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In der Eingangshalle trafen sie Petersen und Steffens, die mit Kaffeebechern und Brötchen bewaffnet an ihnen vorbeistapften, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Melinda buffte Bullerjahn sanft in die Seite.
»Was ist los mit den beiden?«
Bullerjahn lachte auf.
»Sie haben ihren Dieb noch immer nicht gefasst, dieser Typ, der nachts in Wohnungen einsteigt und nie etwas mitgehen lässt.«
»Haben sie schon mal daran gedacht, dass er etwas in den Wohnungen zurücklässt, anstatt etwas mitzunehmen?«
Wieder lachte Bullerjahn auf und betrachtete fasziniert Melindas Profil.
»Sie denken nicht wie Melinda Sieben!«
Jetzt war sie es, die sich ein Lachen gönnte.

Sie gingen durch den gläsernen Tunnel, der seit einigen Jahren das Altgebäude mit dem neuen Recherche- und Archivzentrum verband. Melinda blieb stehen und sah nach draußen, wo auf dem künstlich angelegten Teich eine dünne Eisdecke schimmerte und der weiß gefrorene Rasen im Sonnenlicht glitzerte. Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, dass sie heute ihre erste Nacht im Gartenhaus verbringen wollte. Bullerjahn war weitergegangen und winkte ihr zu.
»Kommst du?«
Nur mühsam konnte Melinda sich von dem Anblick der vereisten Welt da draußen losreißen. Sie freute sich auf Schneespaziergänge im Wald und aufs Skifahren. Vielleicht würde sie sich sogar einen Schlitten besorgen. Einen aus Holz mit schneckenförmig gebogenen Kufen. Sie würde viel Zeit haben in Zukunft.
Der Neubau war ein würfelförmiges Gebäude aus viel Glas, Sichtbeton und hellem Holz. Auf drei Etagen drängten sich Bücherregale und Rechnerarbeitsplätze. Es roch noch immer nach frisch verlegter Auslegware, Wandfarbe und gesägtem Holz. Melinda fielen besonders die zahlreichen Pflanzen in großen eckigen Töpfen auf. Alles, was im Altgebäude sträflich missachtet wurde, gab es hier im Überfluss. Tageslicht, frische Luft und regelmäßig gegossene Zimmerpflanzen. Vielleicht sollte sie doch Polizistin bleiben und sich in diesem lebensfrohen Glaswürfel einen Arbeitsplatz einrichten.

Sie betraten einen Seitenflur, in dem sich ein Kaffeeautomat und ein Wasserspender befanden. An den Wänden hingen Radierungen mit Tiermotiven. Vor einer Fahrstuhltür blieben sie stehen. Bullerjahn drückte den Rufknopf. Kurze Zeit später glitten die Türen auf. Eine junge Frau mit leerem Aktenwagen grüßte freundlich und schob an ihnen vorbei. Melinda und Bullerjahn betraten die Kabine.

»Von hier aus gehts nur in eine Richtung. Nach unten.«

Bullerjahn drückte auf U3 und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.
Einen Augenblick später standen sie in einem schummerig beleuchteten Flur, der sich rechts und links in Dunkelheit verlor. Kam es Melinda nur so vor oder war hier tatsächlich seit langem nicht mehr gewischt worden? Vor den vergilbten Neonröhren zitterten Spinnenweben, an den Fußleisten sammelten sich Staubmäuse. Es roch nach feuchtem Keller und abgestandener Luft. Bullerjahn glaubte Melinda eine Erklärung schuldig zu sein.

»Das ist das alte Archiv. Die Räume hinter den verschrammten Türen sind alle leer. Das neue Archiv befindet sich jetzt auf U1 und U2. Hier unten gibt es nur noch einen genutzten Raum ...«

»Lass mich raten. Eberts Archiv.«

»Gut kombiniert, Frau Kriminalkommissarin a. D.!«

Bullerjahn ging voraus. Den Gang nach rechts, dorthin, wo die Neonröhren endeten und eine einsame Deckenlampe ihr trübes Licht verbreitete. Hier endete der Weg vor einer ungeputzten Glastür, über der ein schief hängendes Notausgangs-Display leuchtete. Bullerjahn griff in die Hosentasche und zog das Lederetui mit den Schlüsseln heraus. Es dauerte eine ganze Weile, bis Melinda die Umrisse der dunklen Stahltür in der Wand erkannte. Auf Augenhöhe hatte jemand vor Urzeiten einen Werbeaufkleber für Camel-Zigaretten angebracht. Er war zerkratzt und löste sich an den Rändern bereits. Wer durch die Hölle will, darf den Teufel nicht fürchten. Ein Spruch, der Melinda an diesem Ort unpassend erschien. Doch wenn sie an den Ölschinken in Arndts Büro, mit dem sich ständig ändernden Motiv, an ihre Begegnungen mit diesem Phantom, dem Wandersmann, oder die Stimmen in ihrem Kopf dachte, dann passte der Spruch wohl doch hierher und es war alles andere als ein Zufall, dass Melinda ihn hier und heute las. Der alte Ebert glaubte, dem Teufel begegnet zu sein? Willkommen im Club!

Die Metalltür schwang mit einem leisen Quietschen auf. Bullerjahn griff um die Ecke und betätigte den Lichtschalter. Ein Summen erfüllte die Luft. Kurz darauf flackerte schmutzig-gelbes Neonlicht über die Decke. Irgendwo hinter den Regalreihen sprang eine Lüftungsanlage an. Es roch nach altem Papier und Staub. Melinda glaubte, es keine zwei Minuten in dieser luftleeren Kammer aushalten zu können, doch schon nach kurzer Zeit spürte sie, dass die Lüftung ihre Arbeit tat und frischer Sauerstoff hereinströmte. Sie sah sich um. Dieser Raum war nicht viel größer als ihr ehemaliges Büro. An den Wänden zogen sich scheinbar endlose Regalreihen entlang. Zwischen ihnen und weiteren Regalen in der Mitte des Archivs existierten Gänge, die so schmal waren, dass nur ein Kind sie betreten konnte ohne sich seitwärts hindurchquetschen zu müssen. Ein Labyrinth aus Büchern, Ordnern und Pappkisten. Es würde Melinda Monate kosten, all dieses Material zu sichten. Denn das war es doch, was Dr. Rose ihr gegenüber angedeutet hatte: Eberts Archiv würde ihr dabei helfen, den Wandersmann zu verstehen, herauszufinden wer er war und was er von ihr wollte. Wann und in welchem Zeitraum hatte der ehemalige Präsidiumschef es geschafft, eine solch umfangreiche Materialsammlung anzulegen? Was hatte ihn motiviert? Welchen Zweck hatte er verfolgt?

Bullerjahn bedeutete Melinda, ihm zu folgen. Dort entlang, wo die Regale mit den Glaskästen und den durchsichtigen Gefäßen voller toter organischer Formen standen, welche Melinda im Vorbeihuschen als eigenartig deformierte Amphibien, Vögel und Insekten ausmachte. Dunkle, grau-staubige Wesen, in Spiritus eingelegt und auf Nadeln gepikt. Melinda wollte Bullerjahn tausend Fragen stellen, doch dieser war bereits am anderen Ende des Archivs angelangt, wo er sich hinter einem mächtigen Eichenschreibtisch auf einen Stuhl fallen ließ. Er knipste eine Stehlampe an und beobachtete Melindas Reaktion auf das, was sich rechts und links und hinter ihm an den Wänden ausbreitete. Eine gigantische Collage aus Zeitungsausschnitten, kopierten Buchseiten, Grafiken, Karten, Fotos und Tabellen überzog die Kellermauern vom Boden bis zur Decke. Melindas erster Gedanke: die Tat eines Wahnsinnigen. Ihr zweiter Gedanke: hier hatte jemand ganze Arbeit geleistet. An welcher Stelle begann man dieses Wirrwarr zu lesen, woran orientierte man sich, wo hörte man auf? Gab es eine Struktur? Wenn dem so war, Melinda erkannte sie nicht.

»Mattias, was ist das?«

Bullerjahn verschränkte die Arme hinter dem Kopf, lehnte sich nach hinten und ließ den Blick über die Wände gleiten.

»Eberts Versuch, das Unerklärliche zu verstehen.«

»Aha!«

Melinda trat näher an die Collage heran. Einige der Bilder erinnerten sie an etwas. Die Bäume, die Wurzeln, das Gras, der Bildausschnitt, die Komposition. Es kam ihr bekannt vor. Wo hatte sie all das schon einmal gesehen? Sie dachte nach. Dann fiel es ihr ein. Das Ölgemälde in Arndts Büro. Der scheußliche Schinken, dessen Motiv sich ständig veränderte. Mal war der Mann auf dem Bild da, dann verschwand er wieder. Mal stand er rechts im Wald, dann wieder links. Manchmal saß er gedankenversunken auf einem Baumstumpf, dann stemmte er die Hände in die Hüften und schien einem direkt aus dem Bild heraus anzuglotzen.

»Den Ölschinken in Arndts Büro, wer hat den gemalt?«

Bullerjahn griff zwischen die Bücherstapel auf dem Schreibtisch und zog eine Schale Erdnüsse hervor, von denen er sich eine Handvoll in den Mund schmiss und geräuschvoll kaute.

»Soweit ich weiß Hermann Ebert höchstpersönlich.«

Melinda nahm sich ein paar von den Erdnüssen, die unangenehm nach Kellerluft schmeckten.

»Aber, ich meine, hast du dir das Gemälde mal genauer angesehen? Dieser Mann, er wechselt ständig seine Position im Bild, ich meine, das Gemälde, es verändert sich unablässig. Das ist, das ist ...«

Bullerjahn schluckte das Gekaute hinunter.

»Auf eine gewisse Weise unheimlich, ich weiß!«

Erneut schritt Melinda die Collage ab und versuchte, der Sinnhaftigkeit dieses Sammelsuriums auf die Schliche zu kommen. Nach wenigen Minuten gab sie auf. Erneut wollte sie in die Erdnussschale greifen, überlegte es sich dann aber anders. Bullerjahn hatte sich unterdessen eine Zigarre angezündet, was Melinda zur Lüftungsanlage hinaufschielen ließ. Diese tat weiterhin ihren Dienst. Zum Glück! Vor einem der Regale stand ein Hocker. Melinda trug ihn zum Schreibtisch und setzte sich.

»Auch wenn ich den Zweck dieses Kuddelmuddels nicht wirklich begreife, Mattias, so hat sich der alte Ebert offensichtlich intensiv mit Geistern, Spuk, Dämonen und Poltergeistern beschäftigt. Er hat die alten Sagen und Legenden gelesen, er hat die Mythen des Harzes studiert, hat sich mit Naturgeistern, Hexerei und religiösen Ritualen befasst.«

Bullerjahn hörte schmunzelnd zu während er seine Erdnüsse kaute und gelegentlich an seiner Zigarre zog.

»Ich frage mich, weshalb sich der Chef des Polizeipräsidiums Osterode mit Phänomenen beschäftigt, die allem widersprechen, allem zuwiderlaufen, was ein Polizist verpflichtet ist zu tun: sich seines Verstandes zu bedienen.«

Bullerjahn legte seine Zigarre in die Erdnussschale, blies den Rauch an die Decke und beugte sich zu Melinda nach vorn. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern.

»Vielleicht aus demselben Grund, der dich Stimmen hören lässt, der dich Dinge sehen lässt, die andere nicht wahrnehmen, der dich ein Wesen erblicken lässt, das für andere Menschen nicht existiert und nur auf verwackelten Fotos zu erkennen ist.«

Melinda schnappte nach Luft.

»Der Wandersmann!«

»Der Wandersmann!«

»Ebert kannte ihn?«

Bullerjahn nickte und puhlte sich dabei mit der Zungenspitze Nussreste aus einer Zahnlücke.

»Weißt du was ein Huckeduster ist, Melinda?«

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