68

Melinda wusste nicht wie lange sie in Nikkis Klappstuhl gekauert hatte. Irgendwann öffnete sie die Augen und die Halluzinationen waren verschwunden. Zurück blieb ein bohrender Schmerz hinter der Stirn. Das Licht im Garten war trüb. Die grauen Wolken hingen jetzt direkt über ihr. Sie fror. Winzige Schneeflocken schraubten sich zu ihr herab, legten sie wie Schuppen auf ihre Mantelärmel und schmolzen im Bruchteil einer Sekunde. Melinda legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund. Sie hatte Durst. Der Stuhl neben ihr war leer. Von Nikki keine Spur. War sie in der Hütte oder im hinteren Teil des Gartens? Melinda wuchtete sich hoch, klopfte die Feuchtigkeit von ihrem Mantel und spähte durch das Fenster in die Hütte. Das rote Licht war ausgeschaltet worden, das Häuschen leer. Melinda versuchte es an der Tür. Abgeschlossen. Vielleicht war es besser so, dachte sie. Als Ex-Polizistin sollte sie sich nicht mit einer Haschbäuerin anfreunden, geschweige denn von ihren Früchten naschen. Die Idee, weniger Chemie und mehr natürliche Substanzen zu konsumieren, fand sie jedoch reizvoll. Sie besaß ja nun einen Garten, in dem so manches heilsame Kraut wuchs. Was hatte ihr die alte Frau mit dem Hund von Fliegenpilzen erzählt? Da sollte sie noch einmal genauer nachfragen!

Melinda verließ Nikkis Garten. Sie dachte an Zippo und blickte auf ihr Handy. Sie war nicht einmal eine Stunde lang weggewesen. An ihrem Zaun angelangt rief sie nach ihm. Kein Zippo. Sie rief noch einmal. Nichts. War er etwa schon wieder ausgebüchst und buddelte irgendwo Tierknochen aus? Das Telefon klingelte. Es war Arndt. Er hatte gute Nachrichten für sie. Aus einem unerfindlichen Grund freute sich Melinda, seine Stimme zu hören.
»Das ging aber fix, Kollege!«
»Lissi hatte gerade nichts anderes auf dem Tisch und so ...«
»Verstehe.«
»Das Ergebnis müsste gleich bei dir angekommen.«
Zwei Sekunden später vibrierte Melindas Handy.
»Und was sagst du?«
Arndts Stimme wirkte gehetzt. Sie klang als säße er in einer Kleiderkammer.
»Hockst du in einem Schrank?«
»Sehr witzig! Ich bin mit Bullerjahn in Riefensbeek, wegen dieser Einbrüche. Habe mich kurz aufs Klo zurückgezogen. Pension Waldblick. Und tatsächlich, wenn ich hier aus dem Fenster gucke, sehe ich den Wald.«
»Aus dem Klofenster ...«
»Genau.«
Melinda öffnete das Bild. Wieder hatte Lissi ganze Arbeit geleistet. Der Nacken, groß im Bild, Helligkeit und Kontraste optimiert. Das in Sonjas Nacken war eindeutig ein Bär. Derselbe Bär, den Richard Harms trug. Derselbe Bär, den Stella Blume sich hatte tätowieren lassen. Zufall? Daran glaubte Melinda nicht mehr. Was sagst du zu alldem, Sonja? Oder sollte ich dich besser Stella nennen?
»Sag Lilli einen schönen Dank! Schenke ihr von mir aus einen Strauß Rosen.«
»Hat sie schon. Sagst du mir, worauf du gestoßen bist?«
»Morgen bei Beas Lesung.«
»Na gut.«
Melinda legte die Hand auf das Handy und rief noch einmal nach Zippo. Nichts. Am anderen Ende der Leitung wurde eine Klospülung betätigt.
»Ich muss jetzt wieder ...«
Arndt war kurz davor aufzulegen. Melinda versuchte, das Gesprächsende noch einen Moment hinauszuzögern.
»Gab es schon Reaktionen auf den Zeitungsartikel?«
Arndt lachte auf.
»Seit heute Früh stehen die Telefone nicht mehr still. Bea hat nicht einmal Zeit, sich in der Mensa einen Kaffee und ein Brötchen zu holen.«
»Die Spezialisten haben also erstmal genug zu tun.«
»Oh ja, das haben sie! Den Spreu vom Weizen trennen. Das Übliche. Melinda, ich muss jetzt schlussmachen. Bis morgen.«
»Bis morgen, Arndt.«
Sie legte auf. Komisch, dachte sie, jetzt wo wir nicht mehr im Präsidium aufeinander hocken, uns nicht mehr täglich sehen, verstehen wir uns viel besser. Doch so ist das wohl im Leben. Manchmal muss man sich erst aus den Augen gehen, um sich wirklich zu sehen.

Als sie bei ihrem Gartenhaus ankam, rief sie noch einmal nach dem Hund. Noch immer keine Reaktion. Sie lief hinter die Hütte und inspizierte das Loch im Zaun. Melinda ärgerte sich. Sie hätte es längst mit Brettern oder einer Holzplatte verschließen sollen. Auf allen vieren kroch sie über den Haufen aus Altholz und rostigen Metallteilen und steckte den Kopf durch das Loch. Und tatsächlich. Rechts von ihr, ganz am Ende der Gartenreihe, hinter dem verwilderten Garten der beiden jungen Frauen, sah sie Zippo schnüffelnd am Zaun entlanglaufen. Melinda rief ihn noch einmal und nun reagierte er. Schwanzwedelnd kam er zu ihr gelaufen. Melinda gelang es nicht, den Kopf schnell genug zurückzuziehen. Zippo nutzte seine Chance und leckte ihr einmal quer durchs Gesicht. Der Duft nach dunkler Erde, nassen Wurzeln, feuchtem Laub und etwas anderem undefinierbarem drang in ihre Nase.
»Zippo, du Ferkel! Wo warst du?«
Melinda hoffte, dass er nicht erneut, wie in der vergangenen Woche, menschliche Exkremente gefunden und verspeist hatte. In diesem Punkt wurde sie aus Hunden einfach nicht schlau. Sie würde niemals verstehen, weshalb sich so viele Menschen in öffentlichen Parkanlagen, neben Gehwegen und hinter Blumenrabatten erleichterten. War das ein Hobby oder die pure Not und Verzweiflung? Früher hatte sie sich solche Fragen nie gestellt, als Hundebesitzerin waren sie ihr zur täglichen Routine geworden. Als Maria Zucker könnte sie ein Buch darüber schreiben. Melinda Sieben jagt den Fäkalisten.

Melinda schüttelte sich, richtete sich auf und ließ Zippo durch das Loch zurück in den Garten klettern. Sie zog eine wellige Holzplatte aus dem Müllberg und stellte sie an den Zaun. Mit ein paar herumliegenden Findlingen sorgte sie dafür, das diese nicht umfiel und Zippo sie mit seiner Schnauze nicht zur Seite drücken konnte.
»So, mein Freund. Aus die Maus! Ist nichts mehr mit Wegrennen!«
Sie kraulte ihn im Nacken und zwischen den Ohren. Die Schnauze berührte sie nicht einmal mit der Spitze des kleinen Fingers.

Morgen würde sie sich mit Arndt austauschen. Er würde ihr Unterlagen zu Richard Harms mitbringen und sie ihm im Gegenzug den Stand ihrer Untersuchungen mitteilen. Bis zur Lesung am morgigen Abend waren es noch etwas mehr als 24 Stunden. Da konnte sie noch einiges schaffen. Nachdem sie sich etwas zu Essen zubereitet hatte, gebratene Paprika, Champignons, Tofu mit wahllos im Garten zusammengesammelten Kräutern, setzte sie sich mit ihrem Teller an den Tisch und blätterte noch einmal die Fallakte durch. Vielleicht fand sie etwas, das sie bisher übersehen hatte. Klar war, dass Nina sich vor irgendetwas oder, wie Jannik treffend bemerkt hatte, vor irgendjemandem gefürchtet hatte. So sehr, dass sie zu dessen Abwehr selbst vor magischen Praktiken nicht zurückgeschreckt war. Melinda war sich sicher, dass diese Bedrohung mit Ninas Tod zusammenhing. Dazu passte jedoch nicht, dass sich ihre Angst plötzlich in Luft aufgelöst und sie ihre Abwehrzauber übertapeziert hatte. Was war geschehen? Hatte Nina sich professionelle Hilfe bei einem Therapeuten gesucht? Hatte jemand anderes ihr geholfen?
Was hatte die beiden Frauen in diese Kleinstadt verschlagen? Weshalb hatten sie in einem Schrebergarten gelebt? Hatte das Geld nicht für eine Wohnung gereicht oder war es nicht wahrscheinlicher, dass sie bewusst einen abgeschiedenen Ort gewählt hatten? Einen Ort, wo sie niemand belästigte, wo niemand sie fand, niemand nach ihren wahren Namen fragte? Wenn Sonja in Wirklichkeit Stella Blume hieß und diese wiederum Ninas Schwester war, konnte Melinda dann davon ausgehen, dass die Tote Nina Blume hieß? Nein. Von einer Schwester stand nichts in der Akte. Also war Nina doch nur eine Freundin? Fragen über Fragen und bisher nur bruchstückhafte Antworten. Melinda hieb mit der Faust auf den Tisch, knapp neben den Teller mit dem Tofu.

Sie las noch einmal Skagens Bericht über seine Begegnung mit den beiden Jungen, denen er bei der Reparatur ihrer Waldbude geholfen hatte. Er hatte dort die Schutzfolie eines Lollis gefunden, der er im Bericht große Bedeutung beimaß. Das Wort »Lollipapier« hatte er mehrfach unterstrichen. Skagen hatte den Jungen erklärt, dass man seinen Müll nicht achtlos in den Wald schmiss und diese hatten ihm beteuert, dass es nicht von ihnen stamme. Na gut, dachte Melinda, dann hatten eben irgendwelche anderen Kinder die Bude zwischenzeitlich besucht, Lollis geschleckt und die Behausung danach mutwillig kaputt gelatscht. Sie besah sich das Foto der Lollifolie, die wie eine x-beliebige Folie aussah, noch einmal genauer. Sie war durchsichtig. In weißer Schrift stand darauf: Original Gourmet Lollipops. Choose to Smile. Candy Apple. Made in the USA. Melinda war überrascht. Zwar war sie keine Süßwarenexpertin, doch lief sie mit wachen Augen durch die Supermärkte und kannte das Angebot in groben Zügen. Einen solchen Lolli hatte sie noch nie gesehen. Sie schob sich eine Gabel von ihrem Essen in den Mund und schnappte sich das Handy. Sie gab Original Gourmet Lollipops in die Suchmaschine ein und erntete auf Anhieb über 200 Treffer. Mindestens 50 Onlineshops führten die Lollis in ihrem Sortiment. Es gab sie in vielen Geschmacksrichtungen, die alle eher ungewöhnlich waren. Watermelon, Banana Split, Bubble Gum, Cotton Candy, Orange Splash, Wild Cherry und Candy Apple. Für einen Moment war Melinda versucht, sich spontan einen Karton mit einhundert Stück in allen Geschmacksrichtungen zu bestellen, doch dann erinnerte sie sich an ihren Kontostand und ließ es sein. Zudem waren Lollis kein wirklicher Ersatz für bewusstseinserweiternde Pillen oder ein gut schmeckendes Kraut. Melinda fotografierte die Lollifolie mit ihrem Handy. Sie wollte sich in der Stadt umsehen. Vielleicht hatte sie Glück und es gab doch irgendeinen Laden oder einen Kiosk, der diese außergewöhnliche Süßigkeit verkaufte. Sie dachte wieder an Jan und das geklaute Notizbuch. Auch da war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Melinda hielt es für das beste, so bald wie möglich zu ihm zu fahren und ihn zur Rede zu stellen. Was sollte sie sonst anderes tun? Es war besser, die Sache schnell aus der Welt zu schaffen. Sie mochte Jan noch immer und wollte es sich auf Dauer nicht mit ihm verscherzen. Wenn sie genauer darüber nachdachte, dann war es genau andersherum. Er hatte es sich mit ihr verscherzt.

Auch wenn sie mit ihren Ermittlungen mehr als genug zu tun hatte, wollte Melinda noch immer mehr über den Wandersmann erfahren. Am liebsten wäre sie schon vor Tagen in Eberts Archiv zurückgekehrt, doch zurzeit verhielt sich ihr unsichtbarer Gast ruhig und unauffällig. Lag es daran, dass er an Melindas Entscheidungen nichts auszusetzen hatte, sie vielleicht sogar guthieß? Schon länger beschlich sie die Ahnung, dass er sie in eine bestimmte Richtung lenkte. Weg von den Mordermittlungen und hin zu Freislers Waldhütte, in der sie so viele Tage gefangen gehalten worden war. Immer vorausgesetzt, dass sie das rätselhafte Geraune des Dämons richtig interpretiert hatte. Dass der Spruch »Lösungen müssen sich nicht in jedem Fall auf diejenigen Probleme beziehen, die sie lösen sollen« aus einem Buch stammte, welches Melinda während ihrer Reha an der Ostsee gelesen hatte, wusste sie inzwischen. Auch dass sie den Spruch eigenhändig auf ein Stück Papier geschrieben und in der Küche der Gästewohnung platziert hatte, hielt sie noch immer für wahrscheinlich. Die Frage war, ob sie dies aus freien Stücken getan oder ihr nicht vielmehr der Wandersmann die Worte zugeflüstert und sie genötigt hatte, diese aufzuschreiben? Es war kompliziert. Zu kompliziert. Bullerjahn hatte recht wenn er sagte, dass Melinda Licht in die Sache bringen sollte, bevor auch sie auf die Idee verfiel, sich den Lauf einer Waffe in den Mund zu stecken. Sie sah hinüber zum Spülschrank, in dem die Beretta versteckt lag.
Melinda aß den Teller leer, leckte ihn sauber und stellte ihn ins Spülbecken. Sie füllte ein Glas mit Leitungswasser und trank es in einem Zug leer. Dann rief sie Bullerjahn an, der noch immer mit Arndt in der Pension Waldblick war, und fragte, wann sie ins Archiv könne.
»Jederzeit. Bea gibt dir die Zugangskarte. Die Geschichte mit den Einbrüchen hier wird übrigens immer kurioser. Hat sich ja schon Steffens die Zähne dran ausgebissen. Jemand steigt in Häuser ein und nimmt nichts mit. Im Gegenteil, er lässt sogar noch was hier! Ich kapier's nicht! Vielleicht kannst du dich ja beizeiten mal drum kümmern!«
»Immer gerne, wenn das Honorar stimmt.«
Bullerjahn lachte.
»Du fehlst uns, Melinda!«
»Ja Mattias, ich hörte davon!«
Jetzt war sie es, die lachen musste.

Noch einmal ließ sie Zippo allein im Garten zurück. In spätestens einer Stunde wollte sie wieder da sein. Dieses Mal fuhr sie mit dem Rad. Sie folgte dem Weg an den Gärten entlang, der sie zu einem mit Sperrholzplatten vernageltem Backsteingebäude, dem ehemaligen Südbahnhof führte. Gerade schlossen die Schranken. Weit entfernt, am Ende der Gleise, sah Melinda die Lichter des Zuges funkeln. Sie bog nach links auf eine Kopfsteinpflasterstraße ab und dachte, dass ihr altes Fahrrad wunderbar zu dieser aus der Zeit gefallenen Holperstrecke passte. Sie fuhr an dem offenstehenden Tor einer Speditionsfirma und an einer geschlossenen Kneipe mit dem Namen »Spintich« vorbei, passierte hell gestrichene Wohnhäuser und ein Fotogeschäft. Nach einem kurzen Anstieg, bei dem sie kräftig in die Pedalen treten musste, kam sie auf die Herzberger Straße, radelte am hoch aufragenden Gebäude der Kreisverwaltung vorbei und von dort die Waldstraße hinunter zum Präsidium. Trotz der Kälte und Nässe tat ihr die Bewegung gut und sie beschloss, nie wieder mit dem Auto zu fahren, wenn es nicht unbedingt notwendig war.

Auf dem Parkplatz des Präsidiums standen nur wenige Autos. Bullerjahns war nicht dabei, also waren er und Arndt vermutlich noch immer unterwegs. Eine Kopiermaschinenfirma hatte ihren Sprinter quer vor den Fahrradständer geparkt, so dass Melinda nur mit großer Mühe ihr Rad abstellen und festschließen konnte. Sie verspürte große Lust, ihren Schlüsselbund aus der Tasche zu ziehen und dem schicken blauen Transporter eine hübsche Blessur zu verpassen, doch bevor sie die Wut zu unschönen Taten verleitete, riss sie sich besser am Riemen und kümmerte sich nicht um die mangelnden Parkkünste anderer Leute.
Beim Betreten des Flures, in dem sich die Büros der Kripo befanden, fühlte sich Melinda an ihren ersten Tag im Präsidium zurückversetzt. Schummriges Licht, Staubflocken in der Luft, kalter Zigarilloqualm. Vor dem Kopierer hockte ein Techniker und studierte einen Schaltplan. Papierkassetten standen auf dem Boden, Kabel ringelten sich durch umherliegendes Werkzeug. Die Tür zu ihrem ehemaligen Büro, in dem sich nun die Spezialisten breit machten, stand offen. Melinda sah Bea neben den Polizisten Kerner und Aust stehen und etwas auf einen Notizblock schreiben. Heute trug sie ein fliederfarbenes Kostüm mit winzigen weißen Blüten. Die Haare waren frisch gefärbt und geschnitten. Von den Spezialisten erblickte Melinda nur die Frau, die breitbeinig vor den Stellwänden mit den Ermittlungsergebnissen stand und mit den Armen fuchtelte. Sie trug noch immer ihre akkurat gebügelte und perfekt sitzende Dienstuniform und einen strengen blonden Dutt. Für einen winzig kleinen Augenblick war Melinda neidisch auf sie, doch in der nächsten Sekunde war dieses Gefühl wieder verschwunden. Kerner und Aust wirkten hektisch. Melinda sah es an dem Schweiß auf Kerners Stirn und der geröteten Haut an Austs Hals. Sie räusperte sich leise und hoffte, dass Bea sich umdrehen würde. Die Aufmerksamkeit der anderen benötigte sie nicht. Doch Bea schrieb und schrieb. Etwas war vorgefallen, das war offensichtlich. Melinda spürte die vergiftete Atmosphäre, die unguten Schwingungen in der Luft. Sie trat einen Schritt zurück in den Flur und blickte zu dem Techniker am Kopierer. Dieser blätterte fahrig durch eine Bedienungsanleitung und fluchte dabei leise vor sich hin. Melinda ging zu ihm, beugte sich hinunter und flüsterte ihm in süffisantem Ton zu: »Na, in einer Stunde muss das hier aber wieder laufen ...!« Ihre Intervention hatte Erfolg. Der Techniker sah sie an, sein Gesicht verfärbte sich ungesund rot. Im nächsten Moment griff er nach seinem gut sortierten Werkzeugkoffer, hob ihn an und ließ ihn mit einem ohrenbetäubenden Krachen zurück auf den Boden fallen. Dann noch einmal. Und noch einmal.
»Verdammtes Kackding! Immer ich. Immer muss ich diese Schrottkisten wieder zusammenflicken!«
Bea streckte ihren Kopf um die Ecke, erblickte Melinda und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
»Der braucht wohl mal 'nen schönen Kaffee!«
Und mit dem Blick zu dem Techniker: »Na, Herr Mönnig, wollen Sie mal ein Päuschen machen?«
Herr Mönnig stand auf, wischte sich die Hände an der Latzhose ab und nickte ergeben.
»Nichts für ungut, Frau Dausend, aber es wäre sicher gut, wenn Sie sich beizeiten ein neueres Modell zulegen würden!«
Bea lächelte ihn an.
»Mit Milch und Zucker?«
»Gerne!«
Melinda folgte Bea in ihr Büro, wo schon seit Minuten das Telefon klingelte.
»Heute müsste ich mich glatt verdoppeln!«
Sie nahm den Hörer nicht ab, schnappte sich stattdessen eine Tasse vom Regal und füllte sie mit Kaffee aus der Maschine. Milch dazu, zwei Stücke Zucker, umrühren, fertig. Bea stellte Herrn Mönnig die Tasse auf den Kopierer und sprach beiden Mut zu.
»Ihr zwei schafft das schon!«
Melinda lehnte auf dem Tresen und beobachtete Bea wie sie ihr Kostüm glatt strich und den Sitz der Ohrringe überprüfte.
»Na, schon aufgeregt?«
Bea blies die Backen auf und verdrehte dabei die Augen.
»Aufregung ist gar kein Wort dafür. Habe schon letzte Nacht kaum geschlafen.«
»Deine erste Lesung?«
»Nee. Aber die erste vor so großem Publikum!«
Melinda grinste wie ein Honigkuchenpferd.
»Ich war heute da. Wegen Recherchen. Habe die Stühle nicht gezählt. Aber um die 150 waren das schon!«
Bea goss sich Sprudelwasser in ein Glas und trank es in einem Zug aus.
»Ärgere mich nicht!«
Ihr Blick glitt über einen Papierstapel neben dem Telefon.
»Zweihundert Anrufe. Mindestens.«
»Und?«
»Bis auf zwei oder drei alles Müll!«
Melinda deutete mit dem Daumen in Richtung Flur.
»Die Spezialisten aus Hannover gehen den Hinweisen nach?«
»Sie sind seit heute Morgen unterwegs. Ist auch besser so. Frau Dausend hier, Frau Dausend da. Schnösel sind das, die sich von vorne bis hinten bedienen lassen. Nur eine von ihnen, eine Frau Berger, ist hier geblieben.«
Bea beugte sich zu Melinda vor und sprach jetzt leiser.
»Heute Vormittag ist hier so ein Typ mit Bart und Käppi aufgetaucht. Hat behauptet, er käme von der Firma Adam Technik GmbH und wolle sich die Elektrik in den Büros anschauen. Stümper. Habe gleich erkannt, dass der Kerl verkleidet war. Ein Anruf genügte um rauszufinden, dass der Betrieb nicht mehr existiert. Als ich den Typ zur Rede stellen wollte, hat er sich aus dem Staub gemacht.«
»Und, was wollte er hier?«
»Während ich telefonierte ist er in den Büros herumgeschlichen. Wir vermuten, dass er Fotos geschossen hat. Ich bin zum Fenster gerannt und habe auf den Parkplatz gesehen. Er ist mit einem grünen Geländewagen abgehauen. Das Kennzeichen habe ich nicht erkannt. Und so jemand will ne Krimiautorin sein!«
Melinda legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.

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