59
Wieder und wieder las Melinda Jans Nachricht. Was sollte das heißen, er konnte nicht in seinem Haus bleiben?
Kann ich zu dir kommen? Jetzt gleich?
Kein grinsendes Wildschwein, keine Zwinkertanne.
Erst zwanzig Minuten später, nach langem Nachdenken, schrieb sie ihm zurück. Ihr fiel ein, dass Jan keinen blassen Schimmer hatte, wo sie hauste.
Parkplatz Krankenhausgasse. Runter zur Bahn und den Weg links rein. Erster Garten. Gastgeschenk: ein Arm voll Brennholz.
Winkepilz.
Schon wenige Minuten später bereute sie ihre Entscheidung. Ein jammernder Kerl war das letzte, das sie heute Abend gebrauchen konnte. Sie hatte genug mit sich selbst zu tun. Wenn sie schon einen Mann in ihre Nähe ließ, dann sollte er ihr ebenbürtig sein, auf Augenhöhe mit ihr stehen. In jener Nacht, kurz nachdem sie Stella gefunden hatten, war Jan ihr so attraktiv erschienen. Ein Mann, der wusste was er wollte. Der in sich ruhte und die Ausstrahlung eines wellenumtosten Felsens besaß. Er hatte sie an Franky erinnert. Den guten, alten, wahnsinnigen Franky, der auf eigene Faust versucht hatte, sie aus Freislers Hütte zu befreien und dies mit seinem Leben bezahlt hatte.
Doch Jan war nicht Franky, das hatte sie bei ihrem Besuch in seinem heruntergekommenen Haus schmerzlich erfahren müssen. Obwohl Franky als Polizist selten zu Hause gewesen war, seine lichtdurchflutete Wohnung in Cuxhaven hatte er stets aufgeräumt und sauber gehalten. Helle Möbel, farbige Kissen, geschmackvolle Bilder an den Wänden. Skandinavischer Stil. An manchen Wochenenden waren sie stundenlang durch die Ikea-Filiale gelaufen, hatten auf Sofas gelümmelt, sich auf Betten gewälzt und ihr zukünftiges gemeinsames Leben geprobt. Noch immer spürte Melinda den leicht künstlichen Duft von Lavendel und Zitrone in der Nase. Franky hatte Duftkerzen geliebt. Wie sehr hatte Melinda sich auf die gemeinsame Wohnung und ihr gemeinsames Leben gefreut! Und nun? Wie verzweifelt war sie, dass sie die Nähe eines Mannes suchte, der das genaue Gegenteil von Franky zu sein schien?
Sie dachte an das Gespräch in Jans Haus und schielte hinüber zu dem kleinen Bücherbord neben der Spüle, wo ein paar Romane und ihr Notizbuch lagen. Noch immer hatte sie ihren Bericht nicht geschrieben, doch inzwischen war das völlig egal, niemand fragte danach und weshalb sollte sie Jan ungewollt in irgendwas hineinziehen? Die Spezis tauchten sowieso irgendwann bei ihm auf, um ihn und den Rest der Skatrunde zum Verhör ins Präsidium zu bitten. Melinda glaubte nicht, dass die Kartenspieler ihnen bei den Ermittlungen weiterhelfen konnten. Schon Bullerjahn hatte nichts aus ihnen herausbekommen und sein kurz gefasster Bericht ließ nicht erkennen, dass sie ihm etwas Entscheidendes verschwiegen hatten.
Melinda sah an sich herunter. Konnte sie Jan in Jogginghose und Strickpullover empfangen? Sie dachte an sein schlecht gelüftetes Haus, den Staub und die Spinnweben und befand, dass ihr Outfit völlig ausreichte. Der Vorteil einer Gartenhütte war ihre übersichtliche Größe. Melinda brauchte keine fünf Minuten, um Ordnung zu schaffen. Die Spuren ihrer Ermittlungen, Fallakte, Kugelschreiber, Textmarker, das Notizbuch, vergrub sie in der Küchenbank, tief unter zusammengeknautschtem Kopfkissen und Bettdecke. Sie überprüfte das Versteck der Beretta, rückte Gläser und Dosen im Vorratsregal gerade und trug den Läufer zum Ausschütteln vor die Tür. Melinda sah aufs Handy. Es war kurz nach 10 und Jan immer noch nicht aufgetaucht. Hatte er es sich anders überlegt oder fand er den Garten nicht? Sie schnappte sich ein Buch, hüllte sich in eine Wolldecke und las. Henry David Thoreau. Walden. Ein Klassiker von 1854, den Franky ihr geschenkt hatte, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Die Geschichte eines Aussteigers, der sich in eine Hütte in der kanadischen Wildnis flüchtet. Über die ersten fünf Seiten war sie bisher nicht hinausgekommen. Lies das und du lernst mich besser kennen, hatte er gesagt, worauf sie erwiderte, dass er ihr selbst etwas über sich erzählen sollte. Lesen könne sie immer noch, wenn sie allein war. Dann hatte sie ihn geküsst. Wie einsam sie einmal sein würde, konnte sie damals nicht erahnen.
Das Buch gefiel ihr gut. So gut, dass sie die Zeit darüber vergaß. Erst als Zippo die Ohren spitzte und seiner Kehle ein leises Knurren entstieg, legte sie die Lektüre beiseite, schälte sich aus der Decke und sah aus dem Fenster. An der Gartenpforte stand ein Mann und blickte unschlüssig zu ihr herüber. War das Jan? Er stand ungewöhnlich krumm da und hatte sich die Wollmütze übermäßig tief ins Gesicht gezogen, als plane er einen Überfall. An seiner Seite erkannte sie einen Hund sitzen. Silva. Melinda schmiss den letzten Scheit in den Ofen, strich sich das Haar glatt und zog den Pullover gerade. Dann öffnete sie die Tür.
»Komm rein! Wir beißen nicht!«
Jans Stimme klang dünn, ganz anders als bei ihrer letzten Begegnung, doch noch hielt ihr Geduldsfaden.
»Die Hunde ... Meinst du, sie vertragen sich?«
»Wir probieren es aus!«
Melinda sah zu Zippo hinunter, der sie neugierig anblickte und nur auf ihr Kommando gewartet zu haben schien.
»Na los, begrüßen wir unsere Gäste!«
Barfuß stapfte sie durch den festgetretenen Schnee und zog die Pforte auf. Aus der Nähe sah Jan schon weniger bedrohlich aus. Er rang sich ein Lächeln ab. Silva zog an der Leine, grub ihre Schnauze in Melindas Hand und ließ sich von ihr am Kinn kraulen. Jan schniefte und drückte sich ein Taschentuch auf die Nase.
»Bist ne echte Hundeflüsterin, was!«
Melinda ignorierte den gereizten Unterton in seiner Stimme.
»Ich liebe Hunde und sie lieben mich!«
Von hinten drückte nun Zippo durch Melindas Beine und schnupperte neugierig an Silvas Schnauze. Wedelnde Ruten, aufgeregtes Trippeln im Schnee. Die zwei Tiere verstanden sich schonmal. Jan löste Silvas Leine und die Hunde verschwanden in der Tiefe des Gartens.
Melinda schloss die Pforte hinter ihrem Besucher. Er sah sie dankbar an. Jans Strahlkraft schien zurückzukehren.
»Du wohnst in einer Gartenhütte?«
Gleich der zweite Satz ein Schlag ins Gesicht. Sollte sie ihm die Wahrheit sagen, ihn belügen? Melinda lachte hell auf, zu hell, wie sie fand, und schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter. Jan schien ihr kleines Schauspiel nicht bemerkt zu haben und stapfte wortlos mit ihr zur Hütte.
»Wo denkst du hin! Das ist mein Rückzugsort, mein kleiner Garten Eden.«
Jan nickte wissend.
»Das braucht man in so 'nem stressigen Job! Kenne ich nur zu gut! Ich könnte auch nicht ohne meinen Garten.«
Melinda hörte ihr Punktekonto klingeln. In dieser Sache waren sie sich schonmal einig. Kurz vor der Hütte blieb Jan stehen und zeigte in den dunklen Garten hinaus.
»Die beiden Hunde ... Ich meine, ist das okay?«
»Völlig okay!«
»Und Zippo, ist er ...?«
»Kastriert? Keine Ahnung.«
»Aber Silva, ich meine, sie kann nicht schwanger werden. Sie hatte so eine bösartige Zyste an den ...«
Er verstummte, als er Melindas abwesenden Blick bemerkte.
»Schade«, sagte sie, »das wären bestimmt zuckersüße Welpen geworden!«
Wieder dieses gequälte Grinsen in Jans Gesicht. Melinda fragte sich, was mit dem Kerl los war. Sie schob ihn in die Hütte und verschloss die Tür. Während Jan den Mantel auszog und sich auf einen der Stühle fallen ließ, setzte sie Teewasser auf. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie er sich an die Hüfte fasste, seine Stirn befühlte und dabei das Gesicht verzog.
»Tee ist in Ordnung?«
Jan nickte.
»Schwarz und mit Schuss, wenn's geht!«
Melinda stellte sich vor, wie sie den Teebecher vor ihm abstellte, die Beretta aus dem Hosenbund zog und dreimal in die heiße Flüssigkeit schoss. Alkohol? Sowas gab es nicht in einer verschneiten Hütte abseits der Zivilisation. Wenn Elke, die gute Seele, hier nicht irgendwo ein Fläschchen versteckt hatte, dann sah es schlecht aus für Jan.
»Wenn du was gegen Kopfschmerzen brauchst ...«
Jan winkte ab und fasste sich erneut an die Stirn. Seine Mütze hatte er noch immer nicht abgenommen. Melinda spürte, wie ihr das gerade Gelesene im Kopf herumspukte, wie sie Jan, die Hütte, den wärmenden Ofen, den Schnee, ihre Einsamkeit mit dem Geschehen in Walden verknüpfte und die Geschichte weiter ausspann. Melinda allein in der Wildnis. Im Ofen verbrennt das letzte Holz. Ein verletzter Jäger klopft an ihre Tür und bittet sie um Hilfe. Sie lässt ihn herein, versorgt seine Wunden und brüht ihm einen Tee auf. Als es dem armen Mann besser geht, sieht er sie verliebt an.
Cut! Cut! Aufhören, Melinda! Schluss! In welche Schnulze träumst du dich da hinein? Jan kriegt seinen Tee, kann sich ausquatschen und dann soll er bitte wieder verschwinden!
Sie nahm sich ein Glas Wasser und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. So hatten sie schon einmal zusammengesessen. Ohne es beabsichtigt zu haben, befand sie sich plötzlich wieder in der Rolle der vernehmenden Beamtin. Nüchtern, sachlich, Distanz wahrend.
»Was ist passiert?«
Jan schloss die Hände um die Teetasse und atmete hörbar aus.
»Eigentlich nichts.«
Für nichts sieht er aber ziemlich ramponiert aus, dachte Melinda. Ihr fiel auf, dass er sie beim Sprechen nicht ansah, sondern irgendeinen Punkt knapp unter der Decke fixierte. Jan schüttelte den Kopf.
»Eine Szene wie aus einem Dick-und-Doof-Film. Völlig lächerlich!«
Jetzt sah er sie an und Melinda ermunterte ihn mit Blicken, weiterzuerzählen.
»Schon vor Tagen wollte ich die Axt reparieren. Der Stiel saß locker. Aber ich dachte, ach, für das bisschen Holz, wird schon gutgehen, sind ja bloß zehn Hiebe. Bis fast zum Schluss hat alles geklappt, doch beim letzten Schlag höre ich hinter mir plötzlich ein Klirren. Ich sehe mir die Axt an und bemerke, dass ich nur noch den Stiel in der Hand halte.«
Melinda fühlte wie der Wandersmann auf ihrem Rücken die Position wechselte. Lauschte er dem Gespräch? Verstand er, was gesprochen wurde? Dachte er dasselbe wie sie?
»Und deshalb kannst du nicht in deinem Haus bleiben?«
Jan starrte in seinen Tee. Melindas ironischer Unterton war ihm nicht entgangen.
»Weißt du wie riesig das Loch ist?«
Er breitete die Arme aus und beschrieb einen Kreis, so groß wie ein Hula-Hoop-Reifen.
»Es zieht im ganzen Haus. Eiseskälte überall. Sorry, dass ich dich um Hilfe gebeten habe.«
Er rappelte sich hoch und begann, seinen Mantel von der Stuhllehne zu zerren, doch Melinda hielt ihn am Arm zurück.
»Alles okay! Bleib sitzen und trink deinen Tee. Ich verstehe das. Niemand will in einem Haus mit zerbrochenen Fenstern leben. Man fühlt sich ...«
»So schutzlos, so ausgeliefert!«
Jan sah sie an. Ihr gegenüber saß plötzlich kein ausgewachsener Mann mehr, sondern ein ängstlicher, kleiner Junge. Melinda fühlte, wie die Gegensätze in ihr tobten. Einfühlungsvermögen gegen Tobsuchtsanfall. Ihr Geduldsfaden spannte sich hörbar. Unter Jans Mütze sah sie ein Stück weißer Mullbinde hervorblitzen.
»Was ist mit deinem Kopf?«
Er winkte ab.
»Als ich die zerbrochene Scheibe, ich meine, habe mir irgendwie die Stirn dabei zerschnitten.«
Das Romantik-Drehbuch sah jetzt vor, vorsichtig Mütze und Verband von seinem Kopf zu lösen, nebst unbeabsichtigter Berührung an einer empfindsamen Körperstelle, die Wunde zu versorgen und mit entrücktem Blick einen frischen Verband anzulegen. Anschließend der Austausch sehr dankbarer, sehr tiefer Blicke.
Melinda blieb sitzen.
»Sind die Schnitte tief?«
»Weiß nicht.«
»Hast du die Wunde desinfiziert?«
»Ja.«
»Gut. Das wird wieder!«
Damit war das Thema für Melinda erledigt.
Sie dachte an die Telefonnummer, die sie Jan vor einer gefühlten Ewigkeit auf den Arm geschrieben hatte. Bestimmt hatte er sich seitdem nicht mehr gewaschen. Was war nur los mit ihr? Sie hätte diesen Typen niemals in ihre Hütte lassen dürfen! Es war offenkundig, dass er einen Vorwand gebraucht hatte, sie zu besuchen. Melinda fand das in Ordnung solange der Vorwand fantasievoll, raffiniert oder einfach bloß grenzenlos hilflos war. Jans Geschichte war einfach nur dreist und verriet ihr eine Menge über sein Frauenbild. Für wie blöd hielt er sie? Wusste er nicht, mit wem er es zu tun hatte? Melinda Sieben, ehemalige Kriminalkommissarin. Schlagkräftig, intelligent und unberechenbar. Gefährliche Eigenschaften vereint in einer gefährlichen Gegnerin.
Sie tranken einen weiteren Tee. Jan hatte sich die nassen Stiefel abgestreift und vor den Ofen gestellt. Melinda schnitt Äpfel und Birnen auf. In der Hütte war es wieder merklich kühler geworden.
»Hast du an das Gastgeschenk gedacht?«
Für einen kurzen Moment sah Jan sie verständnislos an, dann erinnerte er sich.
»Liegt im Kofferraum. Ich kann ...«
»Lass nur! Mache ich schon.«
»Der schwarze Jeep ...«
»Ich weiß.«
Jan gab ihr den Autoschlüssel. Melinda glitt in die Stiefel, zog sich den Mantel über und verließ die Hütte. Von den Hunden keine Spur. Bestimmt tollten sie durch den hinteren Teil des Gartens, wo der umgefallene Obstbaum lag und sie mehr Stöcker fanden als sie kauen konnten. Als sie mit dem Waschkorb voller Brennholz zurückkehrte, waren die Hunde noch immer nicht zu sehen. Melinda lauschte in die Dunkelheit. Nichts. Besorgt stellte sie den Waschkorb ab und betrat den hinter der Hütte liegenden Teil des Gartens, wo sie damals das alte Fahrrad gefunden hatte. Noch immer herrschte hier das reinste Chaos. Haufenweise morsche Bretter, ein rostiger Grill, zwei defekte Schubkarren, Kiessäcke, eine alte Wäschespinne, eine zerfallende Holzbank, dazwischen hüfthohes Gras bis an den Zaun.
Melinda stutzte. Der Zaun. Sie stieg über die Bretter, wobei sie aufpassen musste nicht auszurutschen, schob den Grill zur Seite und bog das gefrorene Gras auseinander. Das Loch im Maschendraht war nicht groß, doch für einen Hund reichte es, um sich hindurchzuquetschen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top