56
Melinda bereute keine einzige Sekunde, die sie Zippo zu sich genommen hatte. Nur wenn sie an seinen früheren Besitzer, den Brandstifter und Tierquäler Sebastian Winkler dachte, wurde ihr flau in der Magengegend. So weit sie wusste, lag Sebastian noch immer im Koma. Was wäre, wenn er aufwachte, er wieder auf die Beine käme, würde er Zippo zurückhaben wollen? Und wenn ja, wie gut lagen seine Chancen? Wie in den vergangenen Wochen, gelang es Melinda auch jetzt, ihr Unbehagen zu unterdrücken und sich einfach am Dasein des Hundes im Hier und Jetzt zu erfreuen. Eine Sache gab es jedoch, an die sich niemals gewöhnen würde. Wenn Zippo Witterung aufnahm, wenn ihm der Geruch nach Fressbarem in die Nase stieg, zog er sie unbarmherzig und mit aller Kraft zu weggeworfenen Wurstbroten, verwesenden Mäusen, Katzenkacke und Menschenkot.
Das Stöckchen, welches sie ihm vorhin aus dem Maul gezogen und hinunter zum Bahndamm geschleudert hatte, war ihr schon entfallen. Zippo keineswegs. Sobald sie in den schmalen Weg zu den Kleingärten gebogen waren, spurtete Zippo los. Melinda riss es fast den Arm aus der Schulter. Die Einkaufstasche rutschte ihr aus der Hand und fiel in den Schnee. Ein Kohlrabi rollte nach links, drei Äpfel nach rechts. Die Knäckebrotpackung saugte sich voll Wasser. Zippo zog weiter. Einen Augenblick lang war Melinda abgelenkt, ganz hinten, am Zaun des verwilderten Gartens hatte sie eine Bewegung wahrgenommen, eine Katze, kam ins Rutschen, fiel auf den Hintern und schlitterte ein Stück den Bahndamm hinunter bis sich ihre Stiefelspitzen in den Gleisschotter gruben und sie bremste. Hektisch zog sie den Hund zu sich heran. Er hechelte aufgeregt, stand noch immer unter Spannung.
»Ruhig Blut, alter Junge! Was machst du für einen Aufstand?«
In der Ferne hörte sie das mechanische Singen der Regionalbahn, die in wenigen Minuten an ihnen vorbeirauschen würde. Melinda stand auf und ließ sich von Zippo über das Gleisbett ziehen. Erst jetzt fiel ihr der stinkende Stock wieder ein.
»Okay, Sportsfreund, finde dein gammeliges Teil und dann ab nach Hause!«
Sie ließ die Leine etwas länger. Zippo huschte unter einen Busch. Schnee rieselte aus den Zweigen. Mit weiß gepuderter Nase tauchte der Hund wieder auf, nur um kurz darauf in einen weiteren Busch zu tauchen und vollständig darin zu verschwinden. Als Zippo zu ihr zurückkroch, sah Melinda, dass seine Suche erfolgreich war. In seinem Maul klemmte das so schmerzlich vermisste Stöckchen. Grau, dünn, leicht gebogen und von abscheulichem Gestank. Melinda nahm die Leine kürzer und wollte schon wieder umkehren, als sie bemerkte was genau der Hund da zwischen den Zähnen trug. Grau, dünn, leicht gebogen. Es war nicht das erste Mal, dass sie einen menschlichen Knochen sah. Mit dem Fuß durchwühlte sie den Schnee unter einem der Sträucher, bis sie fand was sie suchte. Ohne Vorwarnung zog sie Zippo den Knochen aus dem Maul und ersetzte ihn durch den Stock. Der Hund schien kurzzeitig irritiert, akzeptierte den Tausch aber ohne Murren. Schnell ließ Melinda den Knochen in der Manteltasche verschwinden.
Anatomie hatte im Studium nicht auf dem Lehrplan gestanden, doch Melinda liebte Obduktionsberichte, die sie penibel las und denen sie ihr breit angelegtes Wissen über den Aufbau des menschlichen Körpers und die unerschöpflichen Möglichkeiten des Sterbens verdankte. Wie sonst hätte sie Bullerjahns Frage, damals am Fundort der Leiche, nach dem Todeszeitpunkt der falschen Stella beantworten können? Sie hatte mit Fliegeneiern, Maden und Schlüpfzeiten geantwortet und Bullerjahn sichtlich überrascht.
Wenn sie sich nicht irrte, trug sie just in diesem Moment eine menschliche Elle in ihr Gartenhaus. Wo hatte Zippo sie gefunden? Gab es dort noch weitere Knochen? Ihr Garten war eingezäunt. Er musste das Ding also auf ihrem Grundstück gefunden haben. Ein menschlicher Knochen in ihrem Garten? Melinda dachte unwillkürlich an die Geschichten, die Elke Schrader von ihrem Großvater erzählt hatte. Kriegsende. Zwangsarbeiter im Steinbruch. Aufseher im Lager Katzenstein. Sie dachte auch an das Schwarzweißfoto, welches sie bei ihrem ersten Besuch im Gartenhaus gefunden und eingesteckt hatte. Gescheitelte Jungs in Uniform. Im Hintergrund die Hakenkreuzfahne. Wohnte sie auf einem Friedhof? Sie begann zu zweifeln, dass Zippo einen Menschenknochen gefunden hatte. Der alte Schrader hatte wohl kaum menschliche Leichen in seinem Garten verscharrt, aber wie Melinda wusste, war er ein Hundenarr gewesen. Lag es da nicht auf der Hand, dass er seine Lieblinge nach dessen Tod hier begraben hatte, hier zwischen Erdbeeren, Kohlrabi und Freilandtomaten, die Elle demnach von einem seiner Hunde stammte? Natürlich, das war es! Melinda schalt sich selbst einen Narren. Die Fantasie war mit ihr durchgegangen. Sie nahm sich vor, gleich nachher eine Gartenrunde zu machen und nach den Hundegräbern zu suchen.
Zurück im Haus steckte sie die Elle in einen Klarsichtbeutel, verknotete ihn und legte ihn zu der Fallakte in die Eckbank. Draußen rauschte der Zug vorbei. Sie verstaute ihren Einkauf und setzte Kaffee auf. Das Pulver reichte gerade noch für eine Tasse. Der Löffel klapperte traurig in der leeren Vorratsdose. Ärger kroch ihr in den Hals. Weshalb war sie nicht in der Lage, sich fünf Dinge zu auf einmal zu merken? Schuld waren die Medikamente. Oder der Wandersmann, an den sie den ganzen Tag noch nicht gedacht hatte. Sophie hatte sie abgelenkt oder Zippos sehnsuchtsvoller Blick vor dem Netto-Markt. Blödsinn. Es lag an ihr selbst. Sie nahm sich vor, für den nächsten Einkauf einen Zettel zu schreiben oder eine Einkaufsliste in ihrem Handy anzulegen. Morgen Früh würde sie Tee trinken, der war sowieso bekömmlicher.
Melinda dachte an die Pressekonferenz. Ob sie schon beendet war? Sie goss sprudelndes Wasser in den Filter und sah auf ihr Handy. Keine neue Nachricht. Sie öffnete die Bildersammlung und betrachtete das Portrait der falschen Stella. Wer war die junge Frau? Weshalb hatte sie sich einen falschen Namen gegeben? Wo war die echte Stella Blume? Melinda goss Milch in ihren Kaffee, gönnte sich auch einen Löffel Zucker, ging zum Tisch hinüber und holte die Fallakte aus der Bank. Von der echten Stella existierten nur wenige Bilder. Polizeiaufnahmen von 2008 und 2009, als sie in Berlin und Hannover wegen Beamtenbeleidigung und angeblichen Steineschmeißens kurzzeitig festgenommen wurde. Zwei Aufnahmen von vorn, zwei von der Seite. Das blau gefärbte Haar trug sie kurz, ihre Augen und ihre Lippen waren schwarz geschminkt, an den Ohren trug sie schweren Schmuck in Form zweier Rasierklingen. Melinda legte die Bilder der echten und der falschen Stella nebeneinander. Die Gesichter der beiden Frauen glichen sich auf erstaunliche Weise. Bei flüchtiger Betrachtung hätte man sie für ein und dieselbe Person halten können. Spitze Nase, voller Mund, mandelförmige Augen, grüne Iris. Dazu ein ähnlicher Haaransatz, eine ähnliche Kinnpartie. Waren die beiden verschwistert oder anderweitig verwandt?
Melinda setzte sich an den Tisch und nahm einen großen Schluck aus ihrer Tasse. Zippo kam herein, kroch unter den Tisch und legte sich zwischen ihre Füße. Noch immer nagte er an dem Stock herum, den Melinda ihm im Tausch für den Knochen gegeben hatte.
Trotz oberflächlicher Ähnlichkeiten beider Frauen, waren die Unterschiede bei genauerem Hinsehen offensichtlich. Stellas Gesicht war breiter, kräftiger. Unter dem rechten Auge trug sie einen kleinen Leberfleck. Sie hatte Sommersprossen und ihre Augenbrauen wuchsen dichter. Und dann waren da die blau gefärbten Haare. Die falsche Stella hatte hellblondes Haar. Im Obduktionsbericht stand, dass es professionell gefärbt worden war. Ihre natürliche Haarfarbe war rot. Von Naturrot zu Blond, das wusste Melinda aus eigener Erfahrung, war eine lange, risikoreiche Prozedur. Stets bestand die Gefahr, dass man sich das Haar verpfuschte.
Ein kalter Hauch zog ihr um die Beine. Melinda fror wie ein Schneider. Da half ihr auch der warme Kaffee nicht. Sie stand auf, ging zur Tür und sah hinaus in den dämmrigen Garten. Die Bäume knackten. Ein leises Rascheln schlich durch die Büsche.
Wandersmann, bist du das dort hinten zwischen den Haselnusssträuchern? Kannst du dich nicht mal entscheiden, ob du bei mir oder irgendwo dort draußen sein willst? Das ewige Hin und Her geht mir auf den Senkel. Den alten Ebert magst du mit deinen Spielereien in den Wahnsinn getrieben haben, bei mir zündet das nicht! Mach dich mal nützlich, alter Rumtreiber, schleichst doch seit Ewigkeiten schon durch die Wälder, narrst die Menschen, kriechst in ihre Köpfe und Seelen. Sag mir, wer hat die junge Frau auf dem Gewissen, die sich Stella Blume nannte?
Melinda glaubte nicht daran, dass ihr eine Chimäre bei der Lösung des Falles behilflich sein konnte. Zu diffus, zu rätselhaft, zu eigen war das Geraune des Wandersmanns, als dass sie es deuten und sich zunutze machen konnte. Dabei hätte sie jetzt gut einen väterlichen Rat gebrauchen können. Vater. Vater. Weshalb dachte sie ausgerechnet jetzt an ihn? Der Zettel fiel ihr wieder ein. Der kleine Zettel mit der handgeschrieben Botschaft, den sie vor einer gefühlten Ewigkeit auf dem Küchentisch fand.
Lösungen müssen sich nicht in jedem Fall auf diejenigen Probleme beziehen, die sie lösen sollen. Es grüßt euch der Alte Wandersmann.
Drei Jahre alt war sie gewesen, als ihr Vater eines Tages nicht mehr nach Hause kam. Das Leid über seinen Verlust kannte sie nur aus den Erzählungen ihrer Mutter. Er hatte andere Frauen gehabt, das wusste sie. Alle paar Wochen schulterte er seinen Rucksack, schnappte sich den gedrehten Wanderstock und fuhr zum Wandern in die Berge. Eigenzeit nannte er das. Ob er wirklich durch die Wälder streifte und auf Berge kletterte oder die Eigenzeit im Schoß einer Geliebten verbrachte, wusste niemand. Eines Tages kehrte er nicht zurück. Melindas Mutter ging fest davon aus, dass er sich mit einer anderen aus dem Staub gemacht hatte und das war auch die Lesart, welche Melinda bis heute durchs Leben trug.
Mutter. Ja, auch sie sollte Melinda wieder einmal besuchen, sie wenigstens anrufen, doch jedes Mal, wenn sie es sich vornahm, kam wie durch Zauberhand etwas Wichtigeres dazwischen. Morgen würde sie einen neuen Anlauf versuchen, schließlich war bald Weihnachten und sie wollte die alte Frau nicht allein in ihrer muffigen Lüneburger Wohnung sitzen lassen.
Melinda zog die Tür zu. Nachdem sie das Feuer im Ofen wieder angefacht und einen neuen Scheit hineingeschmissen hatte, trank sie ihren erkalteten Kaffee aus und wischte auf dem Handy herum. Die Onlineauftritte des Kreisanzeigers und anderer regionaler Medien hatten, bis auf die Terminierung, noch nicht über die Pressekonferenz berichtet. Insgeheim hoffte Melinda, dass Bullerjahn oder Arndt ihr die wichtigsten Neuigkeiten persönlich mitteilten, doch nachdem Bullerjahn sie über den Verlust des Falles informiert hatte und sie gebeten hatte, die Füße still zu halten, rechnete sie nicht mehr mit einem Anruf.
Melinda betrachtete die Küchenbank, fuhr mit ihrem Blick die glänzenden Ecken und Kanten entlang, vertiefte sich im Blumenmuster der Sitzkissen. Die nächste Nacht würde sie nur mit einer ordentlichen Dosis Schlaftabletten überstehen. Sie benötigte ein Bett oder wenigstens eine Klappliege. Vielleicht konnte sie Elke Schrader danach fragen. Melinda schämte sich schon jetzt und was hatte ihre Mutter immer gepredigt? Auslöffeln, was man sich eingebrockt hat. Wer A sagt, muss auch B sagen. Doch was war, wenn man dabei draufging? Behielten solche Sprüche auch dann noch ihre Wahrheit?
Melinda sah hinüber zu ihrem Mantel, der an einem Haken neben der Tür hing. Ein Kleidungsstück war auf Dauer ein ungeeignetes Archiv. Sie musste aufpassen, nicht noch weiter den Überblick zu verlieren. Aus der Manteltasche, die wie eine riesige Beule aus dem Stoff wucherte, zog sie die zerknitterte Botschaft des Wandersmannes, die mit einem Gummiband zusammengehaltenen Fotos, welche Sophie geschossen hatte und die Visitenkarte von Dr. Rose. Alles zusammen schob sie ganz hinten in den gelben Pappumschlag der Fallakte. Nun ging es ihr besser. Nach einem schnellen Abendessen, Käsebrot, Tomate, Gurke, Früchtetee, zwei Pillen, weiß und hellgelb, zog sie den Mantel über, griff nach der Taschenlampe, die an einem in die Tür geschlagenen Nagel hing, und trat in den Garten hinaus. Zippo folgte ihr.
Gelborange glühte der Himmel im Westen. Eine Schar Wildgänse flog schnatternd über ihren Kopf hinweg. Melinda schaltete die Lampe an und machte sich auf den Weg. Vorbei am Teich, zwischen den Obstbäumen hindurch. Etwas verfing sich in ihrem Haar. Sie erschrak. Nur ein Ast. Melinda hörte ihren eigenen Puls. Weshalb war sie so aufgeregt? Weil sie nach Hundegräbern suchte? Lächerlich. Weil der Wandersmann hier irgendwo auf sie wartete? Sie leuchtete den Schnee um sich herum ab. Hundespuren. Kreuz und quer, wie verknotete Wollfäden, schlängelten sie sich durch den Garten. Unmöglich herauszufinden, wann und wo Zippo hier herumgestromert war und den Knochen ausgebuddelt hatte.
Der Garten war größer, als Melinda es bisher wahrgenommen hatte. Die erleuchteten Fenster des Gartenhauses lagen weit hinter ihr, dazwischen Bäume, Büsche, eine krumme Wäschespinne, der Teich. Dunkles Gestrüpp tauchte vor ihr auf und versperrte ihr den Weg. Als sie den Strahl der Taschenlampe herumschwenkte und nach Zippo sah, der sich an einem verschneiten und an der Mütze beschädigten Gartenzwerg erleichterte, fiel ihr weiter hinten eine von Efeu überwucherte Stelle auf, die sie interessierte. Hundespuren gab es hier keine, doch das musste erst einmal nichts bedeuten. Melinda sah ein Stück Zaun zwischen den Blättern hindurchblitzen. Ihr Garten war also nicht unendlich. Sie ging in die Hocke, steckte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne, griff nach einer beliebigen Ranke und zog sie zur Seite. Das Gewächs war zäher und widerspenstiger als angenommen. Jetzt packte sie mit beiden Händen zu und riss die Pflanze mit aller Kraft zur Seite, wieder und wieder. Nach rechts, nach links, nach unten, nach oben, bis sie in einem Meer aus Blättern und sich kringelnden Ranken hockte. Melinda nahm die Taschenlampe aus dem Mund und beleuchtete ihr Werk. Heller Granit schimmerte durch das malträtierte, modrig duftende Grün. Zwei Findlinge, nicht größer als ein Gartenzwerg. Melinda wischte Schnee und Erde beiseite und richtete den Strahl der Taschenlampe aus. Zwei eingemeißelte Inschriften, mit Goldfarbe ausgefüllt.
Rex.
Brutus.
Die Hunde vom alten Schrader. Melinda hatte sie gefunden. Zippo hockte hechelnd neben ihr. War er wirklich traurig oder bildete sie sich das nur ein? Sie kraulte seine Ohren und betrachtete die Erde in unmittelbarer Nähe der Steine. Sie war unberührt. Melinda dachte an den Knochen in der Küchenbank. Dünn, blass, gebogen.
»Jetzt haben wir ein Problem, Sportsfreund!«
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