64
Etwas blass um die Nase und mit sichtlich geröteten Augen schlich Melinda zurück zum Tisch, wo Sophie ihre Recherchen gerade abgeschlossen hatte. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck beobachtete sie Melinda, wie sie sich wieder auf ihren Stuhl fallen ließ, einmal tief ein und wieder ausatmete, den Kopf in die Hand stützte und nach draußen starrte.
»Frau Sieben, alles klar mit Ihnen?«
»Ja ja.«
In Wirklichkeit war nichts in Ordnung. Ein Wirbelsturm wütete in Melindas Kopf. Es war ihr fast unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Zu viele merkwürdige Dinge waren geschehen. Jans eigenartiger Besuch. Das gestohlene Notizbuch. Die Knochen im Garten. Die zwei Schwestern, Nina und Sonja, von der die eine unter falschem Namen gelebt hatte und nun tot war. Die Hexensymbole in ihrem Zimmer. Die bohrende Frage, wo sich die echte Stella Blume befand. Richard Harms, der Räuber. Kannte er Nina und Sonja? Melinda spürte die Überforderung schmerzlich in jeder Zelle ihres Körpers, doch die Ermittlungen ruhen zu lassen, war keine Option. Sie musste nachdenken, musste sich Zeit lassen, um den nächsten Schritt in aller Ruhe planen zu können. Und sie benötigte noch einmal Arndts Hilfe. Das Foto von Nina hatte sie bereits. Sie brauchte ein Foto von Stella Blume. Wie hieß Nina mit Nachnamen? Nur mit dem vollständigen Namen konnte Melinda den nächsten Schritt machen. Wenn sie herausbekam, wie Nina hieß, dann kannte sie auch den Namen ihrer Schwester Sonja. Ob Herr Kessler mehr wusste?
Sophie schien vor Anspannung zu platzen, doch Melinda griff in aller Ruhe zu ihrem Handy und öffnete das Phantombild der falschen Stella. Dann schob sie es Sophie vor die Nase, deren Augen sich theatralisch weiteten.
»Ist das nicht ...?«
»Die junge Frau, die sie oben im Stadtwald gefunden haben.«
»Das Bild war heute in der Zeitung!«
»Exakt. Sie heißt Nina. Hast du sie schon mal irgendwo gesehen?«
Sophie schüttelte den Kopf.
»Sie sieht ein bisschen künstlich aus. Wie ein Android. Wie alt ist sie? Ich meine wie alt war sie!«
»Etwa 30. Das Gesicht wurde digital erzeugt, weil von dem echten nicht mehr viel übrig war.«
Sophie verzog angewidert den Mund.
»Ist ja ekelig. War Nina das mit den Hexensymbolen?«
Melinda nickte.
»Soll ich mich mal umhören? Ich meine, ich bin viel unterwegs am Wochenende und könnte in den Clubs mal nachfragen ...«
»Das würdest du tun?«
»Klaro!«
»Gib mir deine Nummer, ich schicke dir das Bild.«
Natürlich wusste Melinda, dass es riskant war, Sophie in die Sache hineinzuziehen, doch sie benötigte Unterstützung und achtzehnjährige Zivilistinnen waren ihr immer noch lieber als im Präsidium betteln zu gehen und dabei zu riskieren, die Spezialisten aus Hannover unnötig aufzuscheuchen.
»Bin ich jetzt sowas wie deine Assistentin?«
Melinda blickte wieder aus dem Fenster. Ein Auto fuhr vorbei. Schmelzwasser spritzte auf den Gehweg.
»Sagen wir es so, du hältst die Augen für mich auf und ich sehe als Gegenleistung über deine kleinen Vergehen hinweg.«
»Cool!«
»Es wäre jedoch von Vorteil, wenn du meinen Namen aus dem Spiel lässt, sonst beende ich unsere Zusammenarbeit schneller als du bis drei zählen kannst!«
Sophie senkte den Blick.
»All right!«
Melindas Handy vibrierte und sie sah, dass Jannik ihr zwei Fotos geschickt hatte. Das Zimmer der falschen Stella, Ninas Zimmer, sah wieder aus wie an dem Tag, an dem Melinda es zum ersten Mal betreten hatte. Die Symbole an den Wänden waren verschwunden. Alles war wieder weiß gestrichen und sah picobello aus. Melinda schrieb Jannik zurück. Gute Arbeit! Danke! Jannik antwortete mit einem nach oben gestreckten Daumen.
»Interessiert es Sie, was ich rausgefunden habe?«
Melinda schob das Handy zur Seite.
»Immer her damit!«
»Die lange oder die kurze Version?«
»Die kurze genügt!«
»Kurz oder ultrakurz?«
»Fang an, ich habe einen Mord aufzuklären!«
Sophie blickte Melinda eindringlich an.
»Haben Sie denn keinen Partner oder sowas? Wie beim Tatort, da sind doch auch ...«
»Lange Geschichte. Fang an!«
Sophie drehte das aufgeschlagene Buch herum, so dass Melinda alles erkennen konnte.
»Abwehrzauber!«
Jetzt starrte Melinda Sophie an.
»Ein bisschen mehr darf es schon sein.«
»Nina hat Abwehrzauber an ihre Wände gemalt. Abwehrzauber gegen böse Mächte.«
Sophies Zeigefinger huschte über die Seiten, tippte hier und dort auf ein Symbol, umkreiste kryptische Zeichen und malte imaginäre Verbindungslinien zwischen ihnen.
»Okay Sophie, böse Mächte. Verstanden. Geht es etwas genauer?«
»Sie wollen also doch die längere Version?«
Melinda spürte, wie ihr eine Ader an der Schläfe schwoll. Für einen Augenblick erwog Melinda ernsthaft, aufzuspringen, zum Netto-Markt zu laufen und Sophie zu verpetzen.
»Wir waren bei den bösen Mächten ...«
»Es gibt die inneren und die äußeren Dämonen.«
Das kam Melinda sehr bekannt vor. Sophie blätterte ein paar Seiten im Buch zurück.
»Die Symbole in Ninas Zimmer richteten sich gegen äußere Dämonen.«
»Also hat sie sich vor etwas gefürchtet und musste sich schützen.«
Sophie verzog den Mund nachdenklich zu einer Schnute.
»Sie hat sich vor etwas gefürchtet oder sie hat sich vor jemandem gefürchtet ...«
Jetzt lächelte Melinda.
»Du scheinst dich auszukennen!«
Sophie winkte ab.
»Wir haben mal Gläserrücken gemacht und mit so 'nem Ouija-Brett rumexperimentiert. Wollten wissen wie lange wir noch zu leben haben.«
»Und?«
»War super unheimlich. Das Licht hat geflackert und die Tür ist auf und wieder zugegangen.«
»Nicht im Ernst!«
»Doch! Ich schwöre bei meiner Mutter!«
»Keine Pentagramme unterm Teppich? Keine dunklen Messen auf dem Friedhof?«
»Dafür bin ich zu brav!«
Sie grinsten sich schweigend an. Dann klopfte Melinda auf die Tischkante, griff nach ihrem Handy, stand auf und streckte Sophie die Hand entgegen.
»Gute Arbeit, Junior-Assistentin! Ich danke dir!«
Sie klopfte auf ihr Handy.
»Wenn was ist, ich rufe dich an!«
Melinda zeigte hinüber zu den Stuhlreihen.
»Wir sehen uns morgen Abend. Bin gespannt, welches Märchen Bea Dausend uns auftischt!«
Sophie griff nach Melindas Hand und schüttelte sie kräftiger, als es eigentlich angemessen war.
»Hat mich gefreut, Frau Kommissarin! Rufen Sie an, wenn Sie mich brauchen. Tag und Nacht!«
Tag und Nacht? Hatte Sophie das gerade wirklich gesagt?
»Bis morgen, Sophie!«
»Bis morgen, Frau Sieben!«
Melinda warf der Dünnen hinter dem Tresen einen nichtssagenden Blick zu, zog ihren noch immer feuchten Mantel vom Haken und verließ die Bücherei. Zippo lag brav vor dem Fahrradständer. Es hatte schräg unter die Überdachung geregnet, die Rute des Hundes war klitschnass. Als er Melinda erblickte, sprang er auf, schüttelte sich und wollte ihr entgegenspringen, doch die Leine hielt ihn zurück. Tief in ihrer Manteltasche fand Melinda ein zerbrochenes Leckerli. Zippo freute sich trotzdem darüber. Während sie die Leine löste, dachte Melinda noch einmal an Sophies Worte. Was hatte sie gesagt? Nina hatte sich vor etwas oder vor jemandem gefürchtet. Vielleicht aber auch vor beidem, dachte Melinda. Vor den Konsequenzen ihrer früheren Taten und einem Mann, der dieselben Tattoos wie sie auf der Haut trug.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top