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Wie gern hätte er sie ein wenig geschubst, an den Schultern gepackt und geschüttelt oder ihr die lächerlichen Klammern aus dem Haar gerissen und sie auf dem Boden zertreten. Dressler hatte nicht bekommen, was er wollte, hatte nicht gefunden was er suchte. Was war er doch für ein Trottel! Hatte er gedacht, dass Melinda ihre Ermittlungsergebnisse in einer windschiefen Gartenhütte lagerte, sie ihre Akten unter den Bodendielen versteckte? Alles was er gefunden hatte, war dieses schäbige Notizbuch voller unleserlichen Geschreibsels, mit dem er nichts anfangen konnte. Noch auf dem Parkplatz hatte er es durchgeblättert und dann aus dem Fenster geschmissen. Er hätte zurückgehen und ihr Angst machen können, sie zwingen zu sagen, was er wissen wollte, doch seine Stirnwunde hatte wieder wild zu pochen begonnen und die Rückenmuskulatur hatte geschmerzt, als bestünde der Autositz aus scharfkantigem Felsgestein. Er hatte dort weggemusst, doch wohin? Bei ihm zu Hause warteten die Häscher des Generals darauf, dass er zurückkam und sie ihm den Schädel einschlagen konnten. Eine Pension oder ein Hotel wäre nicht infrage gekommen, Dressler war bekannt wie ein bunter Hund. Man hätte sich gefragt, weshalb der Herr Oberförster nicht in seinem eigenen Bett schlief. Er steckte schon zu tief im Schlamassel, unnötiges Aufsehen musste er um jeden Preis vermeiden. Am Ende war ihm nur die Jagdhütte oberhalb der Talsperre geblieben.

Er hatte schlecht geschlafen. Die Matratze auf dem Klappbett war durchgelegen und das Gestell hatte bei jeder Bewegung gequietscht. Immer wieder war er aufgewacht, hatte nach draußen gelauscht, weil er glaubte, einen Automotor, Schritte vor dem Fenster, das Knarren der Tür zu hören, nur um jedes Mal festzustellen, dass es die Geräusche aus seinen Träumen waren, die ihm nach dem Aufwachen quälend im Kopf herumgeisterten. Er befürchtete, den Wagen nicht gut genug versteckt zu haben, obwohl er in der dichten Schonung oberhalb der Hütte praktisch unsichtbar war. Die Reifenspuren im Schnee hatte er mit einer Schaufel so gut es ging verwischt. Niemand, der sich auf dem Forstweg der Hütte näherte, würde den Wagen sehen. Dressler hatte noch am Abend das Gewehr aus dem Bodenversteck geholt, es gereinigt und geladen. Die ganze Nacht hatte es neben seinem Bett gestanden. Er war froh, es nicht gebraucht zu haben. Dressler beneidete den Hund um seine Gelassenheit. Silva war es egal wo sie schlief. Wichtig war nur, dass sie bei ihrem Herrchen sein konnte.
Dressler bereitete sich ein Frühstück aus dem wenigen, was er in der Hütte fand. Haferflocken, getrocknete Früchte, H-Milch, Knäckebrot. Wasser musste er auf dem Ofen erhitzen. In einer Ecke des Küchenschranks fand er einen Rest Kaffeepulver und eine angebrochene Packung Kopfschmerztabletten, von denen er zwei auf einmal schluckte. Er sah auf sein Handy. Keine neuen Nachrichten. Nicht von Nadja, nicht von Melinda, nicht vom General. Nur zwei verpasste Anrufe von den Waldarbeitern, die wahrscheinlich wissen wollten, wo er blieb. Lustlos schaufelte er sich die muffigen Flocken hinein, schlürfte den viel zu dünnen Kaffee. Silva schmiss er eine Knäckebrotscheibe auf den Boden. Dressler dachte an seinen Schreibtisch, den vollen Terminkalender. Er musste sich krankmelden und die Arbeitseinsätze im Wald per Handy regeln. Wie lange wollte er hierbleiben? Über welche Ausdauer verfügten die Häscher des Generals? Für wie lange war er in der Hütte sicher? Er wusste es nicht.
Neben seinem Kaffeebecher lag der Gefrierbeutel mit dem Pflasterstein. Dressler berührte die Tüte, erfühlte die Struktur des Steins und dachte daran, welche Zerstörung er verursacht hatte. Mutters wertvolle Sammlertassen, die sie über Jahre so mühevoll zusammengetragen hatte. Wer auch immer den Stein geworfen hatte, er würde es bitter bereuen. Doch darum wollte er sich später kümmern. Viel wichtiger war es, das Geld zu finden, und er hatte schon eine Idee, wie er das anstellen wollte, auch wenn er dafür sein Versteck noch einmal verlassen musste. In der Abstellkammer fand er die Aufbewahrungskiste mit den Verkleidesachen seiner Tochter. Als kleines Mädchen hatte sie es geliebt, sich als Elbin, Zauberin oder ein anderes mystisches Waldwesen zu verkleiden und mit ihrem Vater durch die Wildnis zu streifen. Er hatte ihr erklärt, welche Pilze sie essen durfte und welche sie besser stehen ließ, welche Beeren sich für einen leckeren Nachtisch eigneten und welche Früchte Bauchschmerzen oder sogar schlimmeres verursachten. Er hatte ihr Geschichten von Zwergen, Gnomen und anderen geheimen Waldbewohnern erzählt, die die Menschen neckten und sie an der Nase herumführten. Heute war Charlotte 26 und lebte schon seit einer Ewigkeit mit ihrer Mutter in Kiel. Vielleicht auch in Hamburg oder Rostock, so genau wusste Dressler das nicht. Seine Frau hatte bereits vor Jahren den Kontakt zu ihm abgebrochen und auch Charlotte hatte sich nie bei ihm gemeldet. Glück im Spiel, Pech in der Liebe.

Er zog die durchsichtige Kunststoffbox aus dem Regal, wischte mit dem Ärmel den Staub herunter und öffnete den Deckel. Die Sonnenbrille fand er sofort, auch die Perücke aus braunem Kunsthaar und die kleine Schachtel mit den künstlichen Ohren, Nasen und Bärten. Professionelle Theaterutensilien. Ein halbes Vermögen hatten sie ihn gekostet, doch wenn Charlotte sich etwas gewünscht hatte, dann spielte der Preis keine Rolle. Noch immer versetzte ihn seine Spendierfreudigkeit in Hochstimmung, gleichzeitig erinnerte ihn eine mahnende Stimme daran, dass es gerade seine Freigiebigkeit war, die ihm den ganzen Schlamassel eingebrockt hatte.
Die Perücke passte ihm gerade so. Er musste sie mit viel Kraft über den Kopf ziehen, so dass sie hielt. Weiter unten in der Kiste fand er eine blaue Schirmmütze mit weißem Werbeaufdruck. Adam Technik GmbH. Dressler wunderte sich, wie ihn dieses kleine, schäbige Stoffteil in Verzückung geraten ließ. Danke Charlotte! Ich danke dir, mein Schatz! Auch wenn du mich nicht mehr kennst, so sind wir noch immer ein Team!
Er zog das Käppi über die Perücke, griff nach einem der künstlichen Schnauzbärte und ging zum Flurspiegel. Hier noch ein wenig die Haare ins Gesicht ziehen, die Mütze tiefer in die Stirn, den Bart richten. Dressler erschrak vor seinem eigenen Spiegelbild. Nicht einmal seine Mutter hätte ihn in dieser Verkleidung wiedererkannt. Aus dem Schrank nahm er die graue Latzhose und hielt sie sich vor den Bauch. Er war nicht länger Jan Dressler der Revierförster. Jetzt war er Herr Jansen von der Adam Technik GmbH.

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