50
Melinda erwachte von ihrem eigenen Zittern. Der Ofen war ausgegangen. Eiseskälte erfüllte die Hütte. Die Decke war von der Bank gerutscht und lag unter dem Tisch. Zippo hatte es sich darauf gemütlich gemacht. Er schlief seelenruhig. Melindas Nacken schmerzte. Sie sah auf ihr Handy. 3:22 Uhr. Das Display tauchte die Holzwände in ein knochenbleiches Licht. Melinda stand auf, fischte ein paar Blätter vom Boden, die aus der Akte gefallen waren, trat ans Fenster und starrte nach draußen. Eisblumen krochen über die Scheibe. Im Garten war es stockdunkel. Ein kräftiger Wind brauste um das Haus, der die Holzwände knacken und die Tür in ihren Angeln klappern ließ. Melinda hoffte sehnlichst, dass ihre Behausung standhielt.
Sie öffnete die Ofentür, sah, dass noch Glut vorhanden war und schmiss zwei Scheite hinein. Wenige Minuten später war die Kälte verschwunden. Mit einem Glas Wasser kehrte Melinda zum Tisch zurück. Für kurze Zeit spielte sie mit dem Gedanken, ein paar Tabletten einzuschmeißen, ließ es dann aber sein, weil ihr die Wirkung des letzten Pillencocktails noch immer Schwindel und Kopfschmerzen bereitete. Trotzdem war sie heute Nacht gut mit ihrer Arbeit vorangekommen. Wenn sie die Nase vorn haben, es Christiansen und ihren Spezialisten aus Hannover zeigen wollte, dann musste sie zügig den nächsten entscheidenden Schritt gehen, bevor die Pseudo-Experten ihre Ermittlungen aufnahmen. Heute Nachmittag fand die Pressekonferenz statt, bei der das neue Ermittlungsteam vorgestellt, zum ersten Mal Stellas voller Name öffentlich genannt und aller Voraussicht nach ein Bild von ihr gezeigt wurde. So lief das immer ab. Erst die Geheimniskrämerei, dann der große Auftritt. Danach würde manches anders sein. Eine Bevölkerung in Alarmbereitschaft, die Zeitungen voller Spekulationen, Reporter und Kameras rund um die Uhr. Melinda war ein gebranntes Kind. Nach ihrer Befreiung aus Freislers Hütte hatte sie diesen Rummel und dieses Gezerre schmerzhaft am eigenen Leib erfahren müssen. Sie hatte es fürchten gelernt. Sie war froh, nicht mehr offizieller Teil des Ermittlungsteams zu sein.
Was konnte sie bis morgen Nachmittag zuwege bringen? Auf welchem Wege verschaffte sie sich den entscheidenden Vorteil? Melinda verfügte über keinen Plan. Sie konnte nichts tun, als die Ärmel hochzukrempeln, die Dinge anzupacken und zu schauen was sich ergab.
Zippo lag noch immer auf ihrer Schlafdecke. Da sie ihn nicht verscheuchen wollte, holte sie sich eine Wolldecke und wickelte sich darin ein. Sie dachte erneut an den Wandersmann und Bullerjahns Darlegungen zu Wesen und Verhalten dieser geisterhaften Erscheinung. Melinda fragte sich immer noch, weshalb sie so wenig Angst verspürte. Bei keiner ihrer Begegnungen mit dem Wandersmann, in welcher Form auch immer es sich ihr gezeigt oder mit ihr gesprochen hatte, war sie panisch geworden oder davongerannt. Sie hatte nur dagestanden und gelauscht, hatte versucht, das Rauschen und Wispern, das Knacken und Zischeln zu deuten, den verborgenen Sinn des Gehörten zu entschlüsseln. Weshalb hatte sie nicht die Angst gepackt, als Bullerjahn ihr behutsam zu verstehen gab, dass der Wandersmann vom toten Ebert auf sie übergesprungen war. Genau betrachtet war das eine ungeheuerliche, albtraumhafte Vorstellung! Neulich am Fluss hatte sie seinen Schatten im Wasser gesehen. Er hatte mit ihr gesprochen, hatte ihr in umständlichen Worten seine Hilfe angeboten, wenn sie im Gegenzug etwas für ihn tat. Um was genau es sich dabei handelte, hatte sie seinen Worten nicht entnehmen können, zu sehr ähnelten sie dem Schlürfen der Strudel, dem Plätschern der Wellen. In der Baumkrone am Rathaus neulich Nacht hatte er Freislers Hütte erwähnt. Er hatte angedeutet, dass sie sich dort schon einmal begegnet waren. Melinda hatte nicht verstanden, wovon er sprach.
Wo war er jetzt? Hockte er neben ihr auf der Bank? Machte er sich an ihrer Pistole zu schaffen? Trieb er sich irgendwo draußen im Garten herum und bereitete dort den nächsten Schabernack vor?
Er allein bestimmte, wann er sich Melinda zeigte, nicht sie. Er allein entschied, wann er ihr welche Informationen und Hilfestellungen zuteilwerden ließ. Bisher war der Wandersmann nichts weiter als ein Schatten, eine Stimme in ihrem Kopf, eine rätselhafte Anomalie der Natur. Solange es dabei blieb, war es ihr recht. Alles andere konnte und wollte sie sich lieber nicht ausmalen.
Sie spürte wie ihr Kopf zur Seite sank. Ohne ein paar zusätzliche Stunden Schlaf würde sie den morgigen Tag nicht überstehen. Sie schob sich das Kissen unter den Kopf und rollte sich auf der Bank so gut es ging zusammen. Für einen Moment hörte sie noch den Wind über das Dach pfeifen und Schneegriesel gegen die Fensterscheibe prasseln. Dann schlief sie ein.
Um 7:12 Uhr wurde sie von der Weckmelodie ihres Handys geweckt. Wagners Walkürenritt? Wann hatte sie diese Melodie denn eingestellt? Sie konnte sich nicht erinnern. Auch nicht daran, dass sie den Wecker auf 7:12 Uhr gestellt hatte. Sie wollte erst um 8:00 Uhr aufstehen.
Melinda rieb sich die Augen. Ihr Rücken schmerzte und der Nacken war steif wie ein Brett. Für die nächste Nacht musste sie sich einen anderen Schlafplatz überlegen.
In die Decke gewickelt ging sie zum Herd hinüber und setzte Wasser auf. Sie warf zwei Scheite Holz ins Feuer und deckte notdürftig den Tisch. Kuchenreste, eingelegte Birnen, Erdbeermarmelade, ein Rest Knäckebrot. Im Kühlschrank fand sie Milch, Margarine und ein Stück Käse. Elke war wirklich ein Engel! Weshalb tat sie das? Zusammenhalt. Frauen halfen einander, wenn sie in Not waren, ohne große Worte darum zu machen.
Während das Wasser zu köcheln begann, wusch sie sich das Gesicht. Auch daran hatte sie nicht gedacht. Wo wollte sie sich duschen? Sollte sie vielleicht ...? Sie blickte nach draußen auf den dunklen Teich, der mit einer dünnen Eisschicht überzogen war. Der Garten war heute Morgen die reinste Waschküche. Der Nebel war so dicht, dass sie nicht einmal das Gartentor sah. Nein. Ein Sprung in das modrige Wasser war wirklich das Letzte was sie tun würde. Sie goss sich einen Kaffee auf und schüttete Milch hinzu. Zippo streckte sich unter dem Tisch und gähnte mit weit aufgerissenem Maul. Erneut fiel Melinda auf wie sauber sein Gebiss war. So etwas gab es eigentlich nur bei jungen Hunden. Wie alt war Zippo? Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Sie stellte ihm eine Schüssel Wasser neben die Tür. Auf einen Teller krümelte sie etwas Kuchen und eine Scheibe Knäckebrot.
»Nachher besorgen wir Futter. Ist versprochen!«
Zippo schlabberte an dem Wasser und fraß den Teller leer. Dann stellte er sich neben die Tür und sah Melinda mit bettelnden Augen an.
»Habe schon verstanden, Freund! Du willst raus.«
Sie ließ die Schlösser zurückschnappen und zog die Tür auf. Eisige Nebelhände griffen nach ihr und machten sich daran, unter ihre Decke zu kriechen. Zippo hechtete nach draußen und verschwand in der Tiefe des Gartens. Melinda zog die Tür wieder zu. Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen. Das Gelände war mit einem hohen Zaun umgeben. Zippo konnte nicht ausbüxen.
Gerade als sie sich ein Knäckebrot geschmiert hatte und den ersten Bissen nehmen wollte, klingelte das Handy. Es war Arndt. Er klang aufgeregt.
»Eigentlich dachte ich ja, dass uns Skagen bloß auf die Nüsse geht, und ehrlich gesagt, in den letzten Tagen hätte ich ihn mehr als einmal auf den Mond schießen können.«
»Oder zurück nach Göteborg!«
Arndt gluckste.
»Oder zurück nach Göteborg, genau!«
Melinda schlürfte an ihrem Kaffee. Sie wollte ihn nicht unnötig kaltwerden lassen.
»Arndt, was gibts? Ich frühstücke gerade.«
»Skagen, er hat gestern den ganzen Tag telefoniert. Stell dir vor, er hat Stellas Eltern aufgetrieben.«
Das war wirklich eine Neuigkeit, für die man das Frühstück warten lassen konnte.
»Normalerweise leben sie in Kolding, doch die meiste Zeit verbringen sie in ihrem Ferienhaus bei Hvide Sande an der Nordsee.«
»Und? Kommen Sie, um die Leiche zu identifizieren?«
Melinda hörte Arndt am anderen Ende der Leitung tief einatmen.
»Sie wollen sie nicht sehen.«
»Sie wollen ihre Tochter nicht sehen?«
Melinda konnte es nicht fassen, obwohl sie wusste, dass keine Vermisstenmeldung vorlag.
»Sie sagten, dass sie mit ihr abgeschlossen hätten seit sie sich politisch so verrannt habe. Es war die Rede von linksradikalen Zirkeln, irgendeiner Untergrundgruppierung in Göttingen oder Braunschweig, so genau wussten sie das nicht. Stella hätte den Bruch gewollt, nicht sie.«
»Der Tod ihrer Tochter schert sie nicht?«
»Offensichtlich nicht.«
»Hat Skagen nach dem Tattoo gefragt?«
»Ja, das hat er. Der Junge ist wirklich auf Zack.«
»Und?«
Melinda hörte das Rascheln von Papier.
»Als Stella sie vor fünf Jahren zum letzten Mal in Dänemark besuchte, haben sie sie nicht ins Haus gelassen. Es gab wohl ein kleines Handgemenge an der Tür. Ihr Vater hat ihr das Halstuch heruntergerissen, auf dem irgendwelche revolutionären Symbole zu sehen waren, und hat dabei den Hundekopf entdeckt. Ein geifernder Kampfhund mit weit aufgerissenem Maul.«
Der Kaffee erkaltete, das Knäckebrot zerfiel zu Staub, draußen kratzte der Wandersmann an der Tür und bat um Einlass, so jedenfalls kam es Melinda in diesem Augenblick vor.
»Melinda, bist du noch dran?«
»Ja.«
»Und? Was sagst du?«
»Ich habe die ganze Nacht gesessen und Stellas Akte gelesen. Sie trug kein Hunde-Tattoo im Nacken. Sie trug einen Grizzlybären auf dem Unterarm! Gib Skagen einen Kuss von mir.«
Arndt ließ ein angewidertes Schmatzen hören.
»Nur auf die Wange, Arndt!«
Sie musste lachen. So gut hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt.
»Ich muss Schluss machen. Christiansen läuft hier herum und macht die Pferde wild. Alles muss nach Plan laufen. Einhundert Prozent genügen ihr nicht, du weißt ja. Gleich kommen die Spezialisten aus Hannover an. Wir müssen sie über den Stand der Ermittlungen unterrichten. Um 15:00 Uhr steigt die große Party.«
»Die Pressekonferenz?«
»Die Party! Du solltest dir den Presseraum einmal ansehen. Ich komme mir vor wie auf meinem eigenen Abiball!«
»Gibt es ein Foto von Stella?«
»Gibt es! Lissi hat wieder gezaubert. Wenn man bedenkt, in welchem Zustand Stellas Gesicht gewesen ist!«
Arndt grunzte. Amüsierte ihn diese Geschmacklosigkeit tatsächlich?
»Schicke es mir bitte!«
»Ich schaue, was ich tun kann. Jetzt muss ich aber ...«
»Noch eins: lass Skagen den Computer mit dem Bären- und dem Hunde-Tattoo füttern, wenn er das noch nicht getan hat. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht was finden!«
Arndt versprach, sich zu melden, sobald er etwas herausgefunden hatte.
Sie trank ihren Kaffee aus und aß drei weitere Brote. In ihr Notizbuch, wo sie voller Reue erneut auf die Aufzeichnungen von Jans Verhör stieß, schrieb sie auf eine neue Seite: Stellas Zimmer. Jannik und Erik Gramberg erneut befragen. Pilzsorten im Korb? Tattoos?
Dann zog sie sich an, mehrere Schichten übereinander, kämmte sich, richtete ihre Haarspangen, schlang sich den Wollschal um den Hals und schlüpfte in ihren strohfarbenen Wollmantel. Die Lederboots waren heute die richtige Wahl.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Ofen nicht mehr brannte, und die Fallakte unauffindbar in der Sitzbank versteckt war, verließ sie das Gartenhaus, betätigte die Schlösser und rief nach Zippo. Sie hörte ihn irgendwo bei den Kirschbäumen schnaufen, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er dabei war, den Garten umzupflügen.
»Sie sind aber schon früh auf den Beinen!«
Melinda drehte sich herum. Herr Kessler von nebenan stützte sich auf seinen Schneeschieber und blickte ihr neugierig entgegen.
»Sie wissen doch Herr Kessler, früh übt sich, wer einmal Gold im Mund haben will!«
Melinda grinste wie ein Honigkuchenpferd. Herr Kessler schüttelte den Kopf, murmelte ein »Schönen Tag noch!« und fuhr fort, seinen Rasen vom Schnee der letzten Nacht zu befreien.
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