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Erst als Elke gegangen und sie wieder allein war, wurde ihr klar, welche Ungeheuerlichkeit Bullerjahn ihr vorhin offenbart hatte. Erneut tastete sie ihre Schultern ab, befühlte ihren Rücken, doch nichts. Alles war wie immer. Kein knöchriger Körper, keine hölzernen Gliedmaße, keine Krallen. Natürlich nicht. Ein Geist war körperlos, formte sich nach Belieben, kam und ging, wann es ihm passte. Am meisten war Melinda von sich selbst überrascht. Wie schnell und unkommentiert sie Bullerjahns Geschichte geschluckt hatte! Wo war ihr Argwohn, ihr Widerspruchsgeist geblieben? Was, wenn er ihr einen Bären aufgebunden, sie absichtlich in die Irre geführt hatte? Doch weshalb sollte er so etwas tun? Was wäre der Sinn und Zweck des Ganzen? Eberts Archiv existierte. Melinda war dort gewesen. Sie hatte es gerochen, geschmeckt, gefühlt. Hatte sie nicht schon in dem Moment, als Bullerjahn die Archivtür aufschloss, gewusst, wie alles zusammenhing? Ja, das hatte sie.

Der kalte Fencheltee schmeckte furchtbar. Melinda spuckte ihn ins Waschbecken und schielte zu dem Stapel an Dingen hinüber, welche sie in der letzten halben Stunde aus dem Auto getragen hatte. Was war bloß aus ihr geworden? Eine 32-jährige, tablettensüchtige Ex-Kommissarin mit zwei Koffern, drei Reisetaschen, einer Zimmerpflanze, einem zerrupften Hund und einer windschiefen Holzhütte, die so wenig Platz bot wie ihr altes Wohnzimmer. Sollte sie traurig sein über die Verluste oder sich auf das freuen, was vor ihr lag? Aus einer gelben Reisetasche zog sie die Plastiktüte mit den Tablettenpackungen und schüttete den Inhalt auf den Tisch. Wahllos drückte sie drei Tabletten aus den Blistern, von denen sie vergessen hatte, wofür oder wogegen sie wirkten, und schluckte alle auf einmal mit einem Glas Wasser. Jetzt ging es ihr besser.

Die Küchenbank ließ sich aufklappen und bot genügend Platz für Melindas Garderobe. Den Bücherkarton schob sie in die Ecke hinter der Tür. Sie wollte ihn auspacken, sobald sich ein Regal oder etwas Ähnliches zum Verstauen fand. Als sie gerade dabei war, einen geeigneten Stellplatz für ihre Zimmerpflanze zu suchen, klingelte das Handy. Es war Jan. Melinda ließ es läuten und zählte leise bis zehn, dann nahm sie ab. Seine Stimme klang angenehm vertraut und erinnerte sie an ihre erste gemeinsame Begegnung im Wald, kurz bevor sie Stellas Leiche untersucht hatte. Nach ein paar aufwärmenden Worten kam er gleich zur Sache. Er erkundigte sich nach ihrem Gesundheitszustand, fragte, ob sie zurechtkäme, ob sie seine Hilfe bräuchte. Er lud sie zu sich ein und wollte für sie kochen. Melinda wusste nicht, was sie sagen sollte. Am liebsten hätte sie alles stehen und liegen lassen und wäre zu ihm gefahren, doch irgendetwas hielt sie zurück und ließ sie heftiger reagieren, als sie es beabsichtigt hatte.

»Danke, dass du dich um mich kümmern willst, Jan, aber ich habe dir doch geschrieben, dass ich etwas Zeit für mich brauche!«

Ein ungeduldiges Schnaufen am anderen Ende der Leitung.

»Aber wir hatten doch, ich meine, wir hatten doch noch gar keine Gelegenheit, uns wirklich kennenzulernen! Was ist los, Melinda, wovor hast du Angst?«

Nein, auf so einen Psychokram hatte sie jetzt überhaupt keine Lust. Weder war ihr nach tiefsinnigem Gequatsche, noch wollte sie sich heute Abend mit Rehbraten oder Wildschweingulasch füttern lassen.

»Ich melde mich.«

»Versprochen?«

»Versprochen! Machs gut, Jan!«

Melinda legte auf. Kurz darauf schickte Jan ihr eine Nachricht.
Wenn du befürchtet hast, dass es Hasenbraten und Rehkeule geben würde, dann muss ich dich enttäuschen! Ich hatte etwas Vegetarisches geplant. Ich weiß doch, was sich Frauen von heute wünschen!
Zwinkerhase, Herzchenhirsch. Funkelpilz.

Was sich Frauen von heute wünschen? Aus welchen Untiefen war ihm denn dieser 60-er-Jahre-Spruch in den Mund gestiegen? Welche modrigen Seiten entdeckte sie noch an ihm, wenn sie ihn näher kennenlernte? Plötzlich roch sie wieder die muffigen Tapeten und staubigen Teppichböden, den feuchten Keller und das billige Reinigungsmittel. Jans Haus war wirklich kein Schmuckstück. Weshalb baute er es nicht um, warf das alte Zeug einfach raus und gab ihm einen frischen Anstrich? Konnte Jan nicht oder wollte er nicht? Melinda würde ihm zur Hand gehen, wenn er es wünschte. Über Zeit verfügte sie schließlich im Übermaß.

Die in die Einkaufstüte gewickelte Waffe klemmte Melinda hinter das Abflussrohr im Spülschrank. Die Plastikbox mit Beas Kuchen und der kopierten Ermittlungsakte stellte sie auf den Tisch. Aus der Dienstwohnung hatte sie ein paar Dosensuppen, Spaghettipackungen, Teebeutel und ein Glas Instantkaffee mitgenommen. Sie schielte zu dem Vorratsregal hinüber, das Elke ihr eingerichtet hatte. Eingekochte Birnen, Äpfel, eingelegter Kürbis, Süßkirschen, Mohrrüben, Weißkraut. Fürs Abendessen und den morgigen Tag hatte sie genug. Spätestens übermorgen war ein Einkauf fällig.

Der Bollerofen war etwa so groß wie eine aufrecht stehende Bierkiste. Er bestand aus Gusseisen und stand auf vier schwungvoll gestalteten Beinen, zwischen denen aufeinandergestapelte Holzscheite lagen. Durch eine verglaste Tür sah Melinda die Flammen züngeln. Es knisterte und knackte. Funken stoben auf. Noch nie in ihrem Leben hatte Melinda einen Ofen befeuern müssen. Sie empfand es als aufregend und neuartig, auch wenn sie sich im nächsten Moment fragte, woher sie all das Holz nehmen sollte, welches sie für den Winter benötigte. Jan fiel ihr ein. Der hatte genug Holz im Garten und bestimmt nichts dagegen, ihr etwas davon abzugeben. Zur Not ging sie selber in den Wald und schlug Brennholz. Auch dabei war Jan ihr bestimmt gern behilflich. Wahrscheinlich jedoch nur, wenn sie sich ihm gegenüber freundlicher zeigte.

Melinda öffnete die Plastikbox und stapelte Beas Streuselkuchen auf einen danebenstehenden Teller. Sie zog das Butterbrotpapier heraus, welches Kuchen und Fallakte voreinander schützte, knüllte es zusammen und warf es in den Ofen. Kurz darauf bereute sie es. Ihre Oma hatte alles aufgehoben und wiederverwendet. Geschenkpapier hatte sie in einer Schublade ihrer Schlafzimmerkommode gesammelt und kurz vor Weihnachten gebügelt. Mit dem Einwickelpapier für Butter, das sie in einer Küchenschublade schichtete, fettete sie Bratpfannen ein. Zeitungspapier hatte sie zum Feuermachen und Einschlagen von Eiern genutzt, die ihre frei laufenden Hühner täglich in großer Zahl legten. Mit Erschrecken dachte Melinda an ihren Kontostand, der sie zum Sparen und Wiederverwerten förmlich zwang. Sie sollte sich das alte Schwarzweißfoto ihrer Oma, welches in irgendeinem Buch steckte, über die Küchenbank hängen, wo es sie jederzeit an die Lebensklugheit dieser wunderbaren Frau erinnerte und sie niemals vergessen ließ, bei wem sie sich im Leben eine dicke Scheibe abschneiden sollte.

Sie griff nach einem Stück Kuchen und biss hinein. Himmlisch! Die Gedanken an den vielen Zucker und die viele Butter, welche in einem solchen Streuselkuchen steckten, versuchte sie zu verscheuchen. Bea war nicht bloß ausnehmend sympathisch und konnte Bücher schreiben, sie backte auch den besten Streuselkuchen der gesamten Stadt. Ach was, des gesamten Landes, ganz Europas, der ganzen Welt, des gesamten bekannten Universums!

Melinda ließ sich auf die Küchenbank fallen und holte mehrmals tief Luft. Sie spürte, wie die Tabletten ihre Wirkung entfalteten. Diese Mischung aus grenzenloser Euphorie, einem leichten Schwindelgefühl und der Empfindung, ein paar Zentimeter über dem Boden zu schweben, waren göttlich. Sie sah wie der Ofen mit metallenem Knirschen seine Beinchen zu strecken begann und ihr gelb-glühende Flämmchen entgegenspuckte. Die Streusel des Kuchens begannen zu kriechen und zu krabbeln. Sie lachten sie aus. Melinda hörte es ganz deutlich. Sie riefen: »Los Zuckerschnute, vernasch uns! Noch ein Stück, noch ein Stück! Bloß keine Reue zeigen!«

Melinda schüttelte sich, als könne sie die Täuschung ihrer Sinne auf diesem Wege loswerden. Sie lief zum Waschbecken, füllte ihre Teetasse mehrmals mit Leitungswasser und trank in gierigen Schlucken. Im besten Falle befähigte sie der Tablettencocktail zu wahren Meisterleistungen. Häufig bewirkte er bloß eine geschärfte Wahrnehmung. Nur sehr selten kotzte sie sich die Seele aus dem Leib und schlief dann bis zum nächsten Tag. Heute war der richtige Abend für eine Mischung aus Variante eins und Variante zwei.

Sie setzte sie sich wieder an den Tisch und schlug die Ermittlungsakte auf. Gleich obenauf lagen mehrere ausgedruckte Fotos. Arndt hatte, wie versprochen, die Ermittlungsergebnisse an den Stellwänden abfotografiert und dabei auch auf die Details geachtet. Er war wirklich ein verdammt guter Bulle! Beim Durchblättern der Seiten schielte sie zum Spülschrank hinüber, weil sie glaubte, ein Geräusch darin gehört zu haben. Das schabende Geräusch, welches man beim Einschieben eines Magazins verursachte. Das Ritschratsch beim Nachladen. Gleich flog die Tür auf und die Beretta durchsiebte sie nach allen Regeln der Kunst. Melinda dachte an Bullerjahns Worte in Eberts Archiv.
Aus mehreren Waffen in der Asservatenkammer lösten sich eines Nachts Schüsse, obwohl keine von ihnen geladen war.
Auf welch unberechenbare Kreatur hatte der alte Ebert sich da eingelassen? Wie gefährlich war dieser Huckeduster, den Melinda verharmlosend den Wandersmann nannte, wirklich? Mit einem Dämon spaßte man nicht. Man bekämpfte ihn und versuchte, ihn aus der Welt zu schaffen. Wie lebensmüde war sie eigentlich selbst? Ein Geist hatte sich ihrer bemächtigt und ihr fiel nicht besseres ein, als sich eine Pistole zu besorgen und in eine einsame Gartenhütte zu ziehen?

Die Fotos in ihrer Hand schienen zum Leben zu erwachen. Stellas Kopf im Pilzkorb pendelte vor und zurück, Ameisen und Käfer krabbelten über den mit Fichtennadeln bedeckten Waldboden. Fliegen summten. Irgendwo im Hintergrund flatterte etwas kleines weißes durch den Wald. Woher wusste Melinda, dass es sich um Lollipapier handelte? Die Wände in Stellas Zimmer schwankten und dehnten sich nach innen, als laste ein unerträglicher Druck auf ihnen. Melinda hörte sie flüstern. Sie luden sie ein, in ihnen zu lesen. Namen sprangen sie an. Erik Gramberg. Jannik Gramberg. Jan Dressler. Verdammt, sie hatte Arndt den Bericht zu Jans Verhör noch nicht gegeben, geschweige dass sie ihn geschrieben hatte. Weshalb hatte Arndt sie nicht daran erinnert?

Als es an der Tür klopfte, erschrak sie so sehr, dass sie den Teller mit den Kuchenstücken vom Tisch fegte. Zippo begann zu knurren, vergaß jedoch seine Wachsamkeit, als er die heruntergefallenen Leckereien bemerkte. Melinda holte die Beretta und öffnete. Vor der Tür standen Herr und Frau Kessler aus dem Nachbargarten und blickten ihr freundlich entgegen. Es gelang ihr gerade noch rechtzeitig, die Pistole in ihrem Hosenbund verschwinden zu lassen.
Herr Kessler streckte neugierig den Kopf nach vorn und versuchte einen Blick in die Hütte zu erhaschen.

»Schön haben Sie es hier, Frau ...«

Melinda dachte nach. Bloß nicht zu vertrauensselig sein!

»Zucker. Maria Zucker.«

Frau Kessler ließ ein glockenhelles Lachen ertönen.

»Zucker? So wie Kaffee ohne Zucker? Ein wundervoller Name!«

Jetzt war er wieder dran.

»Wir wollten ihnen nur sagen, dass Ihre Gartenpforte noch offen steht und Sie Ihren Wagen nicht auf dem Weg stehen lassen dürfen.«

Wieder schielte er an Melinda vorbei ins Innere der Hütte.

»Oh, Sie arbeiten! Sind Sie Schriftstellerin?«

Allmählich begann ihr das Ausschmücken ihrer neuen Identität Spaß zu machen.

»Ja, ich, ähm, mein erstes Buch. Ein Krimi. Fast fertig. Letzte Überarbeitung. Hier draußen habe ich Ruhe.«

Das wirkte. Herr und Frau Kessler machten einen Schritt zurück in den Garten. Melinda überkam ein erneuter Schwindelanfall und krallte sich am Türrahmen fest. Frau Kessler schwang etwas durch die Luft, das einem zusammengeklappten Regenschirm glich aber genauso gut ein Spazierstock oder ein Jagdgewehr sein konnte.

»Dann wollen wir Sie nicht länger stören! Schönen Abend noch und gutes Gelingen!«

Frau Kessler wandte sich zum Gehen. Herr Kessler lüftete zum Abschied seine Schiebermütze.

»Es ist schön, wieder jemanden freundliches in der Nachbarschaft zu wissen, Frau Zucker!«

Noch einmal lüftete er die Mütze. Melinda rief ihm ein Dankeschön nach und zog die Tür zu. Erst jetzt fielen ihr die vielen Drehschlösser auf, sieben an der Zahl. Nacheinander ließ sie sie zuschnappen. Das Klicken ihrer Mechanik jagte ihr einen wohligen Schauer über den Rücken.

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