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Ein kräftiger Wind pfiff ums Haus. Er kam von Osten und brachte Kälte und neuen Schnee. Das Licht draußen wurde zunehmend grauer. So war das immer in der Vorweihnachtszeit. Kälte, Schnee, dann plötzlich wieder Wärme und Tauwetter. Jannik saß auf seinem Bett und starrte aus dem Fenster. Er liebte weiße Weihnachten, doch auch darauf konnte man sich in diesem Jahr nicht verlassen. Gab es überhaupt irgendetwas, auf das man sich in diesem Jahr verlassen konnte? Stella war tot, das Gasthaus noch immer geschlossen, sein Vater kaum wiederzuerkennen. Die Fragen nach dem Wer, dem Weshalb waren in den letzten Tagen übermächtig geworden, ohne dass Jannik und sein Vater sich auch nur ein einziges Mal miteinander unterhalten, ihre Sorgen und Nöte miteinander geteilt hätten. Keiner schien auf den anderen zugehen zu wollen, keiner schien den ersten Schritt zu wagen, der so vieles erträglicher gemacht hätte.
Seine nackten Zehen spielten mit den Flusen des Flokatis, wühlten sich durch das weiße Haar, diese undurchdringliche weiche Kunstwiese, wobei seine Füße immer weiter unters Bett wanderten. Erschrocken zog Jannik den rechten Fuß zu sich heran. Sein Hacken hatte etwas Kaltes, Metallisches berührt. Er sprang auf und sah unters Bett. Der Koffer. Verdammt, den hatte er komplett vergessen! Jannik zog ihn hervor, legte ihn aufs Bett und öffnete ihn. Er war leer wie am ersten Tag. Die verknickten Flugtickets steckten jedoch noch immer in der Seitentasche. London. New York. Manila. Shanghai. Toronto. Stella war viel gereist. Jannik fragte sich noch immer, woher sie das viele Geld genommen hatte. Solche Fernreisen bestritt man nicht mit dem Gehalt einer Küchenhelferin. Hatte sie geerbt? Besaß sie lukrative Nebeneinkünfte? War sie auf den Strich gegangen? Das schlechte Gewissen bohrte sich in seinen Magen. Er sollte den Koffer Melinda zeigen. Sie würde vermutlich die richtigen Schlüsse ziehen, doch eine innere Stimme ließ ihn zögern. So wie vor zwei Wochen, als sein Bauchgefühl ihm sagte, dass der Koffer unter seinem Bett besser aufgehoben wäre. War das so? Was erhoffte er sich davon? Glaubte er tatsächlich, Stellas Geheimnis im Alleingang lösen, ihre Geldquelle auf eigene Faust finden und anzapfen zu können? Er wusste es nicht, wollte es aber dennoch versuchen. Etliche Male hatte er den Koffer schon abgeklopft und von allen Seiten unter die Lupe genommen. Bis auf die Tickets hatte er nie etwas gefunden. Jannik wollte den Koffer gerade wieder schließen, als er die aufgeribbelte Naht am Innenfutter bemerkte. Weshalb war ihm die bisher nicht aufgefallen? Er schaltete das Deckenlicht an, um besser sehen zu können. Tatsächlich, an der Seitenwand des Koffers hatte jemand das Futter gelöst und mit beinahe unsichtbaren Stichen wieder festgenäht. Aus der Schreibtischschublade holte er eine Schere und begann, die Naht vorsichtig zu durchtrennen. Als er sie etwa eine Handlänge geöffnet hatte, griff er in das Innenfutter und tastete den dahinterliegenden Hohlraum ab. Da war etwas! Er musste die Naht noch weiter öffnen und die Finger ganz lang machen. Wenige Sekunden später hielt Jannik ein flaches Stoffpäckchen in der Hand. Es hatte die Größe eines flachen Spielkartenstapels und wog auch in etwa so viel. Jannik wickelte es auseinander und staunte nicht schlecht, als ein Personalausweis, ein Reisepass und ein Universitätsausweis zum Vorschein kamen, alle drei ausgestellt auf den Namen Iris Brandt, geboren am 20.06.1986 in Bad Harzburg. Jannik stutzte. Dieser Koffer gehörte gar nicht Stella? Und wenn doch, weshalb versteckte sie die Papiere dieser Iris darin? Jannik starrte auf die Ausweise, blätterte durch den Reisepass. Er war überrascht, wie ähnlich sich Stella und diese Iris sahen. Sie hätten Geschwister sein können. Der Perso und der Reisepass waren im letzten Jahr abgelaufen, die Fotos darauf viele Jahre alt, und doch ... Jannik holte eine Lupe und betrachtete die Bilder genauer. Da! Er hatte sich nicht getäuscht. Der kleine Leberfleck neben dem linken Auge. Genau so einen Leberfleck hatte auch Stella gehabt. Dann die Augenfarbe. Identisch. Die Ohrform, der Mund, die Kinnpartie. Was war hier los? Diese Iris Brandt, das war doch eindeutig Stella! Jannik drehte sich der Kopf. Er legte die Ausweise zurück in den Koffer und ließ sich aufs Bett fallen. Draußen tanzten große Schneeflocken gegen die Scheibe. Einige von ihnen blieben für kurze Zeit kleben und schienen zu ihm hereinzuschauen. Er meinte zu hören, wie sie ihn auslachten, sich über ihn lustig machten, weil er die wahren Gesetze des Waldes niemals verstehen würde. Jannik dachte an den Baumstamm auf der Lichtung, auf dem er mit Melinda gesessen hatte. Sie hatte ihn gefragt, wie weit es von dort zum Hochwasserbehälter und zum Fundort von Stellas Leiche war, auf welchem Weg man die Lichtung normalerweise erreichte, ohne dass man mühevoll durch die Schonung kriechen musste. Nun war ihm klar, wer den Stamm auf die Lichtung gezogen haben musste. Jan Dressler. Und er hatte ihn für Stella dorthin gebracht.
Jannik griff nach seinem Handy und wählte Sophies Nummer, die sie ihm vor Urzeiten einmal gegeben hatte. Kennengelernt hatte er Sophie in der Foto-AG, die er mit Mühe und Not überlebt und Sophie mit Bravour abgeschlossen hatte. Für seine Nachforschungen brauchte er jemanden, der eine professionelle Fotoausrüstung besaß und etwas von seinem Handwerk verstand. Beides traf auf Sophie zu. Außerdem war sie hübsch und cool drauf. Sie hatte bestimmt nichts gegen ein bisschen Detektivspielen. Jannik ließ es lange klingeln. Als sie auch nach einer Minute nicht dranging, schrieb er ihr eine Nachricht.
Hast du Lust auf eine kleine Observation? Brauche jemanden mit Fototalent! Zwinker-Smiley.
Jannik hoffte, dass Sophie seine Anfrage nicht missverstand und ihm eine billige Anmache unterstellte. Wenige Sekunden später kam eine Antwort, die alle seine Zweifel beseitigte.
Aber gerne! Bin gerade sowieso ermittlungstechnisch unterwegs! Was bekomme ich als Lohn ...? Herzchen-Smiley.
Jannik schlug das Herz bis zum Hals. Er schrieb zurück: Such es dir aus! Treffen bei mir vorm Haus. Morgen 18 Uhr.
Der Schneefall vor dem Fenster wurde stärker.
Morgen kann ich nicht. Wie wäre es mit heute?
Jannik warf einen Blick auf die Uhrzeit.
Noch besser! Weißt du wo du hin musst? Lupe. Fußspuren.
Du wohnst im Gasthaus am Wald. Finde ich! Tanne. Vollmond. Sterne.
Top! Bis dann!
Bis dann!
Jannik dachte nach. Was hatte Sophie gemeint, als sie sagte, dass sie gerade »sowieso ermittlungstechnisch unterwegs« sei? Hatte wahrscheinlich nichts zu bedeuten. Sophie war bekannt für ihre quirligen Einfälle, die sie nur schwer für sich behalten konnte.
Er und sie eng beieinander im Versteck lauernd, darauf wartend, dass sich bei den Skatmännern etwas Interessantes tat, das malte Jannik sich in den schönsten Farben aus, während er in seinem Kleiderschrank nach Klamotten suchte, die ihn bei seiner Überwachungsaktion bestmöglich tarnten.
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