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Punkt zwölf betrat Melinda Arndts Büro, doch er war nicht da, also setzte sie sich auf seinen Schreibtisch und wartete. Als er nach einer Viertelstunde noch immer nicht erschien war, wechselte Melinda den Platz und ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen, drehte sich rechtsherum und linksherum und betrachtete den Raum und seine Einrichtung. Alles unverändert. Der hässliche Ölschinken hing noch an derselben Stelle, davor stand ein Stuhl, ein mögliches Anzeichen dafür, dass jemand sich öfter dort aufhielt und das Gemälde betrachtete. Durch die aufgezogene Lamellentür konnte sie in ihr ehemaliges Büro hinübersehen. Der Schreibtisch war noch derselbe, auch der Stuhl und der Computer, ebenso der Monitor auf dem Tisch. Den übrigen Teil des Raumes erkannte sie kaum wieder. Am Fenster drängten sich mehrere Pflanzentöpfe, das vertrocknete Gewächs, dessen Rettung sich Melinda vor unendlich langer Zeit vorgenommen hatte, war verschwunden. Ein Geruch nach frischer Farbe stieg ihr in die Nase. Zwei der Wände waren in einem warmen Blauton, die beiden anderen cremeweiß gestrichen worden. Geschmack hatte Arndt, das musste sie ihm lassen. Mehrere Regale waren hinzugekommen, vollgestopft mit Ordnern, Akten, Büchern und Kartons. Drei große, dicht mit Karteikarten, Fotos und handschriftlichen Notizen behängte Stellwände gruppierten sich um einen Arbeitstisch, auf dem eine halbgeleerte Keksschale und ein fleckiges Tablett mit schmutzigen Kaffeetassen stand. Zeugen einer langen Arbeitsnacht, die schon ein paar Tage her sein durfte.
Irgendwo auf dem Flur fiel eine Tür ins Schloss.

»Gefällt es dir?«

Melinda war sich nicht sicher, ob Arndt das umgestaltete Büro oder sein extravagantes Outfit meinte. Weshalb zum Teufel trug er diesen teuren Anzug? Weshalb band er sich neuerdings Krawatten um? Arndt war frisch rasiert, die Haare lagen perfekt am Kopf. Fast war es, als hätten Melinda und er die Rollen getauscht. Er war nun das Model und sie die Selfmade-Frau im Schlabberlook. Kurios.

»Es riecht nach Arbeit, Schweiß, abgestandener Luft, viel Papier und Zigarillorauch.«
Arndt lächelt amüsiert. Die linke Hand hielt er geheimnisvoll hinter dem Rücken verborgen.
»Freut mich, dass ich deinen Segen habe!«

Er kam zu ihr, zog die Hand hinter dem Rücken hervor und streckte ihr eine überdimensionale Frischhaltebox entgegen. Seine Hand zitterte vor Anstrengung, die Box war schwer. Melinda sprang nach vorn und konnte gerade noch verhindern, dass sie zu Boden fiel. Ihre Haare berührten Arndts Kinn.

»Mit den besten Grüßen von Bea. Selbstgebackener Streuselkuchen. Der beste im ganzen Südharz!«

Melinda balancierte die Box zum Besprechungstisch und stellte sie ab.

»Woraus besteht der? Aus Flusssteinen und Beton?«

Sie hebelte den Deckel hoch, zog ihn ab und sah in die Box.

»Oho! Kuchenbuffet mit Überraschung!«

»Ist am unauffälligsten.«

Arndt stand mit verschränkten Armen da, das Kinn nach oben gereckt. Er war sichtlich stolz auf seine Idee, doch sein Mund glich schon wieder einem Strich, die Augenbrauen bildeten ein V. Der Streuselkuchen in der Box reichte für höchstens zwei Personen. Er ruhte auf einer Schicht Butterbrotpapier. Darunter fand Melinda die fein verschnürte Kopie der Ermittlungsakte zum Fall Stella Blume.

»Firma dankt!«

Sie drückte den Deckel wieder auf die Dose.

»Ganz unten findest du einen Umschlag mit einem Schlüssel. Hol dir aus der Asservatenkammer, was du brauchst, am besten mit einem Einlagerungsdatum vor 1990, und werfe den Schlüssel anschließend in meinen Briefkasten.«

Er starrte auf seine blankgeputzten Schuhe.

»Ich weiß wirklich nicht, warum ich das hier tue, Melinda Sieben!«

»Vielleicht weil du dich vor mir fürchtest oder vielleicht weil du mich ein bisschen gern hast?«

Arndts Nachdenklichkeit verflog. Unwirsch wedelte er mit der Hand vor ihrem Gesicht herum.

»Mach dir keine Hoffnungen, du vollgedröhnte Privatermittlerin!«

Er sah ihr belustigt auf den Kopf. Erst jetzt bemerkte Melinda, dass sie ihre Mütze nicht abgenommen hatte. Zudem hatte sie sich seit dem Aufstehen noch keine einzige Pille eingeworfen, worauf sie mächtig stolz war. Sie fühlte sich erstaunlich gut. Ausgeschlafen und unternehmungslustig. Melinda hoffte inständig, dass das Gespräch mit Christiansen reine Formsache würde und sie sich anschließend ausführlicher mit Bullerjahn über Eberts Archiv unterhalten konnte. Nach dem, was ihr der Wandersmann unten am Fluss an wirren Botschaften zugegurgelt hatte, war dies dringlicher denn je. Melinda brauchte Klarheit. Existierte der Wandersmann wirklich oder spukte er bloß in ihrem Kopf darum? Nahm sie Dinge wahr, die andere nicht spürten oder war sie verrückt? Diese Frage duldete keinen Aufschub. Sie musste beantwortet werden bevor Melinda sich mit neuer Kraft in den Fall Stella Blume graben konnte.
Arndt musterte ihr Gesicht, als wolle er einen geheimen Code entschlüsseln und suche noch nach dem letzten entscheidenden Hinweis. Er kam näher und fasste sie sanft an den Schultern. Ihr Bauch sagte, stoß ihn weg, wisch seine Grabbelfinger von deinem Mantel, doch sie tat es nicht, ließ ihn gewähren, weil sie wusste, dass sie ihm vertrauen konnte.

»Manchmal möchte ich in deinen Kopf gucken und dir beim Nachdenken zusehen, Melinda Sieben. Doch ich kann mich krumm und buckelig grübeln, ich verstehe dich einfach nicht! Okay, wir waren früher nicht wirklich gut aufeinander zu sprechen, trotzdem haben wir das mit Freisler gemeinsam durchgezogen, auch wenn unser Plan zum Schluss nach hinten losging. Wir haben uns berappelt, haben die Chance auf einen Neuanfang. Wie schnell wir unseren Brandstifter gefunden haben, ganz auf unsere Weise. Du musst zugeben, im Grunde sind wir ein unschlagbares Team!«

Er bemerkte Melindas missbilligenden Blick und ließ sie wieder los. Wischte sich die Hände an seiner Hose ab, als hätte er sie mit Schuld beschmutzt.

»Nein Arndt, ich erwarte nicht, dass du mich verstehst. Ich verstehe mich ja selber nicht!«
Sie legte die flache Hand auf ihr Brustbein und blickte ihm ernst in die Augen.

»Mir ist, als hätte irgendjemand oder irgendetwas von mir Besitz ergriffen. Ich bin nicht mehr ich selbst und das liegt nicht nur an dem, was wir schreckliches durchgemacht haben oder den Pillen, die ich schlucke. Ich habe mal gedacht, dass du mir glaubst. Dass wir das zusammen wieder hinkriegen.«

Arndt schnalzte mit der Zunge, den Blick fest auf seine Schuhspitzen gerichtet.

»Schon gut, Arndt. Ist nicht schlimm. Ich kriege das schon gebacken. Fährst du mich nachher mit meinen Sachen zur Pizzeria? Da steht noch immer mein Wagen.«

Nachdem Melinda zwanzig Minuten in Lena Christiansens verrauchtem Büro verbracht hatte, um diverse Schriftstücke zu unterschreiben, viel zu starken Kaffee zu trinken und sich ihr Palaver über vergeudete Talente anzuhören, besuchte sie kurz Phantombild-Lissi, ließ sich ihre Visitenkarte geben und wünschte ihr alles Gute. Bea war beschäftigt und lud sie zu einem gemeinsamen Essen am Wochenende ein, wo sie in Ruhe über all das sprechen wollten, wofür die Zeit im Präsidium nicht mehr reichte. Steffens und Petersen waren nicht in ihren Büros, worüber Melinda insgeheim froh war. Auf dumme Sprüche verspürte sie heute keine Lust. Außerdem war sie sich absolut nicht sicher, ob sie den beiden zum Abschied nicht etwas wirklich Fieses angetan hätte.

Bullerjahn saß hinter seinem Schreibtisch, der heute auffällig aufgeräumt war. Das Fenster stand auf Kippe. Melinda empfand die Raumluft als zu kühl. Kein Aschenbecher. Keine Zigarillos, keine Zigarren. Was war los? Hatte er sich das Rauchen abgewöhnt? Die Kaffeemaschine zischte. Zwei Becher standen bereit.

»Bea hat mich zum Essen eingeladen.«

»Ich weiß. Wir müssen Schlachtpläne schmieden.«

»Ich scheide aus dem Dienst, wie du vielleicht mitbekommen hast! Ich schmiede keine Pläne mehr. Zumindest nicht in nächster Zeit.«

»Schade!«

»Ja, schade!«

Die Maschine hatte aufgehört zu zischen. Bullerjahn nahm eine der Tassen und stellte sie vor Melinda ab.

»Zucker? Milch?«

»Nur Milch.«

»Du hast es eilig?«

Er zeigte auf ihre Mütze.

»Habe noch einen Termin.«

Sie blickte auf die Wanduhr neben dem Fenster. In einer Stunde traf sie sich zur Vertragsunterzeichnung mit Elke Schrader. Sie musste noch in die Asservatenkammer und die Sache mit Eberts Archiv klären. Bullerjahn schaltete den Kaffeeautomaten ab und nahm einen Schluck aus seinem Becher.

»Ich finde es jammerschade, dass du aufhörst! Das weißt du!«

Melinda dachte an die Geschichte, die Mattias ihr damals im Gasthaus erzählt hatte. Weshalb er sich nach Osterode hatte versetzen lassen. Diese Geschichte mit dem Jungen und den verschwundenen Eltern. Melinda wurde das Gefühl nicht los, dass Bullerjahns Hoffnungen auf mehr als nur ihrer Arbeit im Präsidium geruht hatten. Sie verscheuchte den Gedanken.

»Kaum begonnen ...«

»Schon zerronnen. Hat meine Mutter immer gesagt. Ich habe es gehasst!«

Bullerjahn sah aus dem Fenster.

»Der Winter kommt früh dieses Jahr! Die Pilzsaison ist wohl endgültig vorbei.«

Elegante Überleitung.

»Drei Leute schickt uns Göttingen. Spezialisten. Was auch immer das heißt. Manchmal frage ich mich, was können die, was wir nicht können?«

Melinda dachte an die Stellwände in ihrem ehemaligen Büro und plötzlich kam ihr unerwartet ein Gedanke. Das Zimmer, sie hatten Stellas Zimmer nicht genau genug unter die Lupe genommen. Die Spezialisten aus Göttingen würden sorgfältiger arbeiten, sie würden den Fall Stella Blume im Nullkommanix aufklären. War doch keine große Sache. Eine tote Frau im Wald, das kam doch alle paar Wochen vor.

»Ich bin nicht aus der Welt, Mattias, zumindest nicht ganz. Ich freue mich auf das Essen!«

»Bea mag dich. Sie sagt, du hättest Schwung in den Laden gebracht. Sie versteht dich. Ich glaube, sie schreibt ein Buch über dich.«

»Über mich?«

»Du spielst die Hauptrolle. Glaube ich zumindest. Frage sie doch selber mal!«
»Wer kocht?«

Bullerjahn zeigte auf seinen Bauch. An seinem Hemd fehlte ein Knopf.

»Na ich! Bea kann nur backen. Und schreiben.«

»Was ist mit ihrem Mann?«

»Schon seit über einer Woche verschwunden.«

»Freut sie sich?«

»Einerseits schon. Andererseits macht sie sich Sorgen wegen so ein paar Sachen.«

Melinda nahm sich vor, am Wochenende ausführlich mit Bea über alles zu sprechen. Sie sah, wie Bullerjahn die Schublade seines Schreibtisches aufzog und ein dunkelbraunes Lederetui herausnahm, in dem zwei Schlüssel klickerten. Er trank seine Tasse leer und stand auf.

»Wollen wir?«

Melinda spürte, wie sich ihre Nerven vor Aufregung spannten.

»Sehr gerne, Herr Bullerjahn!«

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