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»Ein letztes Mal gemeinsam am Frühstückstisch..!«
Es war bereits nach zehn und Melinda trank schon die zweite Tasse Kräutertee, als Arndt bleich und mit verquollenen Augen in die Küche geschlichen kam.
»Setz dich, wir haben einiges zu besprechen bevor sich unsere Wege trennen!«
Wie konnte Melinda nach einer so kurzen Nacht dermaßen gut drauf sein? Arndt rieb sich die Augen, zog sich das verknitterte T-Shirt über den haarigen Bauch und setzte Wasser für den Kaffee auf.
»Erstens, ich ruhe erst, wenn Stellas Mörder gefunden wurde.«
Der Deckel der Kaffeedose schlug mit einem blechernen Knallen auf den Boden und rollte vor Melindas Füße.
»Zweitens, ich will mit dir über den Wandersmann reden!«
Melinda bückte sich nach dem Deckel und warf ihn Arndt zu, der ihn um ein Haar verfehlt und beinahe wieder fallengelassen hätte.
»Drittens. Dr. Rose erzählte mir von einem Archiv, das Christiansens Vorgänger, der alte Ebert, von dem auch das Bild in deinem Büro stammt, angelegt haben soll.«
Arndt häufelte Kaffeemehl in den Filter und sah dem Wasserkocher zu, wie er das Wasser zum Sprudeln brachte. Melindas Verhalten gefiel ihm gar nicht. Nicht dass er nicht gern über all das mit ihr reden wollte, was sie ihm listenartig heruntergerattert hatte, doch ihre Stimmungsschwankungen bereiteten ihm Sorgen. Mal hing sie wie ein Schluck Wasser in der Kurve, unfähig auch nur den einfachsten Gedanken auszuformulieren, dann wieder war sie unglaublich auf Zack und überforderte ihn mit ihren geistesgegenwärtigen Plänen, Vorhaben und Ideen. Der heutige Morgen war ein solcher Tag.
»Und viertens, hast du an die Waffe gedacht?«
Arndt zuckte zusammen und hätte sich beinahe heißes Wasser auf die Hand geschüttet. Okay, er hatte verstanden, sie mussten dringend reden. Er holte die Milch aus dem Kühlschrank und färbte den Kaffee in seiner Tasse hellbraun.
»Und fünftens?«
Er sah sie belustigt an, während er sich zu ihr an den Tisch setzte.
»Wie fünftens? Nichts fünftens! Das war's!«
Arndt beugte sich zu seiner bis zum äußersten Rand gefüllten Tasse hinunter und begann den Kaffee abzuschlürfen.
»Wir haben etwa eine Stunde. Um zwölf treffe ich mich mit Mattias und Skagen. Wir wollen sehen, was wir noch reißen können, bevor die Kollegen aus Hannover den Fall übernehmen.«
Jetzt war es Melinda, die lächelte.
»Ihr wollt die Akte frisieren?«
Arndt verwischte mit dem Zeigefinger einen Kaffeefleck auf dem Tisch.
»Ich will mal so sagen: wir werden alles unternehmen, um den geleckten Heinis aus der Landeshauptstadt die Show zu stehlen. Unser Fall, unsere Ermittlungen. Ist schließlich eine Frage der Ehre!«
Seine Worte gefielen Melinda. Arndt hatte seine Zögerlichkeit, seine Angst, seine Selbstzweifel, die ihn nach der Entführung gequält hatten, überwunden, während sie selbst keine Gelegenheit ausließ, sich mit geeigneten Substanzen aus der Wirklichkeit zu beamen, einer Realität, in der sie hauptberuflich an ihrem Trauma herumknabberte.
»Also, Punkt eins ...«
Trotz aller Müdigkeit nahm Arndt das Gespräch in die Hand. Noch etwas, das Melinda verblüffte, hatte sie sich doch daran gewöhnt, ihm bei Diskussionen jedes Wort aus der Nase ziehen zu müssen.
»Du quittierst den Polizeidienst, willst aber dennoch Stellas Mörder finden. Wie stellst du dir das vor?«
Melinda puhlte sich mit den Fingern einen Kräuerkrümel von der Unterlippe.
»Privatermittlungen.«
»Privatermittlungen? Ohne Polizeiapparat? Ohne Datenbanken, Archive und Ermittlungsakten? Wie stellst du dir das vor?«
Ein Griff in die Haare, ein Wischen über die Augen. Blick an die Decke. Breites Grinsen.
»Ich habe doch dich! Und Mattias und Bea, von mir aus auch Skagen.«
Arndt öffnete den Mund, schnappte nach Luft.
»Und du glaubst, dass wir dich mit allen Informationen versorgen obwohl ...«
»Ihr braucht mich!«
»Ich stehe mit einem Bein im Knast, wenn wir interne Informationen an dich weitergeben, das weißt du schon!«
»Weiß ich.«
Arndt wusste, dass Melinda recht hatte. Im Gespräch mit Bullerjahn hatte er selbst zugegeben, ohne sie den Fall nicht lösen zu können, neulich vor der Klinik, als dieses weiße Zeug vom Himmel rieselte, das sich wie kalte Asche auf seine Schultern legte.
»Was brauchst du?«
»Fürs Erste eine Kopie der Ermittlungsakte.«
Arndt nickte, auch wenn es ihm schwerfiel. Er war jung genug, von einer Karriere bei der Kriminalpolizei träumen zu dürfen, einer Karriere, die er sich von den verrückten Ideen einer Melinda Sieben nicht verhageln lassen wollte. Er verließ die Küche. Kurz darauf hörte Melinda ihn in seinem Zimmer telefonieren. Schneller als erwartet kam er zurück und setzte sich wieder zu ihr.
»Bea kümmert sich. In einer Stunde hole ich die Kopien ab.«
»Danke!«
Melinda strich sich über den Handrücken, als wollte sie eine Fliege vertreiben. Arndt kniff die Augen zusammen, als könnte ihm das dabei helfen, Melinda besser zu verstehen.
»Die Sache mit dem Wandersmann habe ich ehrlich gesagt noch nicht verstanden! Wer oder was soll das sein und was hat das ganze mit dem Mord an Stella zu tun?«
Geschlürfter Kaffee, hochgezogene Augenbraue.
»Nichts. Es ist nur so, dass du im Krankenhaus die Fotos gesehen hast, die Fotos, die das Mädchen von der Tankstelle gemacht hat, und ich das Gefühl hatte, du würdest mir glauben. Wegen deines Skizzenbuches, wegen der Zeichnungen. Du hast ihn doch gesehen, damals in deinem Zimmer, als du krank warst, und du hast ihn gezeichnet!«
Arndts Gesichtszüge wurden weich.
»Oh Melinda, ich war krank, ich hatte vierzig Grad Fieber. Das hatten wir längst geklärt! Die Zeichnungen, ich war nicht bei mir, ich habe halluziniert!«
Melindas Finger krampften sich um die Tasse. Er behandelt mich wie ein kleines Mädchen, dem man erklären muss, dass es den Weihnachtsmann leider doch nicht gibt. Sie spürte, wie ihr die Halsader schwoll.
»Was ist mit der Waffe?«
Geräuschvolles Ausatmen. Arndt hob kurz die Kaffeetasse an, setzte sie dann mit einem lauten Knall zurück auf die Tischplatte.
»Keine Waffe, Melinda. Dann kann ich gleich meinen Hut nehmen.«
»Ich dachte wir sind Kollegen.«
Arndt stützte die Ellenbogen auf und legte die Handflächen gegeneinander, als wollte er beten. Sein Bademantel verrutschte ein wenig und Melinda konnte Arndts Brustbehaarung sehen.
»Wir ziehen diese eine letzte Sache noch zusammen durch. Dann ist Sense. Du gehst in eine Klinik und lässt dir bei deinem Drogenproblem helfen und ich mache meinen Job. Keine Waffe!«
»Ich muss mich schützen! Wer eine Frau umbringt, tötet schnell auch eine weitere!«
»Vergiss es!«
Melinda nippte an ihrem Tee und studierte Arndts Gesichtszüge. Ein amüsiertes Lächeln umspielte ihren Mund.
»Ich könnte Christiansen von deinen Anfällen und deinen Skizzenbüchern erzählen. Ich könnte ihr erzählen wie wir den Brandstifter wirklich gefunden haben und wie einfältig du ihm beinahe in die Falle gegangen wärst!«
Arndt nahm die Hände herunter und kam ihr mit seinem Gesicht bedrohlich nah.
»Das wagst du nicht!«
»Oh doch, das tue ich!«
Zippo hob den Kopf und knurrte leise. Es war unklar, auf wessen Seite er stand. Arndt sprang auf, raffte seinen Bademantel vor der Brust zusammen und lief ins Bad. Die Tür knallte und wurde kurz darauf von innen verschlossen. Melinda hörte das Klappern der Duschkabinentür, kurz darauf das Rauschen des Wassers.
Sie hatte keinen Termin mit Christiansen vereinbart, wusste nicht einmal, ob diese bereits über Melindas Entscheidung unterrichtet worden war. Sie hatte keinen Brief verfasst, hatte keine Mail geschrieben, hatte niemanden angerufen. Wenn Mattias oder Arndt nichts an Christiansen weitergegeben hatten, dann würde es gleich zu einer interessanten Begegnung kommen. Melinda schlenderte zur Badezimmertür und lehnte sich mit dem Rücken gegen sie. Sie drehte den Kopf, legte die Wange auf das lackierte Holz und rief so laut es ihr möglich war.
»Wir haben noch nicht über das Archiv gesprochen!«
Im Bad wurde das Wasser abgedreht.
»Was?«
»Dieses Archiv von Christiansens Vorgänger, diesem Ebert. Wir haben noch nicht darüber gesprochen!«
Wieder klapperte die Duschkabinentür. Arndts Stimme klang ungeduldig.
»Was gibt es da zu besprechen?«
»Na ja, du könntest mir zum Beispiel sagen, wo ich es finde und wie ich hineinkomme.«
Genervtes Stöhnen.
»Melinda Sieben, ich würde gerne fertig duschen! Ich weiß nichts von einem speziellen Archiv. Weder Dr. Rose noch Mattias haben mit mir darüber gesprochen. Weshalb auch? Was ist mit diesem Archiv?«
Melinda klopfte rhythmisch gegen die Tür. Tock, tock, tockitock, tock.
»Ach nichts!«
In Gedanken lief Melinda bereits durch das Präsidium und stellte sich eine Liste mit Erledigungen zusammen. Abschiedsgespräch mit Christiansen, letzter Besuch in Beas Büro, Abholen der kopierten Fallakte, Verabschiedung von Skagen und Mattias; die Frage nach Eberts Archiv nicht vergessen; Steffens und Petersen einen letzten fiesen Blick zuwerfen, vielleicht noch ein Spaziergang zu Phantombild-Lissi ins Untergeschoss. Zum Schluss die Waffe abholen und unbemerkt das Präsidium verlassen. Noch einmal klopfte sie gegen die Tür.
»Um zwölf in deinem Büro! Und besorge mir einen Schlüssel für die Asservatenkammer!«
Aus dem Bad drang ein Schrei, leise zunächst, dann immer lauter. Etwas flog gegen die Tür und polterte zu Boden.
»Was hat mein Vater immer gesagt? Was hat er gesagt? Lass dich nie auf starke Frauen ein! Lass dich nie auf starke Frauen ein! Verdammt!«
Melinda lächelte und ging in ihr Zimmer, um sich frisch zu machen.
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