wiesen, weiße Dächer und Plätze, zugeschneite Straßen und Gehwege, auf denen man sich nur schleichend fortbewegen konnte. Über allem lag eine Stille, wie Melinda sie lange schon nicht mehr erlebt hatte. Sobald sie zurück in ihrem Gartenhaus war, wollte sie Weihnachtssterne basteln, obwohl sie das zuletzt als Kind getan hatte und nicht mehr wusste, wie man das machte. Sie steuerte den Wagen ziellos durch die Stadt. Auf der Rückbank saßen Sophie und Jannik eng aneinander gequetscht, was ihnen jedoch nichts auszumachen schien. Im Gegenteil.
»Wer bezahlt dich?«
Melinda fing Sophies Blick im Rückspiegel auf.
»Niemand.«
»Wie niemand? Wovon lebst du dann?«
»Von krimineller Energie, die aus allen Richtungen auf mich einprasselt.«
»Aha.«
Sie fuhren jetzt an der Pizzeria in der Eisensteinstraße vorbei. Trotz der Kälte hatte sich eine lange Menschenschlange gebildet. Melinda setzte den Blinker und hielt auf einem Parkstreifen. Sie zeigte nach draußen und verspürte plötzlich Lust, ihren mitleiderregenden Kontostand zu ignorieren.
»Habt ihr Hunger? Ich gebe eine aus.«
Die zwei Kuschelhasen auf dem Rücksitz waren begeistert.
Melinda reichte Sophie einen 50-Euro-Schein nach hinten.
»Für mich bitte eine Vier-Jahreszeiten. Mittlere Größe.«
Widerwillig krabbelten die beiden aus dem Wagen, liefen über die Straße und reihten sich in die Schlange ein. Melinda schaltete das Radio ein, wo sie gerade ein Kriminal-Hörspiel über einen bewaffneten Banküberfall brachten. Melinda hörte nur oberflächlich zu. Sie schaltete zu einem anderen Sender, wo Musik gespielt wurde. Money for nothing von den Dire Straits. Das Stück gefiel ihr. Sie dachte noch einmal über die absurde Situation am Forsthaus nach, diesen merkwürdigen Zufall, der sie mit den Geldeintreibern, Sophie und Jannik zusammengeführt hatte. Melinda wusste nun, dass Jan in irgendeine krumme Sache verwickelt war. Er schuldete jemandem Geld, jemandem, der sich der General nannte. Sie rief Arndt an. Er nahm gleich ab.
»Bist du noch im Büro?«
»Wollte gerade gehen.«
»Sagt dir der Name ›Der General‹ etwas? Muss ein Spitzname oder sowas sein.«
Stille am Ende der Leitung. Dann hörte Melinda eine Frau lachen und sich entfernen. Eine Tür schlug zu.
»Kommt mir bekannt vor.«
»Kannst du das System bitte mal damit füttern? Ist eilig.«
Es klackte. Arndt musste das Telefon auf den Tisch gelegt haben. Melinda sah hinüber zur Pizzeria. Sophie und Jannik waren nicht mehr zu sehen. Sie drehte das Radio lauter und lauschte den Gitarrenriffs. Beinahe hätte sie nicht mitbekommen, dass Arndt wieder in der Leitung war.
»Entschuldige! Hier läuft gerade Money for nothing. Kennst du bestimmt. Ich kann mir nicht helfen aber das Stück passt wunderbar zu unserem Fall ...«
»Du meinst es passt zu deinem Fall, Melinda. Deinem Fall!«
»Okay, meinem Fall. Habt ihr euren Einbrecher gefunden?«
»Nein. Die Sache ist für uns gegessen. Ein Einbruch, bei dem nichts gestohlen wird, ist kein richtiger Einbruch.«
Melinda konnte sich nicht helfen. Es tat gut, Arndts Stimme zu hören.
»Wenn du meinst!«
»Der Mann, bei dem zuletzt eingebrochen wurde, heißt übrigens Bretschneider. Oliver Bretschneider. Ich habe ihm deine Nummer gegeben und gesagt, dass du ihm vielleicht weiterhelfen kannst.«
»Danke!«
»Gern geschehen. Jetzt zu deinem General. Der Name taucht tatsächlich ein paar Mal im System auf. Mit bürgerlichem Namen heißt der Kerl Simon Kühn. Er ist mehrfach vorbestraft wegen illegalem Glücksspiel und Betrugs in zwei Fällen. Scheint ein eher kleiner Fisch zu sein.«
»Er hat also was mit Geld zu tun.«
»Sieht ganz danach aus. Darf ich fragen was dieser Typ mit deinem Fall zu tun hat?«
Melinda grinste ihn durchs Telefon an.
»Schon vergessen? Es ist mein Fall! Danke und bis morgen Abend! Grüße Lissi von mir.«
Sie legte auf.
Jannik klopfte an die Seitenscheibe und krabbelte zurück ins Auto. Sophie folgte ihm, in der Hand drei Pizzakartons, aus denen es verführerisch nach Salami, Pilzen und zerlaufenem Käse duftete. Jannik streckte Melinda pflichtbewusst das Restgeld entgegen.

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