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Während die Sicht durch die hin und her flitzenden Scheibenwischer zunehmend schlechter wurde, dachte Jan Dressler darüber nach, dass er sich anders hätte entscheiden sollen. Die 2000 Euro, sein letztes Erspartes, hätte er in der Schublade des Küchenschranks liegen lassen sollen, und wenn er schon das nicht auf die Reihe bekommen hatte, so hätte er zumindest die längere, dafür unbedenklichere Strecke über Seesen und Goslar durchs Harzvorland und nicht die Straße über die Berge nehmen sollen.

Es dämmerte bereits und der Schneefall hatte in den letzten Minuten kontinuierlich zugenommen. Dressler war im Harz aufgewachsen, widrige Wetterbedingungen waren für ihn nichts Neues, und doch kam dieser frühe Wintereinbruch mit seinen ungewöhnlich starken Niederschlägen überraschend für ihn. In seinem Kopf war es noch Herbst.
Die Fahrt durch das Sösetal hinauf nach Riefensbeek war problemlos verlaufen. Zwar war die Straße nicht geschoben und er war gezwungen, langsam zu fahren, doch war es in den unteren Lagen noch zu mild, als dass die Straße gefror. 300 Höhenmeter weiter hinauf sah die Sache bereits anders aus. Am Ende des Tals gelangte Dressler zur Harzhochstraße und schon als er an der T-Kreuzung bremste, spürte er die gefährliche Glätte unter den Reifen. Noch war es Zeit umzukehren. Links ging es hinunter nach Clausthal und von dort zurück nach Osterode. Rechts ging es hinauf zur Stieglitzecke, einem beliebten Ausgangspunkt für Skiwanderungen, zum Sonnenberg, von dort zum Torfhaus und erst danach hinunter nach Bad Harzburg.

Dressler dachte an Nadja, ihr dunkles, seidiges Haar, ihre makellose Haut, ihre grünen Augen. Für seinen Geschmack war sie zu auffällig geschminkt, doch das war nicht so entscheidend. Er mochte sie. Vor drei Wochen hatten sie sich in der Spielbank Göttingen bei den Jackpot-Anlagen kennengelernt. Nadja war in einem Glitzerkleid und einem blau gefärbten Cocktail in der Hand an ihn herangetreten und hatte ihn direkt gefragt, ob er schon einmal im Casino Bad Harzburg gewesen sei. Dressler hatte ihren Reichtum förmlich riechen können. Erbschaft? Lukrative Geschäfte? Frau eines Mafiabosses? Ihm war es egal. Nadja lachte viel, neckte ihn mit frechen Bemerkungen und besaß eine unter der Oberfläche lauernde Härte, die ihn entfernt an die unkalkulierbare Rauheit seine Mutter erinnerte.

Er hatte sich entschieden, wenn er ehrlich zu sich war bereits vor Stunden, und setzte den rechten Blinker, obwohl weit und breit kein anderer Wagen zu sehen war. Die Reifen drehten einen Moment lang durch, griffen schließlich und brachten den Wagen in die Spur. Nach kurzer Fahrt tauchte auf der rechten Seite das Dammhaus im Schneegestöber auf, ein Parkplatz, viele Autos, ein kleines Café, ein Gewusel aus Schlitten und bunten Schneeanzügen auf dem Rodelhang. Seine Eltern waren nie mit ihm hierher gekommen, obwohl er es sich oft gewünscht hatte. Vater hatte immer viel zu tun gehabt, auch an den Wochenenden, und Mutter ekelte sich vor Schnee.

Sie waren für 19:00 Uhr verabredet. Dressler sah auf die Zeitanzeige. Noch zwanzig Minuten. Wenn nichts dazwischenkam, schaffte er es gerade so. 50 Höhenmeter weiter schmolz seine Zuversicht wie ein Eiswürfel auf der Herdplatte. Zuerst sah er ein grünes Auto, das rechts in den Straßengraben gerutscht war, drumherum Leute, wenige Meter weiter ein schwarzes, dann drei weitere Wagen, deren Farben ihn schon nicht mehr interessierten. Im Schritttempo fuhr er an ihnen vorbei. Hilfe zu leisten kam nicht in Frage. Er hatte eine Verabredung, bei der es um viel ging. Sehr viel. Nur noch wenige hundert Meter bis zur Kuppe, dann hatte er es geschafft. Die Räder seines Geländewagens begannen durchzudrehen. Im Scheinwerferlicht sah Dressler das Eis unter dem frisch gefallenen Schnee funkeln. Allrad hin oder her, auf einer Schlittschuhbahn hatte auch sein Wagen nur Chancen, wenn die Reifen hin und wieder eine eisfreie Stelle fanden. Dressler fuhr in Schlangenlinie an zwei weiteren liegengebliebenen Wagen vorbei, die quer auf der Fahrbahn standen. Am linken Straßenrand lag ein Kleintransporter auf der Seite, dessen Fahrer soeben aus der Fahrerkabine geklettert war und nun wild gestikulierend telefonierte. Dressler hatte noch 15 Minuten. Er erreichte die Kuppe und den Parkplatz Stieglitzecke, dachte an eine kleine Pause, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder. Sollte er Nadja anrufen, sich vorbeugend für sein Verspäten entschuldigen? Nein, sie würde es nicht verstehen. Es gab nur eine Option: Gasgeben und zu Gott beten, dass er es irgendwie schaffte.

Er fuhr viel zu schnell, das wusste er, sechzig statt dreißig, doch fühlte er auch, dass das Glück ihm heute hold sein, dass dieser Abend sich gut für ihn entwickeln würde. Die Strecke wies keine nennenswerten Steigungen mehr auf, er kam gut voran, sah sich schon im Ziel, als am Parkplatz Sonnenberg plötzlich ein mit Skiern beladener Familienvan von rechts auf die Straße fuhr und Dressler nichts anderes übrig blieb, als hart in die Eisen zu steigen. Bei normalen Straßenverhältnissen wäre der Wagen schnell zum Stehen gekommen, doch heute war nichts normal. Sein Jeep schlitterte wie ein Eispuck auf den viel zu langsamen Van zu. Dressler sah bereits die blutverschmierten Gesichter, die gebrochenen Arme und Beine der Kinder, hörte ihre Schmerzensschreie und entschied sich wider besseres Wissen das Lenkrad nach links zu reißen. Der Wagen schoss quer über den Mittelstreifen, hinein in einen unberührten Teppich aus frisch gefallenem Schnee und vollführte einen Satz, als er sich in den Straßengraben wühlte. Dresslers Kopf schlug gegen die Seitenscheibe, dann aufs Lenkrad, ein weiterer Rüttler, als der Jeep aus dem Graben hinauspflügte. Dressler meinte seinen Hals knacken zu hören, etwas Warmes lief ihm über Stirn und Nase, tropfte auf seine Lippen, doch er ignorierte es, starrte nur nach vorn. Wie aus dem Nichts wuchsen vor ihm dunkle, schlanke Baumstämme aus dem Boden. Noch immer stand sein Fuß auf der Bremse. Dann ein Knall, ein Splittern, buntes Gewirr wie erleuchteter Konfettiregen vor den Augen. Dressler schaffte es noch, sich in seinem Sitz zu drehen und nach hinten zu sehen, dorthin, wo die Straße verlaufen musste, die Lichter der Häuser auf dem Sonnenberg in der Dunkelheit funkeln sollten, doch dort gab es nichts als ein wirbelndes weißes Nirgendwo. Keine Straße. Keine Scheinwerfer. Keine Häuser.

Panisch griff er sich an die Stirn und sah auf seine Fingerkuppen. Blut. Nicht sehr viel, aber Blut. Mit zitternder Hand öffnete er das Handschubfach und fummelte eine Packung Taschentücher daraus hervor. Nach mehreren Versuchen hatte er die Verpackung aufgefummelt. Mit der einen Hand presste er sich die Tücher auf die Stirn, mit der anderen schaltete er das Innenraumlicht an. Wie war er bloß auf die dämliche Idee gekommen, seinen beigefarbenen Anzug anzuziehen? Schon zu Hause vor dem Spiegel war er sich wie ein Dandy vorgekommen. Auch hätte er das blaue Einstecktuch weglassen sollen. Blutflecken bedeckten die Hose am Oberschenkel und im Schritt, auch sein Jackett hatte etwas abbekommen. Dressler hätte heulen können. Was sollte er tun? Die Polizei rufen? Besser nicht. Die würde zu viele Fragen stellen und ihm seine zwei Flaschen Bier, die er zum Abendessen getrunken hatte, nicht verzeihen. Er schaltete die Scheinwerfer aus, um nicht gesehen zu werden. Nicht verzeihen würde ihm auch Nadja. Wie auf ein Signal hin brummte sein Handy. Er wollte danach greifen, doch es steckte nicht mehr in der Halterung. Dressler schnallte sich ab, was länger dauerte, als er ertrug. Sein Nacken und der linke Arm schmerzten, noch immer sickerte Blut aus seiner Stirn. Hektisch tastete er den Fußraum ab, stieß sich dabei noch einmal den Kopf, fluchte, schlug mit der Hand aufs Lenkrad und fand das Handy schließlich unter dem Beifahrersitz, als es schön längst aufgehört hatte zu vibrieren.
Nadja hatte geschrieben. Wie sehr hätte er sich einen Grinsepilz, eine Zwinkertanne oder einen Glitzerhirschen von ihr gewünscht, doch Nadja verabscheute Emojis. Die bunten Stimmungsbildchen hielt sie für Kinderkram und überflüssiges Beiwerk. Dressler stockte der Atem. Der Nachricht, welche sie ihm schickte, hätte kein Emoji der Welt den Zünder nehmen können. Sie versetzte ihm den letzten entscheidenden Hieb.

Wo steckst du? Der General verlangt seine Bezahlung. Das Rouletterad gehorcht Punkt sieben für eine Stunde unserem Willen. Kuss.

Dressler riss die Fahrertür auf, wuchtete sich aus dem Wagen und versank bis zu den Knien im Schnee. Einatmen, Ausatmen. Einatmen, Ausatmen. Er versuchte, sich Mut zuzusprechen. Ein Windstoß löste die blutigen Taschentücher von seiner Stirn, trieb sie fort und ließ sie irgendwo zwischen den schwarzen Baumstämmen verschwinden.

Ich steige jetzt wieder in den Wagen, versuche zurück zur Straße zu kommen und fahre nach Hause. Dort lege ich die 2000 Euro zurück in die Schublade und wenn der General an meiner Tür klopft und seinen Lohn verlangt, dann gebe ich ihm das Geld, wünsche ihm einen schönen Tag und betrete nie wieder in meinem Leben eine Spielbank.

Dressler wusste, dass dies ein törichter Wunsch war. Der General verlangte nicht bloß 2000 Euro von ihm, sondern auch 50 Prozent des erspielten Gewinns. Von Kneifen stand nichts im Vertrag.

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